In wenigen Tagen ist es so weit: Gut 60 Millionen Deutsche müssen sich entscheiden – zur Bundestagswahl gehen oder enthalten? Und vor allem: Welcher Partei sollen sie ihre Stimme geben? So kurz der Besuch in der Wahlkabine, so schwierig die Entscheidung.
Etwa 20 000 Entscheidungen treffen wir täglich, schätzt der Hirnforscher Ernst Pöppel. Manche sind banal, andere bedeutsam. In jeder Branche, auf jeder Position. Finanzchefs brauchen eine Anlagestrategie, Vorstandsvorsitzende einen Plan für die Zukunft. Gerade im Job geraten Menschen in Situationen, in denen sie blitzschnell handeln müssen.
Viele Unternehmen legen deshalb Wert auf Entscheidungsfreude. Im Assessment Center testen sie, ob Kandidaten unter Stress die richtigen Prioritäten setzen. Jeder dritte Arbeitgeber achtet in Lebensläufen darauf, ob die Bewerber Entscheidungen treffen können, fand die Online-Stellenbörse Careerbuilder vor einigen Jahren heraus.
Richtige Entscheidungen sind auch beim WirtschaftsWoche + KPMG ManagementCup gefragt, der nun zum zweiten Mal startet. Aber wie geht das eigentlich, richtig entscheiden? Und warum fällt das häufig schwer?
Antworten auf diese Fragen liefern zahlreiche Studien, Umfragen und Experimente. Renommierte Forscher wie der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman können inzwischen erklären, warum Menschen so ein merkwürdiges Verhältnis zu Entscheidungen haben – und wie sie auch im Berufsleben bessere Entscheidungen treffen können. Das zeigen die folgenden sechs Geschichten.
1. Macht beeinflusst Entscheidungen
"Man wird einsam da oben", sagte Daimler-Chef Dieter Zetsche kürzlich dem Magazin der "Süddeutschen Zeitung". Und diese Isolation wirkt sich auch auf die Entscheidungen aus. Darauf deuten zum Beispiel mehrere Versuche hin, die die Psychologin Priyanka Joshi von der University of Southern California vor wenigen Monaten veröffentlichte.
Für ihre Experimente teilte sie Hunderte von Freiwilligen in zwei Gruppen. Die Teilnehmer in Gruppe A schlüpften in die Rolle von Führungskräften oder erinnerten sich an ein Ereignis, bei dem sie Einfluss verspürt hatten. Die in Gruppe B versetzten sich in Untergebene oder dachten an eine Alltagssituation. Mit anderen Worten: Die eine Hälfte wurde gedanklich auf Macht gepolt, die andere nicht. Nun fragte Joshi alle Teilnehmer, ob sie lieber eine Summe sofort oder in einem Jahr einen noch größeren Betrag erhalten wollten.
Bisherige Studien hatten gezeigt: Die meisten Befragten wählen die schnelle Prämie. Doch Joshi bemerkte: Die Macht-Gruppe wählte wesentlich häufiger die größere Belohnung. Offenbar verleiht das Gefühl von Einfluss Sicherheit. Macht schwächt die Angst vor der ungewissen Zukunft. Deshalb verleitet sie dazu, auf den sprichwörtlichen Spatz in der Hand zu verzichten – und stattdessen lieber auf die Taube auf dem Dach zu warten.
Das heißt aber noch lange nicht, dass Mächtige stets bessere Entscheidungen treffen. Jene an der Spitze neigen häufig dazu, sich mit Ja-Sagern zu umgeben. Oder sie bezahlen für vermeintlich professionelle Entscheidungen. Unternehmensberater erstellen Konzepte für Sanierungen, Coaches helfen bei der Karriereplanung. Doch teurer Rat ist nicht zwangsläufig gut, ganz im Gegenteil. "Unsere Gedanken fokussieren sich auf das Geld, das wir für die Hilfe bezahlt haben", sagt zum Beispiel Francesca Gino von der Harvard Business School, "und nicht auf die Entscheidung an sich." Die Psychologin hat in zahlreichen Experimenten herausgefunden, dass sich Menschen von Ratschlägen vor allem dann blenden lassen, wenn sie dafür Geld ausgegeben haben. Der Grund: Je komplexer die Situation, desto schwächer unser Selbstbewusstsein.
