Es ist kurz vor Feierabend. Der Mitarbeiter hat seinen Computer heruntergefahren. Doch dann tritt der Chef an seinen Schreibtisch – mit einer umfangreichen Aufgabe, die noch am selben Tag und möglichst schnell erledigt werden muss. In dem Mitarbeiter steigt Wut auf. Schließlich ist es nicht das erste Mal, dass der Vorgesetzte ihm Überstunden aufbrummt. Er fühlt sich schikaniert – von seinem Chef gemobbt.
Selbst wenn der Vorgesetzte seinen Mitarbeiter tatsächlich ärgern wollte – von Mobbing kann man in einer Situation wie dieser noch längst nicht sprechen, denn: "Nur weil der Chef vielleicht einmal einen schlechten Tag hat und seinen Mitarbeiter wie in dieser Situation ungerecht behandelt, handelt es sich nicht direkt um Mobbing", sagt Karriereberaterin Ute Bölke.
Denn nach der Rechtsprechung der Arbeitsgerichte handelt es sich um Mobbing erst, wenn mehrere Bedingungen gleichzeitig erfüllt sind. "Es muss eine Täter-Opfer-Konstellation vorliegen und das Verhalten muss sich über einen längeren Zeitraum kontinuierlich fortsetzen. Zudem muss es systematisch und zielgerichtet sein und auf die Verletzung des Persönlichkeitsrechts oder der Gesundheit des Betroffenen abzielen", sagt André Kasten, Arbeitsrechtler bei der Kanzlei Abeln. Der Chef muss also das klare Ziel vor Augen haben, den Mitarbeiter aus dem Unternehmen zu drängen. Liegen aber mehrere Monate zwischen den Attacken, halten sie nur über wenige Wochen an oder intrigieren mehrere Kollegen unabhängig voneinander gegen die Person, handelt es sich juristisch meist nicht um Mobbing.
So stellen Sie fest, ob die Arbeitsqualität stimmt
Können die Beschäftigten Einfluss auf die Arbeitsmenge nehmen?
Ist es ihnen möglich, die Gestaltung ihrer Arbeitszeit zu beeinflussen?
Können sie ihre Arbeit selbstständig planen?
Quelle: Gute-Arbeit-Index 2015
Bietet der Betrieb berufliche Weiterbildungsmöglichkeiten?
Können die Beschäftigten eigene Ideen in ihre Arbeit einbringen? Ihr Wissen und Können weiterentwickeln?
Haben Sie Aufstiegschancen?
Gibt es Wertschätzung durch Vorgesetzte? Hilfe von Kolleginnen?
Ein offenes Meinungsklima? Wird rechtzeitig informiert? Planen die Vorgesetzten gut?
Wird Kollegialität gefördert?
Haben die Beschäftigten den Eindruck, dass sie mit ihrer Arbeit einen wichtigen Beitrag für die Gesellschaft leisten? Einen wichtigen Beitrag für den Betrieb?
Identifizieren sie sich mit ihrer Arbeit?
Wird am Wochenende gearbeitet? In den Abendstunden? In der Nacht?
Wird von den Beschäftigten erwartet, ständig für die Arbeit erreichbar zu sein?
Leisten sie auch unbezahlte Arbeit für den Betrieb?
Sind die Beschäftigten respektloser Behandlung ausgesetzt?
Müssen sie ihre Gefühle bei der Arbeit verbergen?
Kommt es zu Konflikten oder Streitigkeiten mit Kund/innen, Patient/innen, Klient/innen?
Muss in ungünstigen Körperhaltungen gearbeitet werden? Bei Kälte, Nässe, Zugluft?
Müssen die Beschäftigten körperlich schwer arbeiten?
Sind sie bei der Arbeit Lärm ausgesetzt?
Widersprüchliche Anforderungen und Arbeitsintensität?
Gibt es Arbeitshetze? Unterbrechungen des Arbeitsflusses? Schwer zu vereinbarende Anforderungen?
Werden alle arbeitswichtigen Informationen geliefert?
Müssen Abstriche bei der Qualität der Arbeitsausführung gemacht werden?
Wird die Arbeit leistungsgerecht bezahlt?
Hat das Einkommen ein Niveau, dass sich davon leben lässt?
Wird die Rente, die sich aus der Erwerbstätigkeit ergibt, später zum Leben reichen?
Gibt es ausreichend Angebote zur Altersvorsorge im Betrieb?
Werden Maßnahmen zur Gesundheitsförderung offeriert?
Werden Sozialleistungen geboten, z.B. Kinderbetreuung, Fahrtkosten- oder Essenszuschüsse?
Beschäftigungssicherheit / Berufliche Zukunftssicherung?
Sind die Beschäftigten in Sorge, dass ihr Arbeitsplatz durch technische Veränderungen oder Umstrukturierungen überflüssig wird?
