Mary Barra, die künftige Chefin von General Motors hat eine Karriere hingelegt, die für eine Frau immer noch untypisch ist. Aber wer in Detroit als Tochter eines bei GM arbeiteten Werkzeugmachers aufwächst, hat wahrscheinlich auch keine Chance, der Autoindustrie zu entgehen. Die heute 51-jährige Absolventin der (von GM gegründeten und finanzierten) Kettering University in Flint arbeitete als Elektroingenieurin in einer Autofabrik der Marke Pontiac, leitete nach einem Zweitstudium der Betriebswirtschaft erst die Personalabteilung, dann eine komplette Autofabrik in Detroit. Sie wurde erst Assistentin des ehemaligen GM-Chefs Jack Smith, dann mit der Leitung der gesamten Pkw-Produktion betraut. Sie kümmerte sich um die Qualitätssicherung, um Entwicklung und Design und schließlich auch noch um Einkauf und Teileversorgung des Gesamtkonzerns – und zog, ganz nebenbei, auch noch zwei Kinder groß.
General Motors wird ab Sommer kommenden Jahres wieder von einem Manager geleitet, der den Autokonzern in den zurückliegenden 33 Jahren in beinahe allen Winkeln kennengelernt hat – als Aufsichtsrätin übrigens auch die europäische Tochter Opel. Unter anderem entschied sie, den Opel Insignia in den USA als Buick Regal zu verkaufen. Die Personalie, die der amtierende Konzernchef Dan Akerson diese Woche bekanntgab, ist umso bemerkenswerter, als damit erstmals in der Geschichte der Autoindustrie erstmals eine Frau die operative Gesamtverantwortung über einen Automobilhersteller bekommt. Der Kulturwandel, den Akerson dem Konzern nach der Beinahe-Pleite 2009 verordnet hatte, findet damit seine vorläufige Krönung. Der Wandel hat Vorbildcharakter auch für die deutsche Autoindustrie , in der Frauen mit Führungsaufgaben immer noch Ausnahmeerscheinungen sind – der Vorstand des VW-Konzerns ist immer noch ein reiner Männerclub, bei Daimler und BMW gibt es mit Christine Hohmann-Dennhardt (zuständig für Recht) und Milagros Carreiro-Andree (zuständig für Personal) lediglich zwei Alibi-Frauen im obersten Führungszirkel.
General Motors ist da schon wesentlich weiter. Im aktuellen Opel-Vorstand sitzen mit Tina Müller (Marketing) und Susanna Webber (Einkauf) zwei Frauen in Schlüsselpositionen. Und Elvira Tölkes leitet seit zwei Jahren das Opel-Werk in Kaiserslautern. Rita Forst war als Entwicklungschefin sogar einige Jahre lang Chefin über die rund 6000 Ingenieure des Unternehmens und zuständig für das „Gehirn“ des Autoherstellers, das Forschungs- und Entwicklungszentrum.
Stationen in der Karriere von Tina Müller
1993 schrieb sie ihre Diplomarbeit bei L´Oréal Deutschland
1993-1995 Zunächst Junior Produktmanagerin und dann Produktmanagerin bei Wella
1995-2012 Managerin in verschiedenen Positionen bei Henkel. Zuletzt verantwortete Müller dort die Marken Schwarzkopf, Diadermine und Theramed
Überrascht – das waren auch Branchenexperten und Bekannte von Tina Müller, als ihr Wechsel zu Opel bekannt wurde. Hatte doch nach ihrem Abgang bei Henkel zunächst alles so ausgesehen, als ob die Marketingspezialistin dem Geschäft mit der Schönheit treu bliebe. Beiersdorf hatte ihr den Vorstandsposten für Marke, Forschung und Entwicklung angeboten, zu gerne hätte Müller angenommen. Henkel-Chef Kasper Rorsted aber pochte auf eine Wettbewerbsklausel in ihrem Vertrag und verhinderte den Wechsel zur Konkurrenz. Ein Neustart musste also her – von null auf hundert.
„Radikaler hätte dieser Schritt kaum sein können“, sagt Martin Stemmler, bei der Personalberatung Korn Ferry für die europäische Autoindustrie zuständig. „Für beide Seiten.“
Natürlich, es hat zuletzt immer wieder Frauen gegeben, die den Sprung in die oberste Führungsebene von techniklastigen Unternehmen geschafft haben. Befeuert durch die seit Jahren anhaltende Diskussion um die gesetzliche Frauenquote, waren zahlreiche Unternehmen in die Offensive gegangen: Siemens hatte bis vor wenigen Wochen gleich zwei Managerinnen im Vorstand, bei BMW hat es Milagros Caiña-Andree ebenso in die Top-Etage der Macht geschafft wie Christine Hohmann-Dennhardt bei Daimler. Und Ines Kolmsee sitzt seit neun Jahren an der Spitze des mittelständischen Spezialchemieherstellers SKW.
