Einmal, erinnert sich Ingeborg Rakete-Dombek, hat sie im Job die Fassung verloren. "Das ist doch Unsinn!", fuhr es aus ihr heraus. Schlimm genug, erst recht vor Gericht.
Egal, wie ungerecht sie sich behandelt fühlt; egal, wie gerne sie in einem solchen Moment ihren Emotionen freien Lauf lassen würde – als Anwältin muss sie kühl, besonnen und professionell agieren.
Rakete-Dombek hat sich auf Familienrecht spezialisiert und begleitet viele Scheidungen. Da geht es um gekränkte Egos, böswillige Lügen oder um die Frage, wer die Kinder erzieht. "Mit solchen Auseinandersetzungen professionell umzugehen erfordert viel Selbstkontrolle", sagt sie. "Man ist ständig starken Emotionen ausgesetzt – und man muss lernen, sie zu kontrollieren." Gäbe die Anwältin sich so, wie sie sich gerade fühlte – sie würde nicht nur ihrem Ruf und ihren Mandanten schaden. Sie hätte schlicht ihren Job verfehlt.
Authentizität ist das Schlagwort
„Sei du selbst.“ Dieser Satz geht inzwischen als Qualitätsanspruch und Auszeichnung durch, als Patentrezept fürs berufliche Vorankommen: Authentizität als notwendige Bedingung einer Karriere. Man muss sich nur mal in Onlinejobbörsen umsehen. Die einen suchen Verkäufer mit authentischem Auftritt. Andere locken Controller mit einem authentischen Umfeld. Wieder andere ködern Sozialpädagogen mit einem authentischen Team.
Die häufigsten Schlagwörter in deutschen Bewerbungen
Sieht man sich die Selbstbeschreibungen Berufstätiger in Karrierenetzwerken an, liest man auf vielen Profilen dasselbe: die Menschen sind verantwortungsvoll. „Mir ist alles egal“ sollte allerdings auch niemand in eine Bewerbung oder eine Jobprofil schreiben. Im Bewerbungsfloskel-Ranking des Karriereportals LinkedIn landet das Adjektiv auf Platz zehn. Erstaunlich: In internationalen Stellenanzeigen und Profilen taucht das Wort unter den Top Ten gar nicht auf.
Quelle: LinkedIn
Kreativ ist man dagegen sowohl in Deutschland als auch international gleichermaßen: Bei den Bewerbungen nimmt „kreativ“ im Floskel-Ranking den neunten Platz ein.
Egal wie rückwärtsgewandt und veränderungsresistent jemand sein mag - online und in Bewerbungen bezeichnen sich eigentlich alle als innovativ. Entsprechend landet das Wörtchen auf Rang acht im deutschsprachigen Raum. International brüstet man sich nicht mit seiner Innovationsfähigkeit.
Ohne Leidenschaft geht nichts, glauben die deutschen Bewerber – und schreiben das Wort fleißig in ihre Bewerbungen.
Bevor Sie auf die Idee kommen, Ihr Alter zu verraten, schreiben Sie lieber, dass Sie erfahren sind. Das machen die anderen auch so. Im Bullshit-Bingo belegt "erfahren" im deutschsprachigen Raum entsprechend Platz sechs.
Und damit der Personaler nicht glaubt, hier bewirbt sich ein Idiot, heben die Bewerber fleißig ihr „Expertenwissen“ hervor. International belegt diese Phrase Platz sieben.
"Guck mal da, en Eichhörnchen!". Damit niemand glaubt, man lasse sich ständig ablenken, beschreiben sich natürlich alle als fokussiert. International belegt "focused" Rang sechs.
"Du machst erst das, dann tust du jenes und dann sage ich, dass das meine Idee gewesen ist." Schließlich handelt niemand planlos, deutsche Bewerber sind allesamt „strategisch“.
Will man in Erinnerung bleiben, sollte man sich von der Masse abheben. Da leider fast jeder Bewerber angibt, "Führungsqualitäten" zu haben, wird das schwierig.
Ein Königreich den Fachidioten: Sowohl im deutschsprachigen Raum als auch international geht die Goldmedaille für die meistgenutzte Phrase an "spezialisiert."
Metro-CEO Olaf Koch sagte einmal im Interview: "Wichtig ist, sich selber treu zu bleiben." Und Jamie Dimon, CEO der Großbank JP Morgan Chase, wurde von der Marktforschungsfirma Quantified Communications zum authentischsten Vorstandsvorsitzenden gewählt – weil er immer sage, was er denkt.
Sehnsucht nach dem Original
Tatsächlich hat „Authentizität“ in den vergangenen Jahren eine erstaunliche Karriere hingelegt. Als könne ein Mensch jederzeit mit sich selbst identisch sein. Als ob schon irgendwas erreicht wäre, wenn jemand wie in der „Du darfst“-Werbung von sich behauptet: „Ich will so bleiben, wie ich bin.“ Trotzdem: Hauptsache, kein „Fake“?
In Unternehmen wird der Authentizitätshype vom Aufstieg der Generation Y befeuert. Verhaltenscodes werden lockerer, Hierarchien flacher, der gefühlte Raum, in dem man „ganz man selbst sein“ kann (und will), wird größer. Deshalb ist bei Abschlussreden vor Hochschulabsolventen das „Bleibt euch immer selbst treu!“ einer der beliebtesten Ratschläge, so Richard Kinnier von der Arizona-State-Universität.
Wer als authentisch gilt, dem schreibt man Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit zu. Davon profitieren „echte Typen“ wie Trigema-Chef Wolfgang Grupp oder Autovermieter Erich Sixt, die gerne mit markigen Sprüchen für Aufmerksamkeit sorgen. Die Öffentlichkeit feiert solche Charakterköpfe, als sei das Entäußern des limbischen Systems schon eine Leistung. Es klingt ja auch herrlich: Man führt sich auf, wie es einem gerade passt, ignoriert Sorgen um die Außenwirkung, trotzdem läuft die Karriere.
Bloß: Ganz so reibungslos führt die „Sei einfach du selbst“-Strategie nicht zum Erfolg. Und das nicht nur, weil sich Festangestellte nicht nach Gutsherrenart aufführen können wie Gründer oder Vorstandschefs. Zahlreiche Experten warnen inzwischen vor dem Authentizitätskult: Beruflich voran kommen vor allem jene, die ihre Emotionen regulieren und kontrollieren; die Erwartungen einschätzen und erfüllen, die auf der Bürobühne ihre Rolle spielen und sich anpassen können. Wer immer nur er selbst ist, schadet sich und seinen Mitmenschen.