Hörgeräte Audibene wirbelt den Markt für Hörgeräte auf – weltweit

Lange galt es als unmöglich, Hörhilfen über das Internet verkaufen und diese sogar online an den Hörverlust anpassen zu wollen. Bis die Audibene-Gründer Marco Vietor und Paul Crusius kamen. Sie zeigen, dass sich auch dieses Geschäft digitalisieren lässt. Dafür erhalten sie Europas wichtigsten Industriepreis, den Industrial Excellence Award (IEA), in der Kategorie Start-up. Vergeben von der  WirtschaftsWoche und der Managementschule WHU.

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Dass er einmal in Hörgeräte machen würde, hätte sich Marco Vietor nicht träumen lassen. Wer setzt sich schon in jungen Jahren, in denen die Beats gerne laut aus den Boxen wummern dürfen, mit lästigen Dingen wie Schwerhörigkeit auseinander.

Dann aber erzählte ihm sein Kumpel Paul Crusius, damals noch in Diensten der Beratung Boston Consulting Group, vom sagenhaften globalen Wachstumspotenzial dieses Marktes. Vietor, der schon zu seiner Schulzeit gerne Webseiten programmierte, witterte sofort seine Chance. „Ich denke seit frühester Jugend in Geschäftsmodellen“, charakterisiert er sich selbst als geborenen Unternehmer.

600 Millionen Menschen auf der Erde, besagen Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO, hören mehr oder weniger schlecht. Aber nur ein Zehntel davon trägt ein Hörgerät; 540 Millionen laufen also bedingt taub durchs Leben. Selbst in der Industrienation Deutschland steckt sich nur jeder siebte Hörgeschädigte eine elektronische Lauschhilfe ins oder hinters Ohr.

Freiwillig schwerhörig! Wie kann das sein, fragte sich Vietor? Und wie komme ich an diese unversorgten Menschen heran?  Eine Marktanalyse brachte rasch Klarheit.

Wer nicht irgendwann einmal von seinem Ohrenarzt zum Hörakustiker geschickt wird, ist sich seiner Hörschwäche oftmals gar nicht bewusst. Oder leugnet sie, etwa aus Eitelkeit, weil ihm vor der Vorstellung graut, sich ein hässliches Gehäuse hinters Ohr klemmen zu müssen. So die irrige Vorstellung. Denn längst haben die Entwickler die Geräte so miniaturisiert, dass sie gar nicht mehr auffallen. Auf der anderen Seite surfen immer mehr Menschen aus der besonders betroffenen Altersgruppe jenseits der Fünfzig regelmäßig im Internet.  

Fehlende Information und Aufklärung versus aktive Online-Nutzung. Für Vietor und Crusius lag die Lösung damit klar auf der Hand: Mit Audibene brachten sie 2012 ein Online-Portal an den Start, dass Menschen mit geschickt gestalteten Anzeigen und Kampagnen auf Hörprobleme und ihren Online-Laden für Hörgeräte aufmerksam macht. Die Gründer nutzen dafür soziale Medien wie Twitter, Facebook oder Instagram ebenso wie die Suchmaschinen von Google und  Microsoft oder die Webseiten angesehener Medien wie der Washington Post und der New York Times. 

Um möglichst große Resonanz zu erzielen, wird die Werbung etwa auf Facebook gezielt nur der Generation 50 plus eingeblendet. Oder die Audibene-Vermarkter schicken Mails an diese Zielgruppe. Laut Vietor geht es vor allem darum, Ängste und Klischees abzubauen. „Viele Hörgeschädigte denken immer noch, sie müssten da so einen fleischfarbenen Haken hinterm Ohr tragen.“

Mit der Schlagzeile „Mini-Wunderwaffe gegen schlechtes Hören“ und dem Abbild einer Kirsche versuchen die Berliner, den Geräten ihren Schrecken zu nehmen. Auch die Aufforderung zum Mitmachen an einer Hörstudie, bei der die Teilnehmer die modernsten Hörgeräte kennenlernen und sie mit einem Einkaufsgutschein belohnt werden, hat sich als  wirksames Mittel herausgestellt,  Menschen mit Hörschwächen auf die  Audibene-Plattform zu locken.

