Der Fall sorgte für Furore in der gesamten deutschen Wirtschaft. Michael Hoffmann-Becking, Staranwalt aus Düsseldorf, sollte für Siemens-Aufsichtsratschef Gerhard Cromme prüfen, ob der Münchner Konzern seine Ex-Chefs für die Schäden durch die Korruptionsaffäre vor gut fünf Jahren belangen könne. Hoffmann-Becking beriet sich mit vier Kollegen, schrieb ein Gutachten – und kam zu dem Schluss, dass Siemens ein Recht dazu habe. Am Ende zahlten der frühere Vorstandsvorsitzende Heinrich v. Pierer fünf Millionen und sein Nachfolger Klaus Kleinfeld zwei Millionen Euro in die Konzernkasse.
Seitdem verstummt in deutschen Vorstandsetagen nur langsam das Tuscheln: Wie es denn angehen könne, dass ausgerechnet ein solcher Vertrauter der deutschen Chefetagen den einstigen Größen des wichtigsten deutschen Industriekonzerns dermaßen zusetze.
Strippenzieher im Hintergrund
Der sich das herausnahm, zählt zu jenen Männern und Frauen hierzulande, die vieles bewegen, am wenigsten aber sich selbst in der Öffentlichkeit, die den Takt geben, aber nur ganz selten Interviews, die Fäden ziehen, doch nie selber vor die Kameras: Deutschlands heimliche Herrscher, Einflüsterer und Drahtzieher, ohne die weder Konzernlenker noch Unternehmerdynastien wichtige Dinge entscheiden.
Die Trupps der Schattenmänner und -frauen sind so bunt wie verschwiegen. Viele sind Juristen wie der Linklaters-Anwalt Ralph Wollburg, der unter anderem für die Dax-Konzerne Fresenius und die Deutsche Börse arbeitete, oder Hoffmann-Becking von Hengeler Mueller, auf den Superreiche mit klangvollen Namen wie die BMW-Erben Quandt, der Pharma-Clan Boehringer oder die schwäbischen Motorsägenbauer Stihl horchen.
Andere üben ihre Macht, die sie einst als Konzernchefs besaßen, nun über Kontrollorgane der Unternehmen aus, die zur Geheimhaltungspflicht verpflichtet sind. Henning Kagermann etwa, der frühere Chef des deutschen Softwareriesen SAP, bestimmt heute in den Aufsichtsräten von Deutsche Bank, Deutsche Post und Munich Re über die Geschicke von Großunternehmen mit.
Bewegende Gewerkschaftsbosse
Auch so mancher hochrangige Gewerkschaftsboss bewegt mehr, als sein Auftritt bei Tarifverhandlungen es vermuten lässt. Michael Vassiliadis von der IG Bergbau Chemie Energie sitzt nicht nur als Arbeitnehmervertreter in Konzernen wie BASF, Henkel und beim Düngemittelproduzenten K+S im Aufsichtsrat. Er bestimmt auch über die Zukunft von Evonik mit, indem er im Kuratorium der RAG-Stiftung wirkt. Die besitzt rund 75 Prozent des Essener Chemiekonzerns und soll mit dessen Vermögen die Spätfolgen des deutschen Steinkohlebergbaus begleichen.
Auch Wissenschaftler haben es in die verschwiegenen Zirkel geschafft, deren Mitglieder ihre Macht hinter den Kulissen zelebrieren. So kontrolliert die BWL-Professorin und ehemalige McKinsey-Beraterin, Ann-Kristin Achleitner, neben ihrem Job an der Technischen Universität München gleich zwei Dax-Konzerne mit: den Münchner Industriegase-Hersteller Linde und den Handelskonzern Metro. Ihr Gatte ist Paul Achleitner, der künftige Oberaufseher der Deutschen Bank. Die beiden gelten als Power-Paar der deutschen Wirtschaft.
Die Mächtigen der Wirtschaft
In einer siebenteiligen Serie wird sich die WirtschaftsWoche den heimlichen Herrschern der deutschen Wirtschaft widmen und schildern, wer hinter wem steht und wer Strategien und Karrieren bewegt.
Noch vor wenigen Jahren war es mit der Heimlichkeit der Herrschenden nicht weit her. Die Mächtigen in der Wirtschaft bekannten sich vielmehr offen zu ihrem Einfluss und bildeten einen allseits bekannten Kreis herausragender Manager und Unternehmer, für den das Wort von der Deutschland AG stand. In deren Mittelpunkt agierten vor allem die Chefs der großen deutschen Finanzinstitute, insbesondere der Deutschen Bank und der Allianz-Versicherung, die über ihre großen Industriebeteiligungen die Kernbereiche der deutschen Industrie mehr oder weniger mitregierten.
Deutsch-Banker wie Hermann Josef Abs, der es zu seiner Glanzzeit auf 20 Aufsichtsratsmandate brachte, Alfred Herrhausen und Hilmar Kopper, aber auch Allianz-Vorsteher wie Henning Schulte-Noelle prägten über Jahrzehnte diese Machtelite. Dadurch bildeten sie gleichzeitig einen Beistandspakt und schreckten Ausländer vor Übernahmen deutscher Konzerne ab.
