Je bekannter jemand ist, desto öfter wird er nach Erfolgsgeheimnissen gefragt. Sandra Bullock ist eine der berühmtesten Schauspielerinnen der Welt, daher muss sie häufig darüber Auskunft geben: „Solange ich das Gefühl habe, mein Bestes zu geben, bin ich damit zufrieden", sagte die 49-Jährige kürzlich. „Früher wollte ich perfekt sein, aber damit macht man sich kaputt.“
Die Aussage mag überspitzt sein, doch sie hat einen wahren Kern.
Schon merkwürdig: Das Wort „perfekt“ geht zurück auf das lateinische Verb „perficere“, was so viel heißt wie „vollenden“. Heute hingegen assoziieren Menschen damit vor allem etwas Makelloses, Einwandfreies, Vollkommenes. Daher brüsten sich erfolgreiche Menschen gerne mit Perfektionismus – egal ob Politiker, Manager, Sportler oder Künstler. Damit wollen sie ihren Ehrgeiz verdeutlichen; den Eindruck erwecken, stets alles unter Kontrolle und im Griff zu haben. Und sich vielleicht auch das Image des Überfliegers verleihen, dem das Beste gerade gut genug ist.
Besonders hierzulande ist diese Attitüde weit verbreitet. „In den USA freuen sich alle, wenn ein Projekt zu 80 Prozent gelungen ist“, sagte vor einigen Jahren Bayer-Chef Marijn Dekkers. „Wenn dagegen in Deutschland ein Projekt 98 Prozent erreicht, fragen sich alle noch, woran es bei den restlichen zwei Prozent hakt.“ Wer das Haar sucht, dem entgeht die Suppe.
Damit deutete der gebürtige Niederländer bereits das Problem der Perfektionisten an. Sie sind nicht erfolgreicher. Im Gegenteil.
Zugegeben, es gibt Berufe, in denen jeder noch so kleine Fehler fatale Folgen hat. Wer sich unters Messer legt, hofft darauf, dass sein Chirurg nicht den kleinsten Fehler macht. Niemand will ein Auto fahren, dessen Ingenieur bei der Konstruktion der Bremsen geschlampt hat. Oder sich in ein Flugzeug setzen, dessen Pilot es bei der Landung nicht ganz so genau nimmt.
Doch immer wenn es nicht um Leben und Tod geht, ist Perfektionismus problematisch und hinderlich. Für die Produktivität und Kreativität, aber auch für die eigene Gesundheit und Zufriedenheit.
Frustration statt Perfektion
Über die Geisteshaltung des Perfektionismus sinnieren kluge Menschen schon seit Jahrhunderten. „Perfektion existiert nicht“, sagte bereits im 19. Jahrhundert der französische Schriftsteller Alfred de Musset. „Nach ihr zu streben, ist die gefährlichste Art der Verrücktheit.“
Soweit würden die Wissenschaftler, die sich in den vergangenen Jahren dem Perfektionismus gewidmet haben, sicher nicht gehen. Doch ihre Erkenntnisse lassen vor allem einen Schluss zu: Häufig ist Perfektionismus nicht der Schlüssel zum Erfolg, sondern der Quell allen Übels. Er steht nicht am Anfang vieler Erfolgsgeschichten, sondern erstickt sie bereits im Keim. Wer Perfektion anstrebt, erntet häufig Frustration. Und schadet sich selbst.
Zu diesem Ergebnis kam kürzlich