Doch bei näherem Hinsehen wird deutlich: Wenn auch auf höchster Ebene, so kümmert sich das Gros der Frauen in der Regel um Themen, die von den männlichen Kollegen gern als Gedöns abgetan werden – also Personal, Unternehmenskultur, Compliance und Integrität.
Quereinsteigerin
Hinzu kommt: Während die neue Bundesregierung sich darauf geeinigt hat, ab 2016 zumindest in Aufsichtsräten jeden dritten Platz für eine Frau zu reservieren, sind viele der anfangs mit großem Tamtam auf ihre Position gehievten Frauen schon wieder von ihren Vorstandsposten verschwunden. Die Frauenquote im Dax liegt laut einer aktuellen Studie des DIW bei nur 6,3 Prozent. Und ist damit erstmals seit fünf Jahren rückläufig.
Umso mehr sticht der jüngste Karriereschritt Tina Müllers heraus: eine Frau, die als Marketingvorstand mitten drin ist im operativen Geschäft. Die aus der frauenaffinen Kosmetikbranche in die deutsche Automobilwirtschaft wechselt – also in eine Branche, die Quereinsteigern bislang kaum Chancen gab, in verantwortungsvollen Positionen Fuß zu fassen – egal, ob Mann oder Frau.
Fremde Branche
Auch bei Opel sind außer Müller alle Vorstandsmitglieder, die in diesem Jahr des Umbruchs ihren Dienst in Rüsselsheim antraten, mit Pferdestärken, Keilriemen und Lichtmaschinen vertraut. CEO Karl-Thomas Neumann kam im Frühjahr von Volkswagen, Vertriebsvorstand Peter Christian Küspert arbeitete unter anderem 19 Jahre für Daimler, der oberste Personaler Ulrich Schumacher zuvor für Toyota, Kommunikationschef Johan Willems ist seit mehr als 20 Jahren bei Opel und General Motors. Ob Vorstand oder Händler, ob Konkurrenten oder Kunden – alle blicken auf Auto-Novizin Müller. Wie schlägt sie sich in der fremden Branche? Welche Kompetenzen bringt sie mit? Wie eignet sie sich neue an?
Gründe genug auch für die WirtschaftsWoche, Müllers Weg in den kommenden Monaten zu beobachten: ihre Fortschritte und Fehltritte, ihre Gespräche mit Werbeagenturen, ihr Auftreten gegenüber Mitarbeitern, Vorstandskollegen, Händlern.
Ein paar von ihnen haben Müller schon kennengelernt, ohne es zu ahnen. Als Vorbereitung auf ihre neue Stelle hat Müller nämlich nicht nur alles gelesen, was ihr zu Opel in die Finger kam – vom Fahrtest über Bilanzen bis hin zu Fachartikeln. In Autohäusern in Hamburg und Düsseldorf war sie noch vor Vertragsabschluss inkognito unterwegs. Hat sich den Mokka zeigen lassen, ist dann den Adam Probe gefahren, um sich anschließend über den Insignia zu informieren. Bis der Verkäufer fragte, ob sie denn überhaupt wisse, was sie wolle.
Alle paar Wochen ein neues Auto
Sie wusste es: Opel-Marketingvorstand werden und vorab möglichst viel über die Modelle erfahren. Bis heute wechselt sie alle paar Wochen das Auto. Im Moment fährt sie einen anthrazitfarbenen Mokka mit 140 PS und Automatikgetriebe.
„Vor ein paar Monaten hätte Tina vielleicht nicht auf Anhieb sagen können, welcher Audi in ihrer Garage steht“, sagt Hans-Willi Schroiff, der Müller aus der gemeinsamen Zeit bei Henkel kennt und der gerade mit ihr das Buch „Warum Produkte floppen“ veröffentlicht hat. „Jetzt überrascht sie mich mit Wissen über Branchenstruktur und Motorisierungsklassen.“
Wissen, das sich Müller hart erarbeiten musste und immer noch muss. „Die ersten paar Wochen bei Opel waren Neuland für mich“, erinnert sich Müller. „Aus den vielen englischsprachigen Abkürzungen entsteht eine eigene Sprache, das ist wie Vokabeln lernen.“
Reifen wechseln
Aber nicht nur der Kopf ist gefragt: Gemeinsam mit ihren Vorstandskollegen wechselte die Betriebs- und Volkswirtin vor einigen Wochen zum ersten Mal in ihrem Leben eigenhändig Reifen. Auch den Führerschein für das Testgelände im hessischen Dudenhofen hat sie schon in der Tasche. Gibt aber auch offen zu, dass sie sich mehr für Farben und Design als für technische Details begeistert. Nicht zwangsläufig ein Nachteil: „Schließlich muss das Marketing als Stimme des Kunden darauf achten“, sagt ein Händler zu Müllers Verpflichtung, „dass unnötiger Technik-Schnickschnack das Auto nicht zu teuer macht.“
Diesen Kundenblick hat sich Müller bewahrt: Weist darauf hin, dass Frauen beim Aussteigen aus einem Opel Cascada mit ihrem Stiefelschaft am Sitz hängen bleiben. Dass es mit Schuhgröße 38 beim selben Auto schwierig ist, vom Gas auf die Bremse zu wechseln, weil die Pedale unterschiedlich hoch eingestellt sind.
