Führungskräften fehlt die Zeit zum Führen. Nur jeder Dritte befasst sich überhaupt mit dem Thema und geübt wird oft nur am lebenden Objekt - das ist eine Zumutung für Vorgesetzte wie Mitarbeiter. Ulrich Goldschmidt, Chef beim Berufsverband Die Führungskräfte im Interview über ein trauriges Management-Kapitel.
Sie haben in einer Untersuchung greifbar gemacht, dass Deutschland nicht nur Servicewüste, sondern noch eine viel größere Führungswüste ist?
Ulrich Goldschmidt: Beim Thema Führung ist noch viel Luft nach oben. Das registrieren auch die Führungskräfte selbst. In unserer großen Führungs-Studie, die wir seit zwei Jahren durchführen, gaben nur 41 Prozent der Führungskräfte an, bei ihren eigenen Vorgesetzten so etwas wie handwerklich solide Führung wahrzunehmen. Stichproben ergeben, dass sich daran bis heute nichts Entscheidendes geändert hat. Nur jede dritte Führungskraft sagt, dass sie sich überhaupt mit dem Thema Führung beschäftigt – dabei sollte das doch die ureigenste Aufgabe einer Führungskraft sein.
Was gute Führung ausmacht
Laut einer Umfrage der "Initiative Neue Qualität der Arbeit" unter 400 Führungskräften sind Flexibilität und Diversität sind weitgehend akzeptierte Erfolgsfaktoren. Das Arbeiten in beweglichen Führungsstrukturen, mit individueller Zeiteinteilung und in wechselnden Teamkonstellationen ist aus Sicht der meisten Führungskräfte bereits auf einem guten Weg. Die Idee der Förderung von Unterschiedlichkeit ist demnach in den Unternehmen angekommen und wird umgesetzt. Die Beiträge zur Führungskultur gerade aus weiblichen Erfahrungswelten werden äußerst positiv bewertet.
Prozesskompetenz ist für alle das aktuell wichtigste Entwicklungsziel. 100 Prozent der interviewten Führungskräfte halten die Fähigkeit zur professionellen Gestaltung ergebnisoffener Prozesse für eine Schlüsselkompetenz. Angesichts instabiler Marktdynamik, abnehmender Vorhersagbarkeit und überraschender Hypes erscheint ein schrittweises Vortasten Erfolg versprechender als die Ausrichtung des Handelns an Planungen, deren Verfallsdatum ungewiss ist.
Selbst organisierende Netzwerke sind das favorisierte Zukunftsmodell. Die meisten Führungskräfte sind sich sicher, dass die Organisation in Netzwerkstrukturen am besten geeignet ist, um die Herausforderungen der modernen Arbeitswelt zu bewältigen. Mit der kollektiven Intelligenz selbst organisierender Netzwerke verbinden diese Führungskräfte die Hoffnung auf mehr kreative Impulse, höhere Innovationskraft, Beschleunigung der Prozesse und Verringerung von Komplexität.
Hierarchisch steuerndem Management wird mehrheitlich eine Absage erteilt. Die meisten Führungskräfte stimmen darin überein, dass Steuerung und Regelung angesichts der Komplexität und Dynamik der zukünftigen Arbeitswelt nicht mehr angemessen sind. Zunehmende Volatilität und abnehmende Planbarkeit verringern die Tauglichkeit ergebnissichernder Managementwerkzeuge wie Zielemanagement und Controlling. Überwiegend wird die klassische Linienhierarchie klar abgelehnt und geradezu zum Gegenentwurf von „guter Führung“ stilisiert.
Kooperationsfähigkeit hat Vorrang vor alleiniger Renditefixierung. Über die Hälfte der interviewten Führungskräfte geht davon aus, dass traditionelle Wettbewerbsstrategien die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit erreicht haben und das Prinzip Kooperation weiter an Bedeutung gewinnt. Nur noch 29,25 Prozent der Führungskräfte präferieren ein effizienzorientiertes und auf die Maximierung von Profiten ausgerichtetes Management als ihr persönliches Idealmodell von Führung.
