Authentizität Sei alles, nur nicht du selbst

Manager werben damit, sich selbst treu zu bleiben, Unternehmen suchen unangepasste Querdenker. Doch wirklich erfolgreich ist nur, wer seine Gefühle kontrollieren kann.

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Sei alles, nur nicht du selbst. Quelle: Illustration: Stephanie Wunderlich

Einmal, erinnert sich Ingeborg Rakete-Dombek, hat sie im Job die Fassung verloren. "Das ist doch Unsinn!", fuhr es aus ihr heraus. Schlimm genug, erst recht vor Gericht.

Egal, wie ungerecht sie sich behandelt fühlt; egal, wie gerne sie in einem solchen Moment ihren Emotionen freien Lauf lassen würde – als Anwältin muss sie kühl, besonnen und professionell agieren.

Rakete-Dombek hat sich auf Familienrecht spezialisiert und begleitet viele Scheidungen. Da geht es um gekränkte Egos, böswillige Lügen oder um die Frage, wer die Kinder erzieht. "Mit solchen Auseinandersetzungen professionell umzugehen erfordert viel Selbstkontrolle", sagt sie. "Man ist ständig starken Emotionen ausgesetzt – und man muss lernen, sie zu kontrollieren." Gäbe die Anwältin sich so, wie sie sich gerade fühlte – sie würde nicht nur ihrem Ruf und ihren Mandanten schaden. Sie hätte schlicht ihren Job verfehlt.

Authentizität ist das Schlagwort

„Sei du selbst.“ Dieser Satz geht inzwischen als Qualitätsanspruch und Auszeichnung durch, als Patentrezept fürs berufliche Vorankommen: Authentizität als notwendige Bedingung einer Karriere. Man muss sich nur mal in Onlinejobbörsen umsehen. Die einen suchen Verkäufer mit authentischem Auftritt. Andere locken Controller mit einem authentischen Umfeld. Wieder andere ködern Sozialpädagogen mit einem authentischen Team.

Die häufigsten Schlagwörter in deutschen Bewerbungen

Auch bei erfolgreichen Managern gehört das Wort mittlerweile zum festen Phrasenbestand. Peter Terium, heute Vorstandsvorsitzender des Energieunternehmens Innogy, kündigte 2012 beim Amtsantritt als RWE-Chef an, er wolle führen, "ohne an Authentizität zu verlieren".

Metro-CEO Olaf Koch sagte einmal im Interview: "Wichtig ist, sich selber treu zu bleiben." Und Jamie Dimon, CEO der Großbank JP Morgan Chase, wurde von der Marktforschungsfirma Quantified Communications zum authentischsten Vorstandsvorsitzenden gewählt – weil er immer sage, was er denkt.

Sehnsucht nach dem Original

Tatsächlich hat „Authentizität“ in den vergangenen Jahren eine erstaunliche Karriere hingelegt. Als könne ein Mensch jederzeit mit sich selbst identisch sein. Als ob schon irgendwas erreicht wäre, wenn jemand wie in der „Du darfst“-Werbung von sich behauptet: „Ich will so bleiben, wie ich bin.“ Trotzdem: Hauptsache, kein „Fake“?

In Unternehmen wird der Authentizitätshype vom Aufstieg der Generation Y befeuert. Verhaltenscodes werden lockerer, Hierarchien flacher, der gefühlte Raum, in dem man „ganz man selbst sein“ kann (und will), wird größer. Deshalb ist bei Abschlussreden vor Hochschulabsolventen das „Bleibt euch immer selbst treu!“ einer der beliebtesten Ratschläge, so Richard Kinnier von der Arizona-State-Universität.

Wer als authentisch gilt, dem schreibt man Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit zu. Davon profitieren „echte Typen“ wie Trigema-Chef Wolfgang Grupp oder Autovermieter Erich Sixt, die gerne mit markigen Sprüchen für Aufmerksamkeit sorgen. Die Öffentlichkeit feiert solche Charakterköpfe, als sei das Entäußern des limbischen Systems schon eine Leistung. Es klingt ja auch herrlich: Man führt sich auf, wie es einem gerade passt, ignoriert Sorgen um die Außenwirkung, trotzdem läuft die Karriere.

