Geheimprojekt Ursula Bei Otto ist Kulturwandel mehr als nur Duzen

"Was nichts kostet, taugt auch nichts", sagt der Volksmund. Beim Kulturwandel stimmt das nicht. Wer seinen Mitarbeitern mehr Freiraum gibt, kann nur gewinnen. Das zeigt das Beispiel Otto Group.

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Wer seinen Mitarbeitern mehr Freiheit lässt, profitiert davon. Letztlich auch finanziell. Quelle: Fotolia

Manchmal braucht es Mut. Den Mut der Chefetage, die Mitarbeiter einfach mal machen zu lassen. Bei Otto kam dabei das "Geheimprojekt Ursula" heraus. Ein Virtual-Reality-Konzept für den Geschäftskundenbereich.

"Dass unser VR-Projekt „Geheimprojekt Ursula“ heißt, ist ein Scherz. Andere Konzerne tüfteln doch ständig an irgendwelchen Geheimprojekten. Das wollten wir auch. Also haben wir Begriffe wie Virtual Reality, Otto und Splunk in einen Akronymgenerator geworfen und geguckt, was dabei rauskommt", erzählt André Pietsch und grinst. "Wir hatten die Wahl zwischen "Ursula" und "Stallion". Der Hengst verlor.

Virtual-Reality-Projekt für B2B

Pietsch ist Product Manager bei der Otto Group und "Ursulas" Vater. Für Kunden hat der Handelskonzern bereits Ende 2016 eine virtuelle Wohnmesse, in der Kunden per Computer oder mit einem VR-Cardboard (ein Virtual-Reality-Selbstbau-Kit fürs Smartphone) durch virtuelle Küchen und Wohnzimmer gehen konnten.

Virtual-Reality-Brillen

"Wir haben uns jedenfalls gefragt, ob wir Virtual Reality nicht auch für B2B anbieten können", erklärt er die Idee hinter "Ursula". Zusammen mit Kollegen und Partnern wie Dell, Gemini Data oder LC Systems, mit Universitäten und Forschungseinrichtungen, tüftelte er an einer Plattform, die die Otto Group mit all ihren Systemen darstellt.

Zu sehen sind dort Luftballons, an denen verschiedene Päckchen hängen: Buchhaltung, Adressverzeichnisse, Softwarelizenzen, Richtlinien – das gesamte Intranet mit all seinen Ordnern zum Anfassen und Auspacken. In Schriftform sei das System der Konzerngruppe hoch komplex, weil so viele verschiedene Unternehmen in verschiedenen Ländern dazu gehören. Wer da nochmal nachsehen möchte, wie ein bestimmter Prozess aussehen muss, verliere leicht den Überblick. "Geheimprojekt Ursula" soll helfen, sich in den Strukturen des Unternehmens besser zurecht und Gesuchtes schneller zu finden.

"Mit VR machen wir unsere Systeme nicht nur sicht- sondern erlebbar. Man kann durch sie hindurchlaufen und durch Prozesse fliegen und dabei 2000 verschiedene virtuelle Objekte sehen", erläutert Pietsch.

Ursula und die Duz-Kultur sind gleich alt

Dass "Ursula" und die Duz-Kultur bei dem Handelskonzern etwa gleich alt sind, ist kein Zufall. ""Ursula" ist auch ein Ergebnis des Kulturwandels bei Otto", bestätigt Pietsch. "Es ist ja nicht nur, dass wir uns jetzt inklusive Chefs und Vorstände alle duzen. Es geht auch um Öffnung unserer Plattform für Partner und um Transparenz und Ausprobieren."

"Wir wollen im Unternehmen zu einem noch stärkeren „Wir“-Gefühl kommen. Das hat viel mit flachen Hierarchien und der Bereitschaft zu tun, Verantwortung zu übernehmen", erläuterte der ehemalige Konzernchef Schrader damals in der WirtschaftsWoche seine Vorstellung vom Wandel seines Unternehmens.

Freiheit und Verantwortung statt Tischkicker und Obst


Kulturwandel heißt das Stichwort, das gleichzeitig ein fürchterliches Buzzword ist. Es klingt nach Tischkicker in der Werkshalle bei Siemens, Gratis-Smoothies in der Teeküche des Finanzamtes Köln-Ost und so, als solle jetzt jeder schwäbische Maschinenbauer irgendwie ein bisschen mehr Berlin sein. Darum geht es aber gar nicht.

Sondern vielmehr darum, Menschen mit Visionen nicht mehr zum Arzt zu schicken, sondern ihnen zuzuhören und Handlungsspielräume zu geben.

