Kapitalismus in der Krise Die verlorene Ehre der Top-Manager

In einstigen Vorzeigekonzernen geht es nicht nur unmoralisch zu. Die Verantwortlichen verhalten sich schamlos. Den Schaden des Sittenverfalls tragen wir alle für sie.

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Die großen Namen der deutschen Wirtschaft suhlen sich im Schmutz. „Diesel-Gate“ bei VW, „Schienenfreunde“ bei Thyssen-Krupp, Libor-Manipulation und unzählige andere Gaunereien bei der Deutschen Bank. Man registriert die neuen Wasserstandsmeldungen über Ermittlungen und Erklärungsnöte mittlerweile schon fast notgedrungen routiniert.

Die leitenden Angestellten dieser und ungezählter anderer Konzerne haben durch ihr Handeln die ohnehin schon große Abneigung des Durchschnittsverdieners gegen die wirtschaftliche Führungsschicht verstärkt. Der Eindruck, dass man sich im gegenwärtigen Wirtschaftssystem ab einer gewissen Position Schummeln leisten kann und dennoch äußerstenfalls mit einem goldenen Handschlag verabschiedet wird, hat sich längst auch jenseits von Blockupy und antikapitalistischen Sekten festgesetzt. Ein tiefes Unbehagen am „System“ oder am „Kapitalismus“ macht sich breit. 73 Prozent der Bundesbürger sagen, die Soziale Marktwirtschaft „funktioniere nicht mehr so wie früher“.

Aber diese Missbilligung scheint die Verantwortlichen kaum zu kümmern. Von Bußübungen hört man selten aus den Konzernzentralen. Im Gegenteil scheint man vor allem damit befasst, die eigenen Hände in Unschuld zu waschen, allzu aufklärungswillige Aufsichtsratsmitglieder auszusondern und vor allem: so genannte „Boni“ in Millionenhöhe einzukassieren.

Die Chef-Checkliste zur sozialen Kompetenz

„Bonus“ kommt aus dem Lateinischen und heißt – daran darf man die Nicht-Lateiner unter den Managern durchaus öfter mal hinweisen – „gut“. Offensichtlich ist man also im Vorstand des VW-Konzerns der Ansicht, alles gut gemacht zu haben.

Doch diejenigen, die unmittelbar persönlich verantwortlich sind, spüren in aller Regel keine schmerzhaften Sanktionen. Nicht einmal ein schlechtes Gewissen scheint die meisten zu belasten. Als VW-Vorstandschef Matthias Müller im Januar in Detroit von Journalisten gefragt wird, warum man die Behörden angelogen habe, antwortet der dreist: „Wir haben nicht gelogen“.

Wer hat den Schaden der Übeltaten zu tragen? Vordergründig ist die Antwort einfach: Die Strafzahlungen treffen den gesamten Konzern. Dessen Gewinne sinken, die Aktionäre spüren das unmittelbar.

Aber einen noch sehr viel weitreichenderen Schaden hat die Allgemeinheit zu tragen. Die Wut über völlig ungesühnte, sogar noch vergoldete Übeltaten in den Wirtschaftseliten, entlädt sich mangels eines anderen Ventils bisher vor allem bei Wahlen. Manager kann der Bürger nicht abstrafen, aber Politiker, die – so unterstellt man – mit diesen unter einer Decke stecken. Im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf in den Vereinigten Staaten zeigt sich diese Wut auf das „Establishment“ besonders deutlich. 51 Prozent der jungen Amerikaner stehen einer aktuellen Umfrage der Harvard Universität zufolge nicht mehr hinter dem „Kapitalismus“. Aber auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern offenbart sich eine gefährliche Entfernung zwischen Eliten und wachsenden Teilen der Bevölkerung.

Top-Manager können sich leisten, was ein gewählter Berufspolitiker nicht kann, denn über Wirtschaftskarrieren wird nicht vom Wähler abgestimmt. In Vorstandsetagen braucht man sich um den Zorn der Öffentlichkeit kaum zu kümmern – solange er nicht die verkauften Produkte betrifft. Ein „Goldener Windbeutel“ von Foodwatch wegen zu viel Zucker in der Kindernahrung kann für einen Nahrungsmittelkonzern einen enormen Image-Verlust mit Verkaufseinbußen bedeuten. Aber moralisches Fehlverhalten eines Top-Managers ist nicht sonderlich relevant für das Verkaufsergebnis von Autos oder Aktienfonds.

Ob die deutsche Öffentlichkeit den früheren VW-Finanzvorstand Hans Dieter Pötsch unsympathisch findet, kann diesem daher ziemlich egal sein, solange es auch denen egal ist, die über seine Bezahlung und weitere Beschäftigung entscheiden. Und das ist es offensichtlich: Diese, seine Standesgenossen, gönnen ihm mitten im größten Skandal der Unternehmensgeschichte, für den er vermutlich zumindest moralisch Mitverantwortung trägt, 15 Millionen Euro dafür, dass er an die Spitze des Aufsichtsrats wechselt.

Was die gegenwärtigen Skandale in Konzernen in historischer Perspektive besonders macht, ist nicht so sehr das moralische Versagens von Top-Managern als solches. Vermutlich war die Gier eines Geschäftsmannes im 19. Jahrhundert nicht geringer als die heutiger Investment-Banker. "Enrichissez-vous", lautete die Parole des Bürgertums, während die Proletarier von der Staatsmacht zusammenkartätscht wurden, wenn sie allzu laut aufmuckten. Was aber die heutigen Wirtschaftseliten radikal von denen des bürgerlichen Zeitalters unterscheidet: Das offensichtliche Fehlen jeglicher Scham beim Begehen von Gaunereien – ermöglicht durch das Ausbleiben jeglicher sozialer Diskreditierung unter ihresgleichen. Man hat nicht von gesenkten Häuptern, von Tränenausbrüchen oder herzergreifenden Reueschwüren bei VW, bei der Deutschen Bank, bei Thyssen-Krupp gehört oder gelesen. Geschweige denn von tragischeren Taten.

