Beginnen wir mit den Niederungen des deutschen Projektalltags: Ein Retail-Konzern, 140.000 Mitarbeiter. Das IT-System mit mehr als 17.000 PCs in rund 10.000 Filialen ist in die Jahre gekommen. Dem Management schwebt ein komplett neues System vor. Es soll auf einem optimierten Prozessdesign aufsetzen und zusätzliche Funktionen wie etwa eine revisionssichere Abrechnung mit Dienstleistern integrieren.
Nicht nachgedacht? Kostet 40 Millionen Euro
Ausgiebig befasst man sich mit der geplanten neuen IT-Welt – und verliert zu wenige Gedanken an den zweiten, mühseligen Schritt: Wie soll der Weg der Veränderung aussehen, wie kommt man vom Ist- zum Soll-Zustand – und wie kann man die rund 40.000 Anwender auf diesem Weg mitnehmen?
Zur Person
Christian Dürk ist Vorstand der Corivus AG, die sich als mittelständisches Beratungshaus auf IT-Projekte spezialisiert hat.
So startet das Projekt völlig unrealistisch. Alle Liefertermine und Meilensteine der Entwicklungspartner sind schließlich überschritten, wirklich sichtbare Ergebnisse gibt es noch keine. Der Konzern verbrennt 40 Millionen Euro, bevor es gelingt, das Projekt in eine realistische Bahn zu steuern.
Ein Beispiel aus dem Horrorkabinett der Projekte. Die Reihe lässt sich beliebig fortsetzen. Etwa mit prominenten Fällen wie dem Mautsystem Toll Collect, dem Berliner Flughafen, der Elbphilharmonie oder dem Bahnhof Stuttgart 21. Oder einer unglaublich hohen Dunkelziffer an Unternehmensprojekten, die leise vor sich hin gären, einen immensen wirtschaftlichen Schaden verursachen und nur aufgrund ihrer weniger ausgeprägten Prominenz nicht transparent werden.
So unterschiedlich die Fälle sind, die tieferen Ursachen für das Desaster ähneln sich fast immer: Es liegt an den allzu ehrgeizigen Vorstellungen des Auftraggebers, häufig noch verbunden damit, dass der in einer Organisation vorhandene gesunde Menschenverstand zu wenig genutzt wird.
Der Ehrgeiz des Auftraggebers wird zum Projektrisiko
Im Falle des Retail-Konzerns war es der Ehrgeiz des Managements, der das Projekt in Schieflage brachte: Man wollte etwas ganz Neues und Tolles schaffen und scheiterte an der Komplexität der Umsetzung. Bei öffentlichen Projekten wie Toll Collect, Flughafen Berlin oder Stuttgart 21 treiben zudem Wahlversprechen und politisch motivierte Wunschvorstellungen die Anforderungen in die Höhe. Gleichzeitig wird der Aufwand kleingerechnet, weil das Vorhaben nur so eine Chance auf Akzeptanz erhält. Am Ende bestimmen unrealistische Erwartungen den Einstieg, von dem die Fachleute intern bereits wissen, dass es so nicht funktionieren kann.
Vielleicht liegt der tiefere Grund auch in der DNA der Deutschen, in jener deutschen Ingenieurkunst, mit der wir der Welt zeigen wollen, dass wir in bestimmten Bereichen die Besten sind. Einen Flughafen bauen wir nicht einfach so, dass er funktioniert. Vielmehr wollen wir den coolsten Flughafen aller Zeiten bauen – und planen ihn deshalb größer und komplizierter als notwendig. Oder Stuttgart 21: Man nehme einen Bahnhof, drehe ihn um 90 Grad, setze ihn gleichzeitig unter die Erde. Und das bei laufendem Betrieb. Wir formulieren großartige Ideen, blenden aber wesentliche Aspekte aus, die der Umsetzung im Wege stehen.
Lassen Sie Gefühle aus Projekten raus
Krasser Ehrgeiz und ein gewisser Hang zur Perfektion zeigen sich auch in vielen Unternehmensprojekten. Dort drücken sie sich aus in typischen Forderungen von Auftraggebern wie etwa im Beispiel eines Logistikunternehmens: „Wir werden in den nächsten zwei Jahren zur ersten volldigitalen Spedition der Welt“.
