Kreativität Wie sich Einfallsreichtum fördern lässt

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Jürgen Großmann Quelle: Illustration: Birgit Lang

Einen solchen Job hat etwa Tim Wintermantel. Der 35-Jährige ist seit Anfang 2009 offizieller Innovationsmanager bei Bayer. Natürlich ist der Chemie- und Pharmariese per se kreativ, in den Laboren tüfteln über 12.000 Mitarbeiter an neuen Produkten und Technologien. Vor einigen Jahren aber beschloss der Konzern, auch die Kreativität der anderen Mitarbeiter zu nutzen, und rief die Initiative „Triple-i“ ins Leben, die heute Wintermantel betreut.

Im Intranet gibt es seitdem ein spezielles Portal, auf dem jeder seine Ideen hinterlassen kann, alle paar Monate startet Bayer zusätzlich Aufrufe und Kampagnen zu bestimmten Themen. 70 neue Vorschläge landen derzeit jeden Monat auf Wintermantels Schreibtisch, der sich dann erst mal einige Fragen stellt: Gibt es einen Bedarf? Wer ist die Zielgruppe? Passt die Idee zu Bayer? Und ist sie überhaupt realisierbar? Jeder Vorschlag wird geprüft, jeder bekommt ein Feedback.

Seit Beginn der Initiative im Jahr 2006 haben die Angestellten insgesamt schon über 10.000 Ideen beigesteuert. Eine Mitarbeiterin empfahl beispielsweise, den Bayer-Kunststoff Makrolon auch im Bootsbau einzusetzen. Ein anderer riet dazu, ihn bei der Konstruktion eines transparenten Snowboards zu verwenden – beide Einfälle wurden verwirklicht, viele andere stehen kurz vor der Einführung, mehr will Wintermantel derzeit noch nicht verraten. Natürlich hat nicht jede Idee das Potenzial einer neuen Aspirin, aber darum geht es auch nicht. Wichtig sei vielmehr das Signal an die Belegschaft: „Jeder einzelne Mitarbeiter weltweit darf und soll zur Innovation beitragen“, sagt Wintermantel.

Neues provoziert

Eine solche Einstellung ist jedoch bisher immer noch die Ausnahme. Vor allem in starren Konzernhierarchien. Traditionell hat es Kreativität dort schwer – was viel mit der ursprünglichen Bedeutung des Wortes zu tun hat. Abgeleitet vom lateinischen Wort „creare“ (schaffen) wurde sie ursprünglich definiert als das schöpferische Vermögen, neue Aspekte und Ansätze für Problemlösungen zu finden. Genau hier liegt das Dilemma.

Denn diese Fähigkeit heften sich nicht wenige Führungskräfte gerne exklusiv ans Revers. Allzu kreative Mitarbeiter würden da nur das gleißende Licht der Geistesblitze dimmen, die angeblich regelmäßig in der Chefetage einschlagen. Hinzu kommt: Neues zeigt sich stets in Form von Abweichungen, und die „irritieren und provozieren“, wie es der deutsche Soziologe Niklas Luhmann einst formulierte. Das stört nicht nur Vorstandsvorsitzende, Abteilungsleiter und Kollegen im Berufsleben – sondern schon Lehrer in der Grundschule.

Zu diesem verblüffenden Ergebnis kam der Psychologe Erik Westby vom Union College in New York. In einer Studie im Jahr 1995 befragte er Dutzende von Pädagogen nach ihren Erfahrungen mit kreativen Kindern. Zwar behauptete zunächst jeder Lehrer, großen Wert auf einfallsreiche Kinder zu legen. Als Westby die Teilnehmer aber darum bat, ihren Schülern verschiedene Charaktereigenschaften zuzuordnen, schnitten ausgerechnet die kreativen am schlechtesten ab. Sie waren bei den Lehrern am unbeliebtesten, weil sie viele Fragen stellten, selten gehorchten und oft in Konflikte gerieten.

Mit dem Kopf durch die Wand

Typisch. Denn besonders kreative Menschen sind auch häufig Außenseiter, eben weil sie verrückte Ideen haben, die dem vermeintlichen Mainstream nicht passen, und somit immer wieder anecken. Bequem ist anders. Amir Kassaei, Kreativdirektor der Werbeagentur DDB in Berlin, ist sich dessen vollkommen bewusst. Vor einigen Jahren interviewte er auf einem Kongress mal Karl Lagerfeld. Als die Rede auf Kreativität kam, sagte der Modezar: „Appetit kommt beim Essen, und Ideen kommen beim Arbeiten.“

Den Spruch hat Kassaei nie vergessen. Entsprechend legt er heute viel Wert darauf, in seiner Agentur ein spezielles Klima zu schaffen, in dem „Mut belohnt und Fehler nicht bestraft werden“. Schon bei Einstellungsgesprächen achtet er bei potenziellen Kandidaten auf Qualitäten, die in keinem Zeugnis auftauchen. Er sucht Menschen, die sich eigene Gedanken machen, unkonventionell denken und auch mal mit dem Kopf durch die Wand wollen. Der Erfolg gibt Kassaei recht: Das Branchenranking „The Big Won“ zählt ihn seit Jahren zu den besten Kreativchefs der Welt.

Als Werber ist er freilich das Paradebeispiel eines kreativen Kopfes. Doch viele Unternehmen vergessen schnell, dass auch auf ihren Fluren großer Ideenreichtum vorhanden ist: der Controller, der geschickt mit sinkenden Budgets jongliert; der Personaler, der neue Rekrutierungsmethoden für die Talente von morgen findet; der Stratege, der nach neuen Geschäftsbereichen sucht.

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