Machen sie sich Sorgen um ihre berufliche Zukunft? Um den Arbeitsplatz?
Dementsprechend schwer ist es für Betroffene, Diskriminierung am Arbeitsplatz nachzuweisen. "Letztlich kann ein Chef aus juristischer Sicht alles mit seinem Mitarbeiter machen, wenn keine Zeugen dabei sind", meint Karriereexpertin und Psychotherapeutin Madeleine Leitner, die seit mehr als 20 Jahren mit Mobbing-Opfern zu tun hat. Die Palette der Sticheleien sei unendlich. Aus ihrer jahrzehntelangen Erfahrung als Psychotherapeutin weiß sie, dass einigen Chefs alle Methoden recht sind, um einen Mitarbeiter fertig zu machen: Manche stellen ihren Angestellten unlösbare Aufgaben, um sie abschließend abzumahnen – da sie ihren Job angeblich nicht gescheit gemacht haben. Andere Chefs entziehen hingegen ihren Mitarbeitern die Aufgaben, sodass sie gar nichts mehr zu tun haben, aber den ganzen Tag anwesend sein müssen. Auch beliebt: Mitarbeiter an der kurzen Leine halten und jeden Handschlag überwachen.
"Sie sind ja empfindlich"
Und sogar die brüllenden Chefs gibt es laut der Expertin noch. "Selbst in den oberen Chefetagen vieler Unternehmen gibt es heute noch Führungskräfte, die ihre Mitarbeiter anschreien – auch wenn man das kaum glauben mag", sagt Leitner. Diese direkte Methode des Mobbings kratzt genauso am Selbstwertgefühl eines Mitarbeiters, wie indirekte Strategien: zum Beispiel den Mitarbeiter klein machen. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn der Chef seinem Angestellten Erfolge nicht zugesteht und behauptet, dabei handele es sich um einen Zufall – oder ihn vor versammelter Mannschaft mit den Worten "Sie sind ja empfindlich" regelmäßig als labilen Menschen darstellt.
All diese Dinge gibt es vermutlich, seit es Arbeitsverhältnisse gibt. Doch laut Leitner tauchte der Begriff Mobbing erst Mitte der 90er-Jahre als solcher auf und war zu dieser Zeit noch verpönt. "Der Übergang zwischen politischen Machtspielchen auf der Arbeit und richtigem Mobbing sind mittlerweile fließend. Heute ist Mobbing leider schon eine Art Volkssport in Unternehmen geworden", sagt Leitner.
Und die Zahlen geben der Expertin recht: Die Krankenversicherungsagentur Pronova BKK hat im März mehr als 1600 Deutsche zu ihren alltäglichen Arbeitsbelastungen befragt: Mehr als jeder Fünfte (22 Prozent) gab an, dass ihn Mobbing am Arbeitsplatz belastet – sei es durch den Chef oder die Kollegen. "Heutzutage müssen Mitarbeiter wachsam sein und mit Mobbing am Arbeitsplatz rechnen", sagt Leitner. Dabei sei es von Vorteil, die Waffen zu kennen, mit denen Chefs kämpfen.
Doch Karriereberaterin Bölke weiß, dass viele Mitarbeiter erst einmal an ihrer eigenen Empfindung zweifeln, weil das Mobbing anfangs eher im kleinen Kämmerchen stattfindet: sarkastische Kommentare, der Mitarbeiter wird aus dem E-Mail-Verteiler gelöscht, ein feindlicherer Ton in Vier-Augen-Gesprächen mit dem Chef. "Die Betroffenen fühlen sich, als würden sie plötzlich eine andere Brille tragen, durch die sie ihre Umwelt vollkommen anders wahrnehmen." Dann setzt die Selbstentwertung ein: Der Mitarbeiter stellt seine Fähigkeiten und sich selbst in Frage.
Das können Sie gegen mobbende Chefs tun
In diesen Situationen hilft es nach Ansicht von Bölke in erster Linie, mit Vertrauten über diese Attacken zu reden, um festzustellen, dass mit der Selbstwahrnehmung alles in Ordnung ist – und dann hilft meist nur der Weg an die Öffentlichkeit. Um aber auch glaubwürdig vor Betriebsrat, Arbeitgeber oder Arbeitsgericht zu erscheinen, empfehlen Kasten und Bölke, ein Mobbing-Tagebuch zu führen. "Alle Kleinigkeiten, vom bloßen Ignorieren übers Ausgrenzen bis hin zum Titelentzug oder Versetzung, sollten bei einem Verdacht vom Betroffenen schriftlich festgehalten werden, damit hinter dem Vorgehen des Vorgesetzten eine Systematik erkennbar wird und im Zweifel auch beweisbar wird", sagt Kasten. Aber auch Besuche beim Hausarzt, Therapeut oder Mobbingberater gehören in die Dokumentation.