Tatsächlich fehlten in dem Unternehmen einheitliche Prozesse und Systeme – und die Kultur erinnerte eher an eine Amtsstube vor 50 Jahren als an digitalen Aufbruch. Wie sollte das funktionieren?
Das Projekt versachlichen
Versachlichen, unrealistische Ziele revidieren, Illusionen nehmen – hierin liegt der zentrale Hebel, um ein Projekt doch noch zu drehen. Bewährt hat sich in vielen Fällen eine schnell eingeleitete Bestandsaufnahme:
- Wie sah der Projektplan, wie die Zielsetzung zu Projektbeginn aus?
- Was wollte man ausgeben, was entwickeln?
- Was hat man tatsächlich ausgegeben und entwickelt?
Nüchterne Fakten helfen, eine oft emotional aufgeheizte Situation zu versachlichen. Meistens lassen sich die Auftraggeber überzeugen, das Projekt unter nunmehr realistischen Annahmen neu aufzusetzen.
Im Kern geht es darum, die Grundannahmen zu hinterfragen. Löst zum Beispiel das vorgesehene Projektziel tatsächlich das Problem, um das es geht? Sind bei der Projektplanung alle wesentlichen Aspekte berücksichtigt? Es empfiehlt sich, die grundlegenden Annahmen im Gegenstromverfahren abzusichern. Führen Top-Down-Planung durch das Management und Bottom-Up-Schätzung des Projektteams zu ähnlichen Zeit- und Kostengrößen, dürften die Werte ziemlich valide sein.
Vergessen Sie nicht, alle einzubinden
Zu den ehrgeizigen Zielen des Auftraggebers kommt in vielen Unternehmen eine noch sehr hierarchische Projektführung hinzu, die das Risiko zusätzlich erhöht. Die eher geschlossene Projektorganisation lässt einen übergreifenden Wissensaustausch nur bedingt zu; der gesunde Menschenverstand aller in der Organisation wird zu wenig genutzt. Während daher das Projektteam akribisch seinem Plan folgt und die Aufgabenpakete abarbeitet, übersieht es Banalitäten, die dem ganzen Vorhaben zum Verhängnis werden können.
Da hatte zum Beispiel das Projektteam bei einem IT-Projekt den Zeitplan vorbildlich eingehalten. Das Softwaredesign wurde erstellt, die Software entwickelt – alles perfekt. Doch man vergaß, das Testteam für den Test der Software rechtzeitig einzubinden. Daran wäre das Projekt beinahe gescheitert. In einem andern Fall entwickelte man die Software, arbeitete das Schulungskonzept aus, stand fast vor dem Projektabschluss, hatte es aber versäumt, den Betriebsrat einzubeziehen. Die Wogen schlugen hoch, das Projekt verzögerte sich um sechs Monate.
Und auch im Kleinen passiert genau das. Unvergessen bleibt der Fall einer Weihnachtsfeier, die ihren würdigen Platz im Horrorkabinett der Projekte gefunden hat. Einem renommierten Fußballverein ist es über eine Beziehung gelungen, eine Star-Pianistin aus New York zu gewinnen. Ein kleines Projektteam bereitet die Feier vor. Minutiös, bis ins letzte Detail. Nichts soll schiefgehen. Die Sensation spricht sich herum: eine Pianistin aus New York!
Sie kommt tatsächlich. Erwartungsvolle Stille im Saal. Sie greift in die Tasten – und bricht nach wenigen Takten das Konzert ab. Man hat vergessen, das Instrument zu stimmen.
Da im Organisationsteam niemand auch nur ansatzweise etwas von Konzerten verstand, hatte sich keiner um das Instrument gekümmert. Hätte man andere gefragt und so das dezentral im Unternehmen vorhandene Wissen genutzt, ziemlich sicher hätte jemand gefragt: Was ist eigentlich mit dem Klavier?