Frischer Wind in einem verkrusteten Markt

Diese neue Art der Kundenansprache ist ein Erfolg. Die Berliner stehen schon mit einer Million Interessenten in Kontakt. Der Umsatz ist in den vier Jahren seit Gründung auf voraussichtlich knapp 80 Millionen Euro dieses Jahr geschossen, weltweit beschäftigen sie inzwischen 400 Mitarbeiter. Schon rücken sie mit ihrem expansiven Wachstum – bisher haben sich die Einnahmen noch jedes Jahr weit mehr als verdoppelt – in Deutschland den Marktführern Kind und Geers auf die Pelle. Audibene der Branchenschreck.

Die Juroren um den WHU-Produktionsexperten Arnd Huchzermeier hat das Konzept so begeistert, dass sie das Unternehmen zum Sieger in der erstmals vergebenen Kategorie Start-up des Wettbewerbs um den Industrial Excellence Award (IEA) kürten. Der Preis ist Europas wichtigster Industriepreis und wird seit 1995 mit von der WirtschaftsWoche vergeben. „Es ist ein Paradebeispiel dafür, wie Digitalisierung frischen Wind in einen verkrusteten Markt bringt und alte Machtverhältnisse aufbricht“, lobt Huchzermeier.

Es ist die intelligente Verknüpfung von alter analoger und neuer digitaler Welt, die das Geschäftsmodell auszeichnet. Bisher suchen Hörgeschädigte einen der 5500 Hörakustiker an Rhein und Elbe auf, wenn sie glauben, schlecht zu hören oder der Arzt ihnen ein Gerät verordnet hat. Sie wählen eines aus und die Akustiker passen es an. Obwohl sie im Durchschnitt gerade einmal 100 Kunden im Jahr haben, konnten die Handwerksspezialisten gut davon leben. Statistisch macht jedes Geschäft rund 300.000 Euro Umsatz im Jahr und bis zu 60.000 Euro Gewinn. Warum also innovieren?

Erst Audibene setzt über seine Online-Kanäle auf aktive Kundengewinnung. Das Unternehmen beschäftigt Spezialisten, die Kunden telefonisch oder per Videoschaltung beraten und ihnen geeignete Geräte unterschiedlicher Markenhersteller verkaufen. Dann vereinbaren sie für den Käufer einen Termin bei einem der 750 Hörakustiker, mit denen Audibene inzwischen zusammenarbeitet. Möglichst nah am Wohnort des Kunden natürlich. Der Hörakustiker passt das Gerät an, die Berliner zahlen ihm dafür eine Pauschale. Sie bringt ihm zusätzliche Einnahmen, ohne dass er selbst Aufwand dafür betreiben müsste. So wird das Modell für beide Seiten attraktiv.     

Und es funktioniert weltweit. Inzwischen hat das Start-up seinen Online-Verkauf auf zwölf Länder ausgeweitet, darunter Kanada, die USA, Südkorea, Japan, Indien, Thailand und Frankreich. China ist im Visier. Vietor denkt gerne groß. „Unser Ziel ist ganz klar der Weltmarkt.“

Seit im vergangenen Jahr der schwedische Finanzinvestor EQT und die Unternehmerfamilie Strüngmann Mehrheitsgesellschafter bei Audibene wurden, fehlt es nicht an Geld für den globalen Feldzug. Es verschafft den Gründern zudem den finanziellen Spielraum, auch technologisch Neuland zu betreten. Sie arbeiten an einer Lösung, mit der Hörakustiker auch aus der Ferne auf die Hörgeräte zugreifen können. „Das ermöglicht eine noch bessere Zusammenarbeit zwischen den Hörakustikern und ihren Kunden und erhöht die Hörqualität“, sagt Vietor.

Bald soll es sogar möglich sein, die Geräte nach zu justieren, zum Beispiel, wenn sein Träger im Konzertsaal oder im vollen Restaurant sitzt und störende Nebengeräusche ihm den Genuss vergällen. Per Smartphone übermittelt er die akustische Situation, online wird sein Gerät besser eingestellt. „Auch für diese Innovationen“, findet WHU-Juror Huchzermeier, „verdient das Start-up den Preis“.

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