Zweite Frau im Vorstand
Nach Susanna Webber, zuständig für Einkauf und Logistik, ist Müller die zweite Frau im Vorstand der Rüsselsheimer. „In den oberen Etagen waren auch bei Henkel Frauen die Ausnahme“, sagt Müllers Ex-Kollege Schroiff. „Sie hat oft genug auf den Tisch gehauen und den Männern gezeigt, wo es langgeht.“ Diese Entscheidungsstärke gefalle nicht allen. „Aber das ist ihr egal.“
Auch bei Opel gibt es den einen oder anderen, der mit der dominanten Frau seine Probleme hat. Sie lasse sich nicht belehren und mische sich überall ein, heißt es. Reaktionen, die programmiert sind, wenn jemand mit vermeintlich weniger Expertise Neues ausprobieren will.
Doch es gibt genügend Menschen, die an Müller und ihre Konzepte glauben. „Sie ist eine ausgewiesene Expertin auf ihrem Gebiet“, sagt Personalberater Stemmler. „Und in der Lage, ihr Wissen auf eine andere Branche zu übertragen.“
Aufregendes Image
Müllers primäres Ziel: der langweiligen, angestaubten Marke ein aufregendes, unverwechselbares Image verpassen. Genau wie sie es einst mit Schwarzkopf machte. Oder einen Coup landen wie mit Syoss, einer von ihr neu etablierten Haarpflegeserie, die Friseurqualität zu kleinen Preisen verspricht. „Letztlich geht es bei Opel um den gleichen Kniff“, sagt Müller. „Die Fahrzeuge müssen nach Premiumklasse aussehen und trotzdem erschwinglich bleiben.“
Das kommt an, auch ganz oben: Im Oktober hatte der Aufsichtsrat von Opel-Mutter General Motors Müllers Marketingkonzept für gut befunden. Und auch im Vorfeld der Vertragsunterzeichnung haben die US-Kollegen der Deutschen deutlich gemacht, dass sie sie unbedingt haben wollen. Stephen Girsky, GM-Strategiechef und einstiger Opel-Interims-CEO, war bei Müllers erstem Besuch in Detroit zweimal mit ihr essen – am ersten Abend in einer Burgerbude. „Vielleicht wollte er wissen, ob ich mir für so ein Restaurant zu chic bin und gleich wieder rausrenne.“
Ein offenbar überflüssiger Test. „Mit dem Herzen war sie sofort bei Opel“, erinnert sich eine Freundin – auch wenn Müller damals noch über ein Angebot aus der Luxusindustrie nachdachte. Doch sie entschied sich für den Schnitt.
Kreidebleich, aber tapfer
Von der Kosmetikbranche nabelte sie sich während ihrer einjährigen Auszeit weitgehend ab. Statt sich im Netz über L’Oréal, Procter & Gamble oder Beiersdorf zu informieren, gehören heute „Autobild“, „ADAC Motorwelt“ und die „Automobilwoche“ zu ihrer Pflichtlektüre. Müller, die nach 17 Jahren bei Henkel eins geworden schien mit dem Dax-Konzern, meint längst Opel, wenn sie in Wir-Form von ihrem Arbeitgeber spricht. Und twittert aus einem Parkhaus ein Foto von einem alten Opel Rekord, der ihr vor ein paar Monaten vermutlich nicht mal aufgefallen wäre.
„Als der neue Monza vor der IAA im Opel-Designcenter enthüllt wurde, hatte ich Gänsehaut“, sagt Müller. „Das hätte ich vor ein paar Monaten nicht für möglich gehalten.“
Vor Kurzem stieg die Managerin sogar freiwillig in den Renn-Corsa von Opel-Sportchef Volker Strycek. Mit bis zu 200 Kilometern pro Stunde rast der ehemalige Rennfahrer mit Müller auf dem Beifahrersitz durch die 73 Kurven der Nürburgring-Nordschleife – ein achtminütiger Höllenritt. Aber Müller bleibt tapfer, bittet Strycek weder langsamer zu fahren noch anzuhalten. „Die Blöße wollte ich mir nicht geben“, sagt Müller, die das Auto nach überstandener Fahrt kreidebleich und auf wackeligen Beinen verlässt. „Diese Aufnahmeprüfung habe ich schon mal bestanden.“