Vor drei Wochen stand Volkswagen noch für technische Spitzenleistungen, ökologische Vorbildlichkeit, hehre ethische Ansprüche und zugleich die Ambition, die Nummer eins in der Welt zu sein. Das war einmal. Der Lack ist ab.
Doch wie ist es möglich, dass Manager solche Fehlentscheidungen treffen? Warum und unter welchen Umständen werden wichtige Fakten ignoriert? Wieso treffen hochkompetente Menschen derart inkompetente Entscheidungen?
Zur Person
Heinz Becker ist selbstständiger Managementberater. Der studierte Psychologe schreibt als Buchautor zu den Themen Führung, Macht und Streitkultur.
Die Antwort liegt unter anderem in der Unternehmenskultur: Winterkorn führte den Konzern vollkommen autokratisch. Er kümmerte sich persönlich um jedes Detail und verbreitete damit über die gesamte Hierarchie ein Klima der Angst. Seine Einschüchterung erstickte Widerspruch bis hinunter zur Werkbank. Kein Wunder, dass man technologisch nicht mehr hält, was man versprach. Ein modernes Auto zu bauen, erfordert eben die mitsteuernde Initiative der Experten aller Disziplinen. Da stößt das System Befehl und Gehorsam an seine Grenze. Wie sind solche Fehlentwicklungen zu vermeiden?
Es gibt eine Antwort: Sie lautet „Führen mit Streitkultur“ die einzige Alternative zum System Befehl und Gehorsam. Erst diskursive Entscheidungsprozesse ohne eine Atmosphäre der Angst ermöglichen, den Entscheidungsgegenstand aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und damit Fehlentscheidungen entgegenzutreten.
Dies alles mag den Betriebsratsvorsitzenden Bernd Osterloh kurz nach Bekanntwerden des Skandals bewegt haben, einen Kulturwandel zu fordern: „Die Mitarbeiter müssen sich mit ihren Ideen und Bedenken direkt an ihre Vorgesetzten wenden können.“ Dann liegen die Probleme auf dem Tisch und es kann offen um die Lösung gestritten werden. Am besten konstruktiv.
Der VW-Abgas-Skandal im Überblick
Die US-Umweltbehörde EPA teilt in Washington mit, Volkswagen habe eine spezielle Software eingesetzt, um die Messung des Schadstoffausstoßes bei Abgastests zu manipulieren. In den Tagen darauf wird klar, dass weltweit Fahrzeuge von VW und der Töchter betroffen sind – darunter auch Audi und Porsche. Die VW-Aktie bricht ein.
VW-Chef Martin Winterkorn tritt nach einer Krisensitzung der obersten Aufseher zurück. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig prüft die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen VW. Anlass dafür seien auch eingegangene Strafanzeigen von Bürgern, heißt es.
Der VW-Aufsichtsrat tagt. Nach langer Sitzung beruft das Gremium Porsche-Chef Matthias Müller zum neuen Konzernchef und trifft einige weitere Personal- und Strukturentscheidungen. Verantwortliche Motorenentwickler werden beurlaubt.
Nach mehreren Strafanzeigen startet die Braunschweiger Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen Betrugsvorwürfen. Entgegen einer ersten Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Braunschweig gibt es keine Ermittlungen gegen Ex-Chef Martin Winterkorn persönlich.
Das Aufsichtsrats-Präsidium beschließt, Hans Dieter Pötsch per registergerichtlichen Anordnung in den Aufsichtsrat zu berufen. Das ist möglich, weil mehr als 25 Prozent der Aktionäre Pötsch favorisiert haben. Die Familien Porsche und Piëch, die Pötsch gegen die Bedenken des Landes Niedersachsens und der Arbeitnehmer durchgesetzt haben, halten über die Porsche SE rund 52 Prozent der VW-Anteile. Julia Kuhn-Piëch, die erst dieses Jahr nach dem Rücktritt von Ferdinand und Ursula Piëch in das Kontrollgremium aufgerückt war, verlässt den Aufsichtsrat wieder.