Automatisierung ja, Kreativität nein

Damit tut sich die deutsche Wirtschaft mehrheitlich noch schwer, wie die aktuelle Studie "Roboter, Rebellen, Relikte. Überkommene Strukturen behindern die Digitale Transformation" der Technologieberatung Bearing Point zeigt. Demnach tun sich die Deutschen bei allem leicht, was Effizienzsteigerung und Kostensparen heißt – wo der Ingenieur eine Schraube fester anziehen muss – neue Leistungen, Produkte oder neue Geschäftsmodelle werden dagegen kaum in Betracht gezogen.

Was eine intakte Unternehmenskultur ausmacht

"Digitale Vordenker werden nicht systematisch gesucht und es fehlt bereits im Recruiting an Maßnahmen zur Förderung von digitalen Visionären", sagt Carsten Schulz, Partner bei BearingPoint. "Somit gibt es zahlenmäßig nicht nur wenige Vordenker, sie werden auch unzureichend eingebunden und haben kein unterstützendes Netzwerk. Dies macht sie zu großen Teilen handlungsunfähig und ihre Kraft, etwas im Unternehmen zu ändern, ist daher eher gering." Das zu ändern, ist Kulturwandel in Reinform und wird in der Regel durch kreative Ideen der so befreiten Mitarbeiter belohnt.

Mittwochvormittag ist meetingfrei

Das muss nicht zwangsläufig mit hohen Kosten und pompösen Kampagnen einhergehen. Bei Otto gebe es beispielsweise am Mittwochvormittag keine Meetings, wie Pietsch erzählt. Kein Tischkicker, kein Obst – bloß freie Zeit, um Liegengebliebenes abzuarbeiten oder mit Kollegen an Ideen zu basteln, die über den Versand von Unterhosen und Küchenmöbeln hinausgehen. Aus diesen Freiräumen ist zum Beispiel "Otto Action" hervorgegangen. Dahinter verbirgt sich ein Voice-Commerce-Projekt: also bestellen per Sprachbefehl. Wer seit dem 24. Oktober zu seinem Google-Sprachassistenten sagt "Ok, Google. Rede mit Otto", bestellt eben nicht per Google eine Hose bei Otto, sondern kann sich mit der Software unterhalten und ihr Fragen zu Rabatten oder Sonderangeboten stellen.

Natürlich eigne sich nicht jede Idee und jedes Projekt dazu, mit vollem Elan verfolgt zu werden. Aber Wertschätzung und Raum zum Experimentieren bekomme jeder, der eine Idee habe. Pietsch: "Ich habe immer wieder Azubis, denen ich zu Beginn ihrer Zeit in meiner Abteilung sage: Ihr könnt etwas machen, was ihr später braucht – oder was Cooles. Wobei ich fest davon überzeugt bin, dass sie beim Geheimprojekt "Ursula" auch etwas für ihr späteres Berufsleben lernen können."

Pietschs Azubis sind im Konzern aber kein Einzelfall. Allgemein ermöglicht Otto es seinen Lehrlingen, neben Berufsschule und klassischer praktischer Ausbildung, selbstständig eigene Projekte zu entwickeln. So viel Freiheit ist nicht in allen Firmen denkbar. Kreativität ist gewollt, aber bitte von neun bis fünf, heißt es oft. Studien und Positivbeispiele wie das von Otto zeigen jedoch: Wer aufhört, sich an Strukturen festzuklammern und stur nach Kosten-Nutzen-Kalkulation vorzugehen, gewinnt. Auch wenn das Geschäftsmodell nicht immer gleich so klar ist, wie bei "Otto Action".

Was die Kreativität fördert

Auch bei "Ursula" ist sich Pietsch noch nicht sicher, wie sie einmal Geld verdienen soll. Als eigene Firma? Als individuelle Lösung für Partner, Mitglieder der Group? "Natürlich haben wir motivierte Mitarbeiter, die für das Thema brennen und auch die Freiräume bekommen, sich damit zu beschäftigen. Wir sind aber noch längst nicht so weit, um damit Business Cases zu rechnen", sagt ein Sprecher der Gruppe. Des Weiteren arbeite die Gruppe an anderen, derzeit für sie relevanteren Zukunftsthemen, wie künstliche Intelligenz, Voice Commerce und Machine Learning.

Trotzdem waren die Reaktionen auf "Ursula" bisher durchweg positiv, sagt Pietsch. Er hat das Projekt auf verschiedenen VR- und Big-Data-Konferenzen vorgestellt, um das Interesse zu prüfen. Er wollte wissen, ob er sich der Aufwand lohnt.

Sein Fazit: "Derartige Projekte sind auch für andere Branchen durchaus denkbar." Dieses Jahr werde "Ursula" aber keine großen Schritte mehr machen. Ab November hat Pietsch allerdings wieder einen Azubi in seinem Team, der sich für „was Cooles machen“ entschieden hat.

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