Bloß: Ganz so reibungslos führt die „Sei einfach du selbst“-Strategie nicht zum Erfolg. Und das nicht nur, weil sich Festangestellte nicht nach Gutsherrenart aufführen können wie Gründer oder Vorstandschefs. Zahlreiche Experten warnen inzwischen vor dem Authentizitätskult: Beruflich voran kommen vor allem jene, die ihre Emotionen regulieren und kontrollieren; die Erwartungen einschätzen und erfüllen, die auf der Bürobühne ihre Rolle spielen und sich anpassen können. Wer immer nur er selbst ist, schadet sich und seinen Mitmenschen.

Soziale Chamäleons machen Karriere

Wenn Psychologen messen wollen, wie authentisch eine Person ist, stellen sie ihr ein paar Fragen: Können Sie sich gut in Szene setzen? Interessiert es Sie, wie andere Ihr Verhalten beurteilen? Integrieren Sie sich schnell in neue Gruppen? Hinterher wissen Forscher, ob jemand sich selbst treu ist oder ein soziales Chamäleon.

Den entsprechenden Test entwickelte der US-Sozialpsychologe Mark Snyder bereits 1974. Seitdem haben Wissenschaftler in Hunderten von Forschungspapieren untersucht, wer im Beruf erfolgreicher ist – die Anpasser oder die Authentischen. Psychologen um David Day, der heute am Claremont McKenna College forscht, fassten 136 dieser Studien vor ein paar Jahren zusammen. Das eindeutige Ergebnis: Je authentischer die Teilnehmer, desto niedriger die Arbeitsleistung und desto schlechter die Beförderungschancen.

Karriere machten die Chamäleons. Weil sie einen festen Kern an Charaktermerkmalen haben, aber trotzdem flexibel bleiben; weil sie Veränderungen in ihrem Umfeld schneller erkennen und sich anpassen; weil sie nicht stur sie selbst bleiben.

Das macht sie zum Beispiel zu besseren Netzwerkern, wie ein Experiment von Ajay Mehra und Kollegen von der Universität von Kentucky zeigt. Als sie die Abläufe in einem Konzern betrachteten, stellten sie fest: Wer die Gegebenheiten geschickt adaptierte, war im Unternehmensnetzwerk an zentralen, strategisch wichtigen Knotenpunkten beschäftigt. Wer sich selbst treu blieb, blieb damit tendenziell am Rand des Netzwerks.

Ähnliches fanden Forscher um Amir Goldberg von der Universität von Stanford 2016 heraus. Das Team untersuchte mithilfe eines Algorithmus die Sprache, die 600 Mitarbeiter einer Techfirma im Verlauf von fünf Jahren in mehr als zehn Millionen internen Mails verwendet hatte: Besonders erfolgreich waren die Mitläufer, die ihre Sprache und ihren Kommunikationsstil an die Unternehmenskultur anpassten.

von Lilian Fiala, Lin Freitag, Jan Guldner, Daniel Rettig

Auch Rainer Niermeyer sieht die Vorteile der Geschmeidigkeit. „Überall wird gepredigt, dass man authentisch sein soll, dabei sind diejenigen am erfolgreichsten, die am besten ihre Rolle spielen.“ Niermeyer war früher Geschäftsleitungsmitglied bei Kienbaum Management Consultants, heute coacht er Führungskräfte und berät Unternehmen in Personalfragen. Vor ein paar Jahren hat er dem „Mythos Authentizität“ ein Buch gewidmet. Der Begriff stört ihn heute noch. Eine Jobbeschreibung solle man interpretieren wie eine Regieanweisung, findet Niermeyer. Dazu sei es manchmal nötig, sich zu verändern. „Wer immer darauf besteht, authentisch zu sein, entwickelt sich nicht weiter“, sagt er. „Authentisch sein kann man gerne im Urlaub oder in der Freizeit, aber bitte nicht im Büro.“

Professionelles Verhalten ist gefragt

Führungskräfte zum Beispiel müssen für das Fortkommen der Organisation auch mal dominant sein und Entscheidungen gegen Widerspruch durchsetzen. An anderen Tagen müssen sie sich zurücknehmen und ihren Mitarbeitern zuhören, um sie bei Laune zu halten. „Manche mögen dazu Industrieschauspieler sagen, ich nenne das professionelles Arbeitsverhalten“, sagt Rainer Niermeyer. Und dazu gehöre auch das Bewusstsein, sein Ego gegenüber Kollegen zurückzustellen.