Wenn Sie glauben, dass die Lösung einfach ist, hören Sie sich die Tipps von Kollegen und Angestellten trotzdem an. Falls Sie vor einem vermeintlich unlösbaren Problem stehen, seien Sie sich bewusst, dass Sie umso empfänglicher für Ratschläge sind – obwohl die nicht zwangsläufig zu einer besseren Entscheidung führen.
2. Bauchmensch oder Kopftyp?
Welche Körperregionen sind für Gefühle und Gedanken verantwortlich? Über eine Antwort zerbrechen sich kluge Menschen schon seit Jahrtausenden den Kopf. Der griechische Philosoph Platon glaubte, dass der Kopf die Weisheit beheimatet, während im Herz die Gefühle sitzen. Entsprechende Metaphern gehören weiterhin zum Sprachgebrauch. Die einen behalten einen "kühlen Kopf", die anderen hören "auf ihr Herz". Aber wann sollte man zuerst nachdenken, wann auf seine Intuition hören?
Nehmen wir an, Sie sind seit Jahren in einer Führungsposition und haben bereits Dutzende von Bewerbungsgesprächen geführt. Jetzt wollen Sie eine Position besetzen und haben einen Kandidaten vor sich – doch Ihr Bauchgefühl spricht dagegen. Experten raten: Sagen Sie dem Bewerber ab.
In Routinesituationen sollten Menschen auf intuitive, schnelle Bauchentscheidungen setzen. Vor allem dann, wenn sie die Lage frei von Emotionen beurteilen können. Wer viele spontane Entscheidungen treffen muss, sollte demnach echter Experte sein – umso verlässlicher ist seine Wahl.
Das zeigte kürzlich auch eine Untersuchung von Thorsten Pachur vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Der Psychologe untersuchte das Verhalten von Schweizer Zollbeamten. Pachur ließ sie aus Steckbriefen von Passagieren denjenigen auswählen, den sie eher des Schmuggels illegaler Substanzen verdächtigten. Die meisten Beamten trafen ihre Entscheidungen schnell und routiniert, nach einer geistigen Checkliste. Laien hingegen hielten sich mit unnötigen Details auf. Die Herangehensweise der Beamten sei "nicht nur effizienter, sondern auch erfolgversprechender", sagt Pachur.
Wer im Alltag entscheiden muss, sollte sich also zunächst einige wichtige Fragen stellen (siehe Kasten). Das Problem: Recherche schützt vor Torheit nicht.
3. Entscheiden hui, informieren pfui
Politiker beschließen Gesetze, Ärzte legen Eingriffe fest. Viele Menschen treffen Entscheidungen, die Mitmenschen tangieren. Kein Wunder, dass es Bürgern und Patienten lieber ist, wenn diese vermeintlichen oder tatsächlichen Experten erst mal so viele Informationen wie möglich sammeln – und sich danach entscheiden. Doch bisweilen trübt das den Blick.
Dieses Phänomen nennt die US-Psychologin Sheena Iyengar von der Columbia Business School "choice overload effect". Soll heißen: Menschen fühlen sich von vielen Optionen tendenziell überfordert – und das Gehirn weiß vor lauter Möglichkeiten nicht mehr weiter.
Davon ist auch Evan Polman von der Stern School of Business im US-Bundesstaat New York überzeugt, der dazu kürzlich vier Experimente konzipierte. Egal, ob es um die Farbe eines Schlafzimmers oder den Einkauf im Supermarkt ging – handelte es sich um eine Entscheidung für das eigene Leben, waren jene Freiwilligen zufriedener, die weniger Optionen zur Auswahl hatten.
