Erkenne dich selbst Warum so viele Manager auf Self-Awareness setzen

Selbstwahrnehmung Quelle: Illustration: Stephanie Wunderlich

Vom Start-up bis zum Konzern greift der Self-Awareness-Hype um sich. Wer es mit der Innenschau nicht übertreibt, kann tatsächlich interessante Erkenntnisse gewinnen - über sich und andere.

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Alle paar Tage blendet Thomas Kirchner die Stimmen und Geräusche im Großraumbüro aus, um in sich hineinzuhorchen. Dann zieht der 31-Jährige seine schallunterdrückenden Kopfhörer auf und macht sich auf den Weg zum Serverraum. Während im Hintergrund die Rechner surren, setzt sich der Gründer des Start-ups ProGlove auf den Boden und schließt für 15 Minuten die Augen.

Er konzentriert sich darauf, wie die Luft beim Atmen seinen Körper verlässt und wieder in ihn hineinströmt. Dann fangen die Gedanken und Gefühle in seinem Kopf zu kreisen an: der Ärger über ein Mitarbeitergespräch vom Vormittag vielleicht oder die Unsicherheit wegen eines bevorstehenden Investorentreffens. Kirchner versucht, darin Muster zu erkennen. Lösen ähnliche Situationen immer ähnliche Gefühle in ihm aus – und wie geht er mit ihnen um?

Der Blick nach innen ist für ihn ein wichtiges Führungswerkzeug. In seinem Unternehmen, das Handschuhe für den Einsatz in digitalisierten Fabriken herstellt, ist kein Mitarbeiter älter als 31 Jahre. „Da gibt es jede Menge Egos“, sagt der CEO. Konflikte entstünden selten wegen fachlicher Differenzen. Sondern wegen unterschiedlicher Gefühlslagen. Manche reagierten auf Kritik besonders empfindlich, andere seien zu sehr von sich überzeugt. Umso wichtiger, dass er, Kirchner, versuche, Herr seiner eigenen Emotionen zu bleiben. „Wenn ich meine Gefühle besser erkenne“, sagt Kirchner, „kann ich auch im Umgang mit Mitarbeitern sensibler sein.“

Die Vorteile der regelmäßigen Introspektion hat Thomas Kirchner nicht als Einziger für sich entdeckt. Auch Profisportler wie der Tennisspieler Novak Djokovic oder der ehemalige Formel-1-Fahrer Nico Rosberg schulen eine Fähigkeit, die Managementforscher und Psychologen als „Self-Awareness“ bezeichnen, was auf Deutsch so viel heißt wie Selbstwahrnehmung.

Das Schlagwort hört man auch in den Führungsetagen der Wirtschaftswelt immer häufiger. Beim Techkonzern Google zum Beispiel ersann der Ingenieur Chade Meng-Tan für seine Kollegen bereits im Jahr 2007 ein Seminar mit dem Titel „Search inside yourself“ – „Erforsche dich selbst“. Heute warten Google-Mitarbeiter mehrere Monate, bevor sie einen Platz in einem der Kurse bekommen, in dem sie beim Meditieren auch lernen, ihre Gefühle zu erkennen und zu regulieren. Nach eigenen Befragungen seien die Teilnehmer danach weniger gestresst, produktiver und könnten in herausfordernden Situationen eher ruhig bleiben. Meng selbst schrieb ein erfolgreiches Buch darüber. Unternehmen wie Axa, Ford oder Roche bedienen sich seines Wissens.

von Daniel Rettig, Lin Freitag, Jan Guldner, Kristin Rau

Zunächst machen solche Ideen stutzig – auch weil sie esoterisch klingen, in der auf Leistung und Fakten getrimmten Welt des Top-Managements. Sollten die Entscheider nicht eher den Blick auf die Zukunft des Unternehmens oder wenigstens auf die aktuellen Geschäftszahlen richten, anstatt wertvolle Arbeitsstunden mit Introspektion zu verbringen? Welchen Mehrwert hat es, die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung zu schulen? Und wie genau macht sie sich überhaupt bemerkbar?

Um diese Fragen zu beantworten, muss man zunächst wissen, was sich hinter dem Begriff verbirgt. Forscher meinen damit eine bessere Wahrnehmung des eigenen Gefühlslebens und der eigenen Persönlichkeit. Die Selbstkenntnis führt üblicherweise dazu, dass man auch sensibler wird für die Gefühle und Einstellungen von anderen Menschen und dass man die eigene Außenwirkung besser einordnen kann.

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