Japan Blut als Karrierekiller

Während in Europa und den USA für Personalchefs zumeist der Lebenslauf und die berufliche Erfahrung maßgeblich sind, zählt in Nippon vor allem eines: die richtige Blutgruppe.

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Auf dem Weg in den Quelle: dpa

Man stelle sich folgende Situation vor: In einem Bewerbungsgespräch wird ein Kandidat über das Unternehmen befragt, er referiert seinen Werdegang, seine Stärken und Schwächen, schildert seine familiäre Situation, gibt Gehaltsvorstellungen an, ehe ihm die entscheidende Frage gestellt wird: „Welche Blutgruppe haben Sie?“ Das mag zunächst grotesk klingen – in Japan ist es aber Gang und Gäbe.

Nach der Vorstellung vieler Japaner determiniert die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Blutgruppe das Verhalten der Menschen – und lässt so Schlüsse auf die Eignung des Bewerbers zu. Am liebsten ist den Firmenchefs die Blutgruppe A. Sie verspricht einen Arbeitnehmer mit Sinn für Verantwortung, der zwar zuweilen nervös ist, den Vorgesetzten aber loyal und ehrlich gegenübertritt.

Der Bluttypus gilt als Pfund, mit dem man wuchern kann – oder auch nicht

Natürlich würde ein Personalchef dem Kandidaten niemals ins Gesicht sagen, dass er eine  "unerwünschte" Blutgruppe besitzt.

Denn: Haltung und Gesicht bewahren, gilt im konfuzianisch geprägten Japan als oberste Devise. Die Entscheidung wird diskret per Postweg übermittelt, gestützt auf eine formale Begründung, den auch die streng hierarchisierte Gesellschaft in Japan kennt. Großer Interpretationskünste bedarf es dennoch nicht. Der Bewerber weiß, dass die Absage wahrscheinlich seiner Blutgruppe geschuldet ist.

Dieses "Typecasting" wurzelt in einer Lehre, die der Blutgruppe einzelne Charakterzüge zuordnet. Neben der gut beleumundeten Gruppe A gelten Menschen mit der Blutgruppe B als selbstsüchtig und arrogant. Fließt das Blut der Gruppe 0 durch die Adern eines Menschen, so wird dieser als neugierig und großzügig, aber auch als stur eingeschätzt.

Klar ist: Der Bluttypus gilt als Pfund, mit dem man wuchern kann – oder auch nicht. Besorgte Eltern fragen bisweilen bei der Geburt ihres Kindes, welcher Blutgruppe es angehört. Schließlich hängen davon die Aufstiegsmöglichkeiten des Sprösslings ab.

Der berufliche Erfolg wird den Menschen gewissermaßen in die Wiege gelegt.

Ein guter Diplomat muss die Blutgruppe O haben

Auch in China und Taiwan findet die Theorie immer mehr Anhänger, besonders unter jungen Menschen. Und das, obwohl es dort noch immer Vorbehalte gegen die ehemalige Besatzungsmacht gibt. „Wir sind sehr skeptisch gegenüber Dingen, die aus Japan kommen“, sagt die taiwanesische Reiseführerin Lily Chuang.

Am Anfang der Glaubenslehre steht eine Studienreihe aus dem Jahr 1927, die von dem Biologen Takeji Furukawa geleitet wurde.

Der Wissenschaftler wollte wissen, woher bestimmte Verhaltensweisen und kulturelle Traditionen einer Ethnie herrühren. Dazu untersuchte er das Blut der Ureinwohner von Hokkaido, der Ainu, die als besonders gehorsam gelten, und das der Bewohner auf Taiwan, denen damals nachgesagt wurde, ein aufsässiges Temperament zu besitzen. Furukawa führte die konträren Mentalitäten auf die Blutgruppen der Völker zurück – und meinte darin einen Kausalzusammenhang entdeckt zu haben.

Der Forscher hatte mit seinem Experiment Erfolg – die Untersuchungen überzeugten weiland die Funktionäre im Außenministerium.

Ihr Fazit: Ein guter Diplomat muss die Blutgruppe O haben. Seitdem gilt der Typus als „Kronjuwel“ und Selektionskriterium für Führungskräfte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet die Theorie lange Zeit in Vergessenheit. Erst in den 1970er Jahre erhielt sie durch eine Veröffentlichung von Masahiko Nomi neuen Auftrieb.

Der Journalist warf die Frage des "ketsueki-gata" in einer Publikation erneut auf und setzte damit eine Diskussion in Gang, die bis heute anhält.

Die Stereotypisierung nach Blutgruppenzugehörigkeit nimmt inzwischen groteske Züge an

Kinder werden auf dem Schulhof gehänselt, Arbeitnehmer lehnen Bewerber ab, und selbst in der Politik ist ohne Chance, wer die „falsche“ Blutgruppe hat. So bekannte Japans ehemaliger Premierminister Taro Aso, dass er zur Blutgruppe A gehöre. Genützt hat es ihm reichlich wenig: Er wurde wenig später abgewählt.

Das unverblümte "Outing" des Regierungschefs zeigt, dass die Blutgruppen-Esoterik nicht nur notorische Neurotiker betrifft, sondern ein gesamtgesellschaftliches Phänomen darstellt. Von der elitären Oberschicht, aus der sich das Politikpersonal rekrutiert, bis hin zu einfachen Facharbeitern – alle sind sie dem fatalistischen Glauben der Blutgruppenzugehörigkeit erlegen.

Zwar wird die These von einigen Wissenschaftlern als diskriminierend und rassistisch verurteilt. Trotzdem scheint sie in der Gesellschaft salonfähig geworden zu sein. Die Theorie findet Eingang in diverse Magazine und TV-Shows. Zwischen Horoskop und Wetterbericht salbadern "Experten" über gesellschaftliche und kulturelle Implikationen, versuchen Verhaltensmuster zu entwickeln, wie man am besten mit seiner Blutgruppe "umgeht" und geben praktische Tipps für das Sexualleben.

Kurios: In den Kaufhäusern des Landes können Frauen sogar „Glückstaschen“ erwerben, die speziell auf ihre Blutgruppe zugeschnitten sind. Das ganze Land steht im Bann der Theorie.

Und die Menschen lechzen nach neuen Erkenntnissen. Immer feiner ziselierte Charaktermuster werden entworfen, um die verschiedenen Verhaltensweisen zu ergründen. Die Japaner sind regelrecht vernarrt in die pseudowissenschaftliche Expertise, von der sie sich auch Klarheit über ihre Zukunft versprechen.

Der obskure Okkultismus findet schließlich auch Eingang in Bewerbungsgespräche.

Das zentrale Erkenntnisinteresse lautet da: "Sag mir deine Blutgruppe, und ich sage dir, wer du bist."

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