Persönliches Coaching ist ein unverzichtbares Werkzeug für Führung. Mit dem Übergang zur Netzwerkorganisation schwindet der selbstverständliche Schonraum hierarchischer Strukturen. Die Durchsetzung eigener Vorstellungen über Anweisung werde immer schwieriger oder sei gar nicht mehr möglich. Mächtig ist nur, was auf Resonanz trifft. Einfühlungsvermögen und Einsichtsfähigkeit werden dadurch immer wichtiger. Alle Akteure, ob nun Führungskraft oder geführte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, bräuchten im Unternehmen mehr Reflexion und intensive Entwicklungsbegleitung.
Motivation wird an Selbstbestimmung und Wertschätzung gekoppelt. Die Führungskräfte gehen davon aus, dass die motivierende Wirkung von Gehalt und anderen materiellen Anreizen tendenziell abnimmt. Persönliches Engagement wird mehr mit Wertschätzung, Entscheidungsfreiräumen und Eigenverantwortung assoziiert. Autonomie werde wichtiger als Statussymbole und der wahrgenommene Sinnzusammenhang einer Tätigkeit bestimme den Grad der Einsatzbereitschaft.
Gesellschaftliche Themen rücken in den Fokus der Aufmerksamkeit. In der intuitiven Schwerpunktsetzung der Führungskräfte nimmt die Stakeholder-Perspektive des Ausgleichs der Ansprüche und Interessen von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen einen wachsenden Raum ein. Über 15 Prozent aller frei genannten Beschreibungen im Führungskontext beschäftigen sich mit Fragen der gesellschaftlichen Solidarität und der sozialen Verantwortung von Unternehmen.
Aber völlig unkritisch sind die Führungskräfte nicht. Reflektieren nicht manche schon, dass sie künftig eine neue Rolle ausfüllen sollen?
Das stimmt. Führungskräfte haben da schon einen sehr kritischen Blick auf die Situation. Es geht bereits damit los, dass sie sich schlecht vorbereitet fühlen auf die andere, neue Rolle. Nur ein Drittel der Vorgesetzten hat in unserer Umfrage gesagt, dass sie sich gut oder sehr gut auf die Führungsaufgabe vorbereitet fühlen.
Das heißt, wir üben in den Betrieben Führung am lebenden Objekt, nämlich an unseren Mitarbeitern. Das ist eine Zumutung für den Vorgesetzten ebenso wie für seine Mitarbeiter. Wenn das kein Alarmsignal ist. Führung kann und muss also optimiert werden. Die meisten Führungskräfte würden auch den Einsatz von gut gestalteten individuellen Entwicklungsplänen begrüßen. Nur 38 Prozent der befragten Führungskräfte erleben aber solche Entwicklungsmaßnahmen, die auf ihre Person zugeschnittenen sind. Auch das belegt, dass da viel Luft nach oben ist.
Welche Führungsfehler machen diese Anfänger dann typischerweise?
Der Klassiker ist sicher, dass man aus seiner bisherigen Rolle nicht herauskommt und sich als eine Art Obersachbearbeiter sieht, der sich in alles einmischt und die Aufgaben immer noch am liebsten selbst erledigt. Mit diesem Mikro-Management schnürt man die Mitarbeiter ein. Man signalisiert, wenn auch ungewollt, Misstrauen und nimmt den Freiraum zur Kreativität.
Am schlimmsten sind aber die Führungskräfte, die auch später nicht aus der Rolle des Mikro-Managers herausfinden. Man muss es leider so hart sagen: Solchen Menschen darf man keine Mitarbeiter anvertrauen.
Viele junge Führungskräfte, die das erste mal eine Führungsaufgabe übernehmen, tun sich im Übrigen damit schwer, die richtige Balance zwischen Nähe und Distanz zu den Mitarbeitern zu finden, die bisher Kollegen waren. Der eine reagiert dann mit einem übertrieben autoritären Auftritt, während der andere versucht, Everybody‘s Darling zu sein. In beiden Fällen ist man schon auf der Verliererstraße. Da muss man mit viel Fingerspitzengefühl den Mittelweg finden. Eine Vorbereitung und Hilfestellung durch die Unternehmen wäre da schon sinnvoll.
Und die Vorgesetzten verwenden zu wenig Zeit auf das Führen ihrer Leute, stellen Sie fest?
