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Seneca oder Von der Seelenruhe

Lateinlehrer alter Schule wollten uns noch weismachen, die eigentlichen Gegenspieler Epikurs seien die Stoiker gewesen, jene griechisch-römischen Virtuosen der Unerschütterlichkeit, die das Ausharren und Durchhalten auch unter widrigsten Umständen zu ihrem Lebensideal erklärten. Dabei stimmten sie, allen voran ihr Schulhaupt Seneca (4 – 65 n. Chr.), der römische Bankier, Senator und Lehrer Kaiser Neros, in einem wichtigen Punkt mit den Epikureern überein: Dass ein glückliches, ein sorgenloses Leben in „dauerhafter innerer Ruhe“ sei. Wie aber erreichen wir dieses Daseinsgefühl stoischer Ruhe in einer ruhelosen, von Sorgen umgetriebenen Welt?

Gewiss nicht, indem wir eine Auszeit nehmen vom Stress. Auch nicht, indem wir uns ducken vor dem Schicksal und uns unerreichbar machen für seine Zumutungen. Seneca empfiehlt etwas anderes: Bewährte Tugenden wie Ordnungssinn und Maßhalten, Anstand und Selbstbeherrschung, Pflichtgefühl und Verzicht. Kurz, ein geregeltes Leben.

Das Glück der Seelenruhe beruht auf praktischer Übung (lateinisch meditatio), es will erkämpft werden unter Anleitung der Vernunft. Erstens: im Ringen mit sich selbst, nicht zuletzt mit dem Störfeuer der Affekte, gegen das sich der Stoiker durch Selbst-Distanzierung immunisiert: Er legt seine Gefühle auf Eis, macht sich unempfindlich für den Andrang der Begierden und sichert sich so einen unangreifbaren Schutzraum innerer Freiheit. Zweitens: im Ringen mit den Widerständen der Welt, die der Stoiker entweder als naturgegeben hinnimmt oder an denen er sich erprobt, um an ihnen zu wachsen. Anders gesagt: Die stoische Ruhe fordert das Arrangement mit den Verhältnissen und die tägliche Arbeit am Ich, die Wahrung des Gleichgewichts der Seele.

Sie bedeutet keineswegs Rückzug und Stillhalten, sondern ist eine Aufgabe, ein Vorhaben, das der Welt stets aufs Neue abgetrotzt werden muss.

Leben, so Seneca im 96. Brief an Lucilius, heißt „als Soldat dienen“. Es ist eine Schule der Charakterstärkung, zu der auch „Graubrot“ und ein „hartes Nachtlager“ gehören. Im besten Fall vermittelt sie dem Schüler eine Tugend, die heute wieder hoch im Kurs steht: Haltung. Seneca selber hat sie, wenn wir der Überlieferung trauen, bis an sein Ende bewiesen. Der flämische Maler Peter Paul Rubens, ein Anhänger der Stoa, hat den von Nero zum Suizid genötigten Seneca nicht zufällig im Sterben aufrecht gezeigt, in antiker Würde, als stoischen Weisen, standhaft noch im Tod.

Seneca: Briefe an Lucilius, Reclam, 39,95 Euro

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