Ein Bollwerk
Unterstützt wurde das Bollwerk von führenden Industriellen wie Thyssen-Chef Dieter Spethmann, dem einstigen Bosch-Chef und „Gottvater“ Hans L. Merkle oder Ruhrgas-Lenker Klaus Liesen, die weit über ihre Unternehmen hinaus Deutschlands Wirtschaft in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts mitbestimmten.
Die Auflösung der Deutschland AG begann mit der Globalisierung der Wirtschaft und der schwindenden Bedeutung des Kreditgeschäfts der Banken. Statt an Unternehmen zu kleben und denen Geld zu leihen, verlegten sich die Institute zunehmend auf das weltweite Investmentbanking, also das Geschäft mit Anleihen, Aktien, Fusionen und Übernahmen.
Verbliebene Netzwerke
Der große Knall kam schließlich am 1. Januar 2002, als ein Gesetz des damaligen SPD-Finanzministers Hans Eichel in Kraft trat, das Unternehmen den so gut wie steuerfreien Verkauf ihrer Beteiligungen ermöglichte. „Das war das Ende der Deutschland AG, die schon vorher deutliche Auflösungserscheinungen zeigte“, bilanziert der Hamburger Wirtschaftssoziologie-Professor Jürgen Beyer. Die Deutsche Bank trennte sich daraufhin von ihren Beteiligungen an Continental, HeidelbergCement und Metallgesellschaft, die Allianz stieß ihre Anteile an der Commerzbank, der Deutschen Börse und der HypoVereinsbank ab.
Damit waren die Tage der Deutschland AG und ihres Machtknäuels großenteils gezählt. „Die Deutschland AG gibt es zwar so nicht mehr, die Banker haben sich zurückgezogen, die gegenseitigen Beteiligungen sind weitgehend aufgelöst“, sagt der Elitenforscher und Soziologie-Professor Michael Hartmann von der Technischen Universität Darmstadt. „Aber es gibt immer noch die Netzwerke und Strippenzieher.“
Auch wenn viele dieser Netzwerke und Strippenzieher zur Garde der heimlichen Herrscher gehören: Der eine oder andere Vertreter der alten Deutschland AG lebt durchaus erfolgreich fort – allerdings längst nicht mehr im öffentlichen Scheinwerferlicht. Als Prototyp dieser Kaste gilt der einstige Bayer-Chef Manfred Schneider, der zeitweise in den Aufsichtsräten von einem halben Dutzend Dax-Konzernen saß. Der 73-Jährige ist aktuell immer noch der mächtigste Kontrolleur deutscher Top-Unternehmen. Die Aufsichtsräte von Bayer, RWE und Linde tagen unter seinem Vorsitz.
Heute: Ein Netzwerk der heimlichen Herrscher
Nachdem Schneider sich 2002 als Bayer-Vorstandschef verabschiedet hatte, zog sich der gewandte Boss vom Rhein aus der Öffentlichkeit zurück. Stattdessen pflegte der Fußballfan im Stillen seine Kontrollmandate. In jüngster Zeit fiel Schneider damit auf, dass er einige spektakuläre Transfers in der höchsten deutschen Wirtschaftsliga organisierte.
Holländer für die Spitze
So verordnete Schneider dem Bayer-Konzern den ersten Ausländer an der Spitze, noch dazu einen, der bislang sein ganzes Berufsleben außerhalb der Bayer-Mauern verbracht hatte: den Holländer Marijn Dekkers. Und beim Essener Energiekonzern RWE setzte Schneider nach einer turbulenten Aufsichtsratssitzung den Manager Peter Terium, ebenfalls einen Holländer, als Nachfolger gegen den Kandidaten des noch amtierenden Vorstandschefs Jürgen Großmann durch.
Von ähnlichem Kaliber wie Schneider ist auch Gerhard Cromme, der einstige ThyssenKrupp-Chef, der heute die Aufsichtsräte von ThyssenKrupp und Siemens führt. Cromme löste den durch die Siemens-Korruptionsaffäre angeschlagenen Aufsichtsratschef Heinrich v. Pierer ab und gewann den Österreicher Peter Löscher, einen ehemaligen Pharmamanager, als neuen Siemens-Vorstandschef.
Institutionell gebildete Netzwerke
Das heutige „Netzwerk der heimlichen Herrscher in Deutschlands Wirtschaft hängt stark von einzelnen Personen ab“, sagt Soziologe Hartmann. In Frankreich oder Großbritannien bildeten sich die Netzwerke „eher institutionell, durch die Mitgliedschaft an Elitehochschulen“. Der Soziologe hält Cromme in Deutschland für eine der Schlüsselfiguren.
Nicht immer sind sich die heimlichen Herrscher der deutschen Wirtschaft untereinander einig. So gerieten die beiden Alpha-Manager Cromme und Schneider vor einigen Jahren aneinander – wegen Linde-Chef Wolfgang Reitzle. Cromme, so heißt es, wollte Reitzle gern als Chef – und Nachfolger von v. Pierer – zu Siemens holen. Linde-Aufsichtsratschef Schneider dagegen wollte seinen erfolgreichen Vorstandsvorsitzenden behalten. Reitzle blieb schließlich, Cromme musste sich seine Siemens-Erfolge mit Staranwalt Hoffmann-Becking holen.