Ja, die Unternehmen räumen ihren Führungskräften überwiegend zu wenig Zeit für Führung ein. Ganz deutlich: Viele Firmen missbrauchen ihre Führungskräfte als Sachbearbeiter „plus“, also für Sachbearbeitung plus Führung. Nach unserer Studie wenden nur vier Prozent der Führungskräfte mehr als 80 Prozent ihrer Arbeitszeit für Führung auf. Knapp 80 Prozent der Führungskräfte sagen aber, dass sie sich gerade mal in der Hälfte ihrer Arbeitszeit um Führung kümmern können. Ein krasses Missverhältnis, wenn wir andererseits immer davon sprechen, dass die Mitarbeiter das wichtigste Kapital der Unternehmen sind.
Führung im besten Sinne
Was denken Führungskräfte, wann sie eigentlich führen? Wo? Bei welcher Gelegenheit?
Führung im besten Sinne findet dort statt, wo die Führungskraft ein Arbeitsumfeld schafft, in dem die Mitarbeiter ihre optimale Leistung erbringen können und wollen. Dazu gehört es insbesondere, ein motivierendes Klima im Betrieb oder in der Abteilung zu schaffen, Freiräume für die Mitarbeiter zu kreieren und diese auch zu schützen. Führung heißt nicht, in Meetings herumzusitzen, von denen die Hälfte eh überflüssig sind und in der verbliebenen Zeit nach der Methode „Befehl und Gehorsam“ zu agieren.
Kann in Meetings überhaupt Führung stattfinden? Wirken nicht ohnehin non-verbale Signale und vorgelebte Beispiele viel stärker als Chef-Predigten?
Wenn wir sagen, dass bei Führung der Mensch im Mittelpunkt steht, muss genau dort, nämlich beim Menschen Führung stattfinden, sichtbar werden und Wirkung entfalten. Wir führen also nicht „die Arbeitnehmer“, sondern mehr als früher „den einzelnen Mitarbeiter“, der in seiner Individualität wahrgenommen und wertgeschätzt werden will. Der Einzelne nimmt also Führung gar nicht als solche wahr, wenn sie ihn nur als Massenphänomen wie in einer E-Mail „an alle“ oder in einer Ansprache an die gesamte Abteilung erreicht.
...nicht leicht, wenn eine Führungskraft mehrere Dutzend Menschen ins Boot holen will...
Genau, und diese individualisierte Führung wird umso schwieriger, je flexibler unsere Organisationen und die Arbeitswelt an sich werden. Mitarbeiter, die ich als Vorgesetzter kaum noch persönlich sehe, weil sie etwa im Homeoffice oder in einer Matrixorganisation an ganz anderen Orten arbeiten, kann ich nur noch bedingt persönlich ansprechen. Trotzdem muss ich diesem Mitarbeiter das Gefühl geben, dass ich ihn persönlich wahrnehme und schätze. Führung wird dadurch aufwändiger und individualisierter. Aber genau das macht sie so wertvoll auch für das Unternehmen. Führung als Massenveranstaltung lässt keine Kommunikation im Sinnes eines vertieften Austauschs von Meinungen und Ideen zu. Individualisierte Führung macht das Potenzial der Mitarbeiter erst wirklich nutzbar. Und nur dann kann die Führungskraft auch durch die eigene Persönlichkeit, beispielsweise als Vorbild wirken und so Vertrauen in Führung schaffen.
Was sind die Folgen für die Unternehmen konkret?
In einem globalisierten Wettbewerbsumfeld reicht es nicht, die besten Maschinen und die beste IT einzusetzen. Wir brauchen hoch motivierte Mitarbeiter und deren Kreativität, sonst wird weder Industrie 4.0 noch Arbeit 4.0 funktionieren. Allein mit Digitalisierung wird kein Unternehmen überleben. Entscheidend ist, die besten Geschäftsmodelle zu entwickeln. Geschäftsmodelle werden aber nicht von Algorithmen entwickelt, sondern von Menschen – von Führungskräften und ihren Mitarbeitern.
Interessant ist bei Ihrer Umfrage auch die größte Sorge oder was ihnen am meisten zu schaffen macht. Intrigen und Machtspiele stehen mit großem Abstand an erster Stelle.
Und 63 Prozent der Führungskräfte empfinden so etwas als stark belastend. Auf Platz zwei folgt die Knappheit finanzieller oder personeller Ressourcen, die 45 Prozent der Führungskräfte als stark belastend einordnen gefolgt von überfordernden oder widersprüchlichen Zielsetzungen mit 43 Prozent.