Der "ehrbare Kaufmann"

Scham und Schande sind keine Funktionen der Moral, sondern der Sitten. Letztere haben sich offensichtlich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Dieser Wandel, den heutige Historiker in der Regel als Befreiungsgeschichte erzählen, hatte offensichtlich auch verheerende Effekte: Das Zeitalter des „ehrbaren Kaufmanns“ scheint vorbei zu sein, wie Ralf Dahrendorf 2009 in seinem letzten Essay feststellte.

Ein Kaufmann, der seinem Unternehmen durch unmoralische oder erst recht durch gesetzwidrige Geschäftspraxis finanziellen Schaden bescherte, der war im bürgerlichen Zeitalter gesellschaftlich erledigt. Mit dem wollte sich niemand mehr sehen lassen; den lud niemand mehr ein. Für den Betroffenen war der Gesichtsverlust, die verlorene Ehre, die Schande eine persönliche Katastrophe, die den finanziellen Schaden und die gesetzliche Strafe bei weitem übertraf.

Die Literatur des 19. Jahrhunderts ist voll von solchen Schicksalen aus der Frühphase des Kapitalismus, zum Beispiel in Balzacs „Commedie Humaine“: Männer, die nicht mehr als Gentleman galten, weil sie gegen den Ehrenkodex ihrer Kaste verstoßen hatten; denen man im Herren-Club den Händedruck und in der Kirche die Teilnahme an der heiligen Kommunion verwehrte. Man konnte mit einem solchen Ehrverlust dann eigentlich nur noch auswandern - oder schlimmeres: Der Autor dieser Zeilen stammt von einem Brauereibesitzer ab, der sich nach einer erfolglosen Spekulation mit dem Jagdgewehr in den Kopf schoss.

Nicht dass man sich diese Besessenheit von der Ehre, die manch einem wichtiger war als das Leben, zurückwünschen sollte. Aber das offensichtliche Fehlen jeglicher gesellschaftlicher Sanktion, die Top-Manager nach „ehrenrührigem“ Handeln zur Scham bewegen könnte, kann man durchaus als Mangelerscheinung beklagen. Wäre es so unverdient, wenn ein Hans Dieter Pötsch nach derartig unverfroren demonstrierter Maßlosigkeit nicht wenigstens mit der mehr oder weniger offenen Verachtung seiner Standesgenossen weiterleben müsste? 

Aber die Frage ist müßig. Denn die Ehre des Kaufmanns, deren Verletzung Schande mit sich bringt, also die Verachtung der Standesgenossen, gibt es nicht mehr. Deswegen laufen auch freiwillige Regeln der Managerkaste wie der deutsche Corporate Governance Kodex weitgehend ins Leere: Sie versuchen künstlich etwas zu schaffen, was in Jahrhunderten wächst und zerfällt, sobald es debattiert wird. Sitten, die man schriftlich fixieren muss, weil sie eben nicht mehr unhinterfragt von allen akzeptiert werden, und deren Bruch keine gesellschaftlichen Sanktionen heraufbeschwört, sind keine mehr. Ein Ehrenkodex, dessen Bruch keine Schande bedeutet, ist nichtig. Er war, das zeigt sich jetzt, die Spesen nicht wert, die der frühere ThyssenKrupp-Chef Gerhard Cromme und die anderen Mitglieder der Kommission bei seiner Erstellung produzierten.

Klischee-Check: Sind CEOs wirklich...

Also was tun? Nun, das liegt eigentlich auf der Hand. Was dem Adligen und Gentleman früherer Jahrhunderte sein Ruhm und seine Ehre waren, ist dem Top-Manager der Gegenwart sein Geld: das Medium, das fast alleine Status und Erfolg signalisiert. Und weil man die vergessene Ehre nicht durch Kommissionsbeschlüsse wieder einführen kann, führt kein Weg daran vorbei: Wirtschaftsakteure müssen mit den Methoden zur Verantwortung  für ihre Handlungen gezogen werden, die ihnen wirklich weh tun. Das sind nur der Verlust von Geld und Macht.

Das einzige aussichtsreiche, nämlich schmerzende Mittel – jenseits des Strafrechtes – ist die Stärkung der persönlichen finanziellen Haftung leitender Angestellter. Die exorbitant ansteigenden Bezüge und „Boni“ in den Konzernführungen sind allenfalls dann zu rechtfertigen, wenn sie tatsächlich an Erfolg gebunden sind und im Falle des offensichtlichen Versagens entfallen. Gescheiterte Manager finanziell abzustrafen, wäre nicht nur im Interesse der Aktionäre der betreffenden Unternehmen, sondern im Interesse der gesamten Gesellschaft. Durchsetzen kann das nur der Gesetzgeber als politischer Agent der Gesellschaft.

Es geht längst nicht nur um individuelles moralisches Versagen in Konzernen. Es geht ums Ganze. Das heißt: um die Wirtschaftsordnung. Im Bewusstsein der wirtschaftlichen Eliten ist leider nicht mehr besonders tief verankert, dass die Akzeptanz und Stabilität dieser Ordnung auch die Existenzgrundlage der eigenen Privilegien ist, und dass sie selbst die Verantwortung dafür tragen.

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