Es ist klar, dass die betroffenen VW-Fahrzeuge in die Werkstatt müssen, damit die Schummel-Software verschwindet. Bei einigen Motorenwerden die Techniker selbst Hand anlegen müssen. Eine Rückruf-Aktion, so wird es am nächsten Tag bekannt werden, soll 2016 starten. Die geschäftlichen und finanziellen Folgender Krise sind nicht absehbar. Die Kosten der Abgas-Affäre werden jedoch enorm sein. Der neue Chef muss sparen: "Deshalbstellen wir jetzt alle geplantenInvestitionen nochmal auf denPrüfstand", kündigt Müller an.
Das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) ordnet einen verpflichtenden Rückruf aller VW-Dieselautos mit der Betrugssoftware an. In ganz Europa müssen 8,5 Millionen, in Deutschland 2,4 Millionen Wagen in die Werkstatt. VW hatte eine freiwillige Lösung angestrebt.
Der Skandal beschert dem Konzern im dritten Quartal einen Milliardenverlust. Vor Zinsen und Steuern beläuft sich das Minus auf rund 3,5 Milliarden Euro.
Der Skandal erreicht eine neue Dimension. VW muss - nach weiteren Ermittlungen der US-Behörden - einräumen, dass es auch Unregelmäßigkeiten beim Kohlendioxid-Ausstoß (CO2) gibt. Rund 800.000 Fahrzeuge könnten betroffen sein. Die VW-Aktie geht erneut auf Talfahrt.
Der Diesel-Skandal in den USA weitet sich aus. Erneut. Es seien mehr Drei-Liter-Diesel der Marken Volkswagen und Audi betroffen, als bislang angenommen, erklärt die US-Umweltbehörde EPA. Die Autobauer bestreiten dies zunächst. Wenige Tage später, am 24. November, müssen sie allerdings einräumen, ein sogenanntes „Defeat Device“ nicht offengelegt zu haben. Die Software gilt in den USA als illegal.
Die Auswirkungen des Skandal zwingen VW zudem zum Sparen: VW fährt die Investitionen für das kommende Jahr runter. 2016 sollen die Sachinvestitionen um eine Milliarde Euro verringert werden. „Wir fahren in den kommenden Monaten auf Sicht“, sagt VW-Chef Müller. Weitere Ausgaben bleiben auf dem Prüfstand.
Neuer Ärger für Volkswagen: Die Staatsanwaltschaft Braunschweig ermittelt nun auch wegen mögliche Steuerhinterziehung im Zusammenhang mit falschen CO2-Angaben. Die könnten dazu geführt haben, dass zu wenig Kfz-Steuer gezahlt wurde.
Zumindest etwas Positives für die Wolfsburger: Zur Nachrüstung der millionenfach manipulierten Dieselmotoren mit 1,6 Litern Hubraum in Europa reicht nach Angaben von Volkswagen ein zusätzliches, wenige Euro teures Bauteil aus. Bei den 2,0-Liter-Motoren genügt ein Software-Update. Das Kraftfahrtbundesamt genehmigt die Maßnahmen. Auch wenn VW keine Angaben zu den Kosten macht – es hätte schlimmer kommen können.
Streitkultur initiieren – das ist leichter gesagt als getan. In der Praxis empfinden alle Beteiligten das ganze Gruppen-Procedere als lähmend. Da ist die Rede von Einzelkämpfern, die sich profilieren wollen; von Konkurrenzkämpfen, die der Sache schaden; von faulen Kompromissen; von Zeitvergeudung und halbherzigen Zustimmungen.
Wenn die Diskussion in Gruppen zum Konsens führen soll, dann geht es – entgegen der landläufigen Meinung – nicht herrschaftsfrei zu. Die Leitung ist als Ordnungsfaktor des Geschehens unverzichtbar. Elitäre, kooperative und autoritäre Stilelemente sind gleichermaßen wichtig. Aber immer zur rechten Zeit und in geeigneter Dosierung.