Wer Kollegen beleidigt und Mitarbeiter anschreit, nur weil er sich gerade danach fühlt, mag sich zwar selbst treu bleiben. Und er kann sich dann vielleicht auch mit einem „Ich bin nun mal so impulsiv!“ rechtfertigen. Nur gibt er damit jede Verantwortung für das eigene Handeln ab, verletzt fahrlässig seine Mitmenschen und vergiftet die Stimmung. „Man kann im Büro nicht ständig sein Innerstes nach außen kehren“, sagt auch die Psychologin Astrid Emmerich von der Medical School Hamburg, die Authentizität im Berufsleben erforscht. „Wenn jeder in jedem Moment sagt, was er denkt, funktioniert kein Unternehmen mehr.“

Sei alles – manchmal sogar du selbst

Was man also braucht, ist eine Art emotionalen Filter. Der Schweizer Autor Rolf Dobelli bemüht dazu das Bild des persönlichen Außenministers, den man sich in der Öffentlichkeit immer dazu denken sollte und der den eigenen professionellen Auftritt steuert. Besetzt man die Stelle dagegen – um im Bild zu bleiben – mit einem reinen Innenpolitiker, kann es schwierig werden. Denn wer sich selbst zwanghaft treu bleibt, verpasst die Gelegenheit, durch Veränderung persönlich zu wachsen.

Die Ökonomin Herminia Ibarra sieht diese Gefahr besonders bei Menschen, die gerade befördert wurden. Die Anforderungen und Erwartungen an den Job änderten sich durch den Karriereschritt – deshalb müssten die Beförderten auch ihr eigenes Verhalten auf die Probe stellen und wenn nötig anpassen, so die Professorin, die an der London Business School forscht.

Wer sich davor scheue, nutze Authentizität als Vorwand, um sein altes Verhalten beizubehalten. Eine bessere Führungskraft hingegen tue auch mal Dinge, die dem Konzept der Authentizität widersprechen, sagt Ibarra. Bloß: Hat man dann im Arbeitsalltag überhaupt noch Gelegenheit, man selbst zu sein – und wenn ja, wann?

Die Chef-Checkliste zur sozialen Kompetenz

Inseln der Echtheit

Zum Beispiel bei Ursula Armbruster. Die Schauspiellehrerin am Comedia Theater in Köln bietet Seminare für Unternehmen, bei denen die Teilnehmer auf der Bühne so sein dürfen, wie sie sich gerade fühlen – egal, ob ängstlich, sauer oder euphorisch. Authentisch eben. „Hier darf man viel mehr Gefühle ausdrücken als im normalen Berufsalltag“, sagt Armbruster. Die Teilnehmer sollen durch die Übungen sensibler werden für die eigenen Emotionen und die der Kollegen – und ihre Gefühle dadurch besser kontrollieren können.

Scheidungsanwältin Ingeborg Rakete-Dombek trifft sich regelmäßig mit zwei Kolleginnen. Zusammen mit einer Psychologin spricht das Trio über die Dinge, die ihnen bei Mandaten oder Richtern Probleme bereiten. Die Hamburger Psychologin Astrid Emmerich nennt solche Treffen „Inseln der Echtheit“. Sie empfiehlt, die eigenen Gefühle regelmäßig in einem geschützten Umfeld zu zeigen.

Denn auch das hat ihre Forschung gezeigt: Die totale Selbstverleugnung ist für das persönliche Wohlbefinden ebenso schädlich wie absolute Authentizität.

Vielleicht hilft daher ein weniger resolutes Erfolgsmotto: Sei alles – und manchmal sogar du selbst.

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