Recrutainment Zocken für den Wunschberuf

Die Gaming-Kultur erobert die Personalabteilungen: Mit spielerischen Tests im Internet suchen Unternehmen nach geeigneten Kandidaten. "Recrutainment" wird bei der Personalauswahl zum Standard.

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Die Gewinner im Arbeitgeberranking
BMW-Mitarbeiter unterschreiben auf einem neuen BMW Quelle: dpa
Die Präsentation eines neuen Audi Quelle: dpa
Ein Porsche Quelle: AP
Eine Maschine der Lufthansa Quelle: AP
Siemens-Mitarbeiter Quelle: AP
Ein Raum im Hauptsitz von Google Frankreich Quelle: Reuters
Das Bosch-Schild am Eingang eines Firmensitzes. Quelle: Reuters

Um viertel vor fünf klingelt der Wecker. Der angehende Postbote steht auf, duscht, putzt seine Zähne und zieht sich an. Er gönnt sich ein kleines Frühstück, nimmt seine Tasche und schaut auf die Uhr: gerade noch pünktlich. Es ist Donnerstag, der vierte Tag seiner Ausbildung und der erste draußen auf der Straße. Briefträgerkluft an, Tasche aufs Fahrrad, ab die Post.

Das alles macht der angehende Postbote durch Klicks auf den Bildschirm. Denn er ist ein in Flash programmierter Avatar, das Spiel ist sein Tagesablauf und das Ziel für den Spieler eine Anstellung beim privaten französischen Postdienstleister Formaposte im Großraum Paris. Wer sich dort bewerben will, muss neuerdings zuerst in der virtuellen Welt beweisen, dass er früh aufstehen, in der Schule aufpassen und Briefe in die richtigen Briefkästen werfen kann.

Christian Püttjer von der Karriereakademie Püttjer & Schnierda spricht von "E-cruitment", elektronischer Personalbeschaffung. "Die Unternehmen stellen sich spielerisch vor. Sie führen den Bewerbern vor Augen, um welche Aufgaben es geht und fragen: Habt ihr Lust dazu?“

Auf virtuellem Rundgang durchs Unternehmen

Immer mehr Unternehmen nutzen die interaktiven Möglichkeiten des Internets, um interessierten Bewerbern das eigene Haus vorab vorzustellen. So zeigt Tchibo im virtuellen Rundgang unter anderem den Weg der Kaffeebohne vom Feld im Ursprungland bis zur Lagerhalle in Deutschland. Der Lebensmittelkonzern Unilever gewährt Einblick in die Produktion seiner Eismarke Ben & Jerry’s. Unter dem Motto "Probier-dich-aus" lässt die Commerzbank den User einen Tag als Berater durchspielen: den Kunden begrüßen, persönliche Ebene schaffen, Anliegen erfragen, Angebote auswählen, Kreditformular durchgehen.

"E-cruitment dient mehr dem Marketing der Unternehmen als der eigentlichen Auswahl der Kandidaten", sagt Püttjer. Doch die Methode liefert auch ganz handfeste Erfolge. Formaposte etwa konnte die Abbruchquote der jungen Azubis nach eigenen Angaben von 25 auf acht Prozent drücken. Und das, weil die typische Briefträgerwoche im Vorhinein realistisch dargestellt wird.

Der beste Weg, eine Firma kennenzulernen, sei zwar nach wie vor das Praktikum, sagt der Karriereberater. "Aber das fällt heutzutage bei Bachelor und Master oft flach. Bewerber haben immer weniger Kontakt zu Firmen und Arbeitsfeldern, weil ihnen einfach die Zeit fehlt." Die Möglichkeit, die Studien-Abschlussarbeit bei einer Firma zu schreiben, werde so immer rarer. Statt Arbeitsprozesse also direkt kennenzulernen, simuliere man sie ein wenig im Internet.

E-cruitment ist nur eine Variante des übergeordneten Begriffs "Recrutainment", der derzeit unter Personalern kursiert. Das englische Kunstwort bezeichnet eine Mischung aus "Recruiting" (Personalbeschaffung) und "Entertainment" (Unterhaltung). Dazu gehören auch das sogenannte "Self-assessment" (Selbstbeurteilung) und das „E-assessment“ (elektronische Beurteilung). Diese beiden Instrumente wenden Personaler in der Regel bei Interessenten an, die sich bereits registriert haben. Erst dann gelangen sie zu einem Persönlichkeitsbogen, den sie ausfüllen (Self-assessment) oder zu einer Fallstudie, die sie lösen müssen (E-assessment).  

"Ein Instrument zum Aussieben"

Ein typisches Beispiel dieser neuen Rekrutierungsmethoden ist die Marke Ben & Jerry’s: "In einer virtuellen Eisfabrik muss der Kandidat Vertriebskanäle erschließen, Preise kalkulieren, Marktstudien auswerten – und das alles unter Zeitdruck", berichtet Püttjer. Eine Art Stresstest also, die aber auch Spaß mache. "Die Fallstudie hat einen hohen emotionalen Beigeschmack, so wie die gesamt Marke Ben & Jerry’s stark auf Emotionen setzt", sagt Püttjer.  

Ein Trend, der an Bedeutung gewinnen wird

Weniger an Emotionen als vielmehr an logisches Denken appellieren einige Tests zur Selbsteinschätzung. "Wenn ein volles Glas Wasser umfällt, was machen Sie zuerst?", fragt etwa Lufthansa in einer der Probeaufgaben, die auf den offiziellen Bewerbertest vorbereiten sollen. Beim Energiekonzern E-on muss sich der Kandidat erst registrieren, ehe er zu Fragen rund um räumliches Denken, Mathematik und sprachliche Gewandtheit vordringt. "Wärme passt zu Hitze, wie Wut zu …?", fragt der Bildschirm, und der Bewerber muss aus fünf möglichen Antworten eine auswählen. Rund 20 Minuten dauert der Test, an dessen Ende ein pdf-Dokument aufpoppt, das die eigenen Ergebnisse mit dem Durchschnitt vergleicht – und eine Empfehlung abgibt: "Sie sind auf dem richtigen Weg".

Dass E-assessment das traditionelle Gruppenauswahlgespräch ablösen werde, glaubt Püttjer nicht. Firmen wollen ihre Bewerber weiterhin kennenlernen, einen persönlichen Eindruck gewinnen. Der Online-Test ist nur eine erste Hürde, die aber, so Püttjer, künftig noch an Bedeutung gewinnen wird.

"E-assessment ist vor allem ein Vorschaltinstrument zum Aussieben von Kandidaten", erläutert Karrierecoach Püttjer. "Wer ernsthaft rangeht, besteht das eigentlich immer". Er warnt davor, die Bewerbung auf die leichte Schulter zu nehmen. Denn wenn das Unternehmen die Leistung des Bewerbers im Onlinetest als ungenügend bewertet, sei er für die Firma gesperrt. Püttjer empfiehlt daher potentiellen Bewerbern, sich vorab schon einmal unter dem Namen eines Freundes einzuloggen, der keine ernsten Bewerbungsabsichten hat – und zu probieren.  

Auch der junge Postboten-Avatar hat seine Aufgabe ernst genommen. Es ist nach sechs Uhr, die Berufsschule ging schnell vorbei, er darf endlich Feierabend machen. Denn heute war er "nett, produktiv, effizient und neugierig", volle Punktzahl. Und das alles mit ein paar Klicks. Dem Beruf Briefträger, so scheint es, steht nichts mehr im Weg.

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