Der Grund: Einerseits wollen wir durch eine Entscheidung Verluste vermeiden, andererseits soll sie uns Vorteile bringen, egal, ob materieller oder ideeller Natur. Die eine Strategie ist auf Besitzstandswahrung aus, die andere auf Gewinne. Polman nimmt an: Betrifft die Entscheidung unser eigenes Leben, möchten wir Verluste vermeiden und keine falsche Wahl treffen. Bei einer großen Auswahl gehen wir davon aus, dass bestimmt auch das Falsche dabei sein kann – und bevorzugen in diesem Fall lieber weniger Optionen.
4. Gruppen sind dickköpfig
Wie viele Amerikaner besitzen ein Haustier? Wie viele Abgeordnete des US-Kongresses sind katholisch? Angenommen, Sie müssten sich für eine Lösung entscheiden – trauen Sie sich das alleine zu oder brauchen Sie Beratung?
Fakt ist: Die Belegschaft, die auf einsame Entscheidungen des Chefs steht, muss noch erfunden werden. Trotzdem treffen viele Chefs Entscheidungen alleine, die Diskussion vorab ist häufig nur Tarnung und Täuschung. Das zeigte im Jahr 2010 auch eine Umfrage des Beratungsunternehmens Comteam unter knapp 250 Fach- und Führungskräften. Das Ergebnis: Für 70 Prozent stand die Wahl vorab fest.
Klar ist aber auch: Wenn Manager wichtige Entscheidungen ständig im viel zitierten stillen Kämmerlein treffen, sorgt das bei den Angestellten für Frust und Unverständnis. Aber sind Gruppenentscheidungen deswegen tatsächlich besser? Mitnichten. Denn sie bergen die Gefahr trügerischer Sicherheit.
Zu diesem Fazit kam im vergangenen Jahr auch die Sozialpsychologin Julia Minson von der Wharton School der Universität von Pennsylvania. Sie stellte 270 Probanden eine Reihe kaum lösbarer Fragen. Vorab durften die Teilnehmer allerdings wählen – wollten sie alleine entscheiden oder sich mit einem Spielpartner beraten?
Nach Abgabe der Antworten zeigte Minson ihnen, was andere Teams gesagt hatten. Danach gab sie ihnen die Möglichkeit, ihre Antwort noch mal zu verändern. Ob sie diese Möglichkeit wahrnahmen? Es kam drauf an.
Die Teams neigten zur Sturheit und Beratungsresistenz. Nur jedes fünfte Trüppchen revidierte seine Meinung. Bei den Einzelkämpfern ließ sich immerhin jeder Dritte beeinflussen. Und das war auch gut so – denn dadurch verbesserten sich die Antworten der Individualisten. Die Gruppen ließen diese Gelegenheit hingegen verstreichen.
Julia Minson hat gar nichts gegen Kooperation. Vielmehr will sie vor den Gefahren der Gruppenarbeit warnen, denn diese münde rasch in Hybris.
Die Studie bestätigt demnach eine alte Kalenderweisheit: Viele Köche verderben den Brei. Dabei kann es mitunter durchaus hilfreich sein, auf die Meinung eines unbeteiligten Kochs zu hören. Oder genauer: in eine fremde Rolle zu schlüpfen.
5. Die Sichtweise der anderen
Vier Worte, ein Satz: "What would Jesus do"? Die Armbänder mit dem entsprechenden Aufdruck waren unter Christen mal schwer in Mode. Die Frage sollte die Träger dazu ermuntern, sich bei kniffligen Entscheidungen zu fragen, wie Jesus sich in derselben Situation verhalten hätte.
Zugegeben, über die Sinnhaftigkeit des Rituals lässt sich durchaus streiten. Aber bisweilen treffen Menschen tatsächlich bessere Entscheidungen, wenn sie sich in die Lage eines anderen hineinversetzen.
Das fand im Jahr 2012 auch der israelische Psychologieprofessor Ilan Yaniv von der Hebräischen Universität in Jerusalem heraus: Bei einem Experiment sollten knapp 100 Studenten schätzen, wie viele Kalorien 20 Lebensmittel enthielten – darunter zum Beispiel ein Becher Naturjoghurt, eine Ofenkartoffel oder ein Teller überbackene Nudeln.
Zunächst sollten sie Yaniv ihre Entscheidung mitteilen. Danach konfrontierte der Wissenschaftler sie mit den Angaben anderer Personen. Die Hälfte der Probanden sollte sich nun vorstellen, wie ein anderer Teilnehmer wohl entscheiden würde. Sie nahmen also die Sicht eines Fremden ein. Und siehe da: Das wirkte. Die zweite Antwort war durchweg präziser als die erste. "Wer die Perspektive wechselt und sich in jemand anders hineinversetzt, trifft häufig bessere Entscheidungen", sagt Yaniv.
Der Psychologe glaubt, dass Menschen sich dadurch vor dem egocentric bias schützen – also der Neigung, sich auf sich selbst zu verlassen, eigene Ansichten nicht anzuzweifeln und schon gar nicht zu ändern. Der gedankliche Rollentausch hingegen bewahrt Menschen vor geistigen Scheuklappen – und führt zu besseren Entscheidungen.
6. Entscheidungen machen glücklich
Der US-Psychologe Abraham Maslow glaubte, dass Menschen fünf zentrale Wünsche haben: Am wichtigsten waren für ihn physiologische Bedürfnisse wie Atmen, Essen oder Schlafen. Sind die gestillt, hegen wir soziale Verlangen nach Freundschaft oder Liebe. Danach streben wir nach Erfolg oder Wohlstand, zuletzt folgen Sicherheit und Selbstverwirklichung. Doch um die zu erreichen, müssen wir unser Leben unter Kontrolle haben. Und im Alltag üben wir diese Freiheit aus, indem wir eigene Entscheidungen treffen.
Mit der Neurobiologie der Entscheidungen beschäftigt sich Mauricio Delgado bereits seit vielen Jahren. Der Psychologe der amerikanischen Rutgers-Universität lockte im Jahr 2011 Dutzende von Probanden vor einen Computer und stellte ihnen in Aussicht, dass sie in der folgenden Übung Spielgeld ergattern konnten, das sie hinterher gegen echtes Geld tauschen durften.
Auf dem Monitor erschien ein blaues und ein gelbes Rechteck. Mal konnten die Testpersonen wählen, welches Rechteck sie berührten, mal entschied der Computer. Im Anschluss erfuhren sie, wie viel Geld sie erspielt hatten. Im einen Fall wussten sie also, dass sie selbst den falschen Knopf gedrückt hatten; im anderen Szenario konnten sie es auf den Rechner schieben. Ärgerten sich die Freiwilligen mehr, wenn sie selbst schuld waren? Im Gegenteil. Sie hatten mehr Spaß, wenn sie den Knopf selbst gedrückt hatten – unabhängig vom anschließenden Gewinn. Während des Versuchs waren die Freiwilligen an einen Hirnscan angeschlossen. Wenn sie selbst wählten, waren jene Hirnregionen aktiv, die für Belohnungen zuständig sind. Entschied der Computer, hielten diese Regionen still.
Vielleicht sollten wir umdenken: Häufig konzentrieren wir uns darauf, uns entscheiden zu müssen. Stattdessen sollten wir dankbar sein, uns überhaupt entscheiden zu dürfen. Das Gehirn jedenfalls belohnt uns dafür. "Entscheide lieber ungefähr richtig", sagte schon Johann Wolfgang von Goethe, "als genau falsch."