Wenn der Mitarbeiter die Attacken über einen längeren Zeitraum schriftlich festgehalten hat, hat der Gemobbte mehrere Möglichkeiten: Er kann beim Betriebsrat eine Beschwerde über den Chef einreichen. Der Betriebsrat muss die Beschwerde prüfen und den Arbeitgeber um Abhilfe bitten. Dieser muss laut Arbeitsrechtler seiner Treue- und Fürsorgepflicht nachgehen, indem er mit dem Chef über die Vorwürfe spricht und versucht, eine Lösung zu finden. "Der Arbeitgeber ist dazu verpflichtet, sich schützend vor den Mitarbeiter zu stellen", sagt Kasten.
Möglichkeit zwei ist, dass der Mitarbeiter sich direkt beim Arbeitgeber – also beim Personalleiter oder gesetzlichen Vertreter des Unternehmens – beschwert, sofern der Chef gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz verstößt. Das ist dann der Fall, wenn der Vorgesetzte seinen Mitarbeiter aufgrund dessen ethnischer Herkunft, dessen Glaube, Geschlecht, Alter oder sexueller Identität mobbt.
In Extremfällen, in denen der Angestellte sogar nachweisen kann, dass er seelische Verletzungen von den Attacken davon getragen oder einen Schaden erlitten hat, kann er vor dem Arbeitsgericht eine Strafanzeige stellen – und den Vorgesetzten auf Schmerzensgeld verklagen.
Arbeitsrechtler Kasten weiß allerdings, dass erfolgreiche Mobbingklagen vor Gericht die Ausnahme sind. Schließlich ist der Gemobbte in der Beweispflicht und muss darlegen, dass es sich um ein systematisch und zielgerichtetes Verhalten handelt. Als Beweise kommen das besagte Tagebuch, vor allem aber E-Mails und Zeugenaussagen von Kollegen in Frage. Das Gericht entscheidet dann aber letzten Endes, welche Beweise zugelassen werden – und ob es überhaupt Zeugen im Rahmen der Beweisaufnahme hören möchte.
Mit wem wir uns im Beruf am häufigsten streiten
Je mehr ein Mensch mit einem anderen zu tun hat, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sie aneinander geraten. Entsprechend gaben 37 Prozent der Teilnehmer an der Umfrage "Streit - erfolgreich oder folgenreich" der IHK Frankfurt an, sich häufig mit Kollegen beziehungsweise Mitarbeitern zu streiten.
Mehr als ein Drittel gab an, sich häufig mit Führungskräften zu streiten.
Ein Viertel sagte, dass sie häufig mit der Geschäftsleitung aneinander geraten.
23 Prozent streiten sich häufig mit Kunden.
Bei 14 Prozent sind Zulieferer ein häufiger Streitgrund und -partner.
Elf Prozent streiten sich häufig mit Behörden, mit denen sie beruflich zu tun haben.
Jeweils sieben Prozent gaben an, sich mit Gesellschaftern beziehungsweise Kooperationspartnern in die Haare zu kriegen.
Nur drei Prozent geraten häufig mit Kapitalgebern und Banken aneinander.
Die Beweislage für eine Rechtsprechung muss so eindeutig sein, dass selbst ein unbeteiligter Dritter hinter dem Vorgehen des Chefs ein systematisches, fortgesetztes und zielgerichtetes Verhalten erkennt. "Nur weil jemand empfindsamer ist als andere, ist bei ihm der Mobbingbegriff nicht schneller erfüllt", sagt Kasten. Allein die objektive Betrachtung sei bei der Beurteilung maßgeblich.
Allerdings rät Kasten, dass der Betroffene sich gut überlegt und zudem beraten lässt, ob er die Öffentlichkeit einweihen und tatsächlich dagegen vorgehen will. Schließlich kann der Arbeitgeber ihm im schlimmsten Fall kündigen, sollte sich herausstellen, dass die Anschuldigungen haltlos sind. Und: "Wenn die Anschuldigungen einmal ausgesprochen sind, ist das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und -nehmer angekratzt und nicht mehr von einem gegenseitigen Vertrauen geprägt", sagt Kasten.
Bevor es jedoch so weit kommt, rät Leitner Betroffenen dazu, die Reißleine zu ziehen – und das Unternehmen zu verlassen, bevor das Ego angekratzt und nachhaltig beschädigt ist.
Bölke stimmt ihrer Kollegin zu – mit einer Einschränkung: "Mitarbeiter sollten über eine berufliche Veränderung nachdenken, wenn sich keine interne Lösung in einem absehbaren Zeitraum abzeichnet und auch keine Unterstützung seitens des Unternehmens zu erwarten ist." Aber selbst in solchen Situationen sollen Betroffene sich einen juristischen Rat holen und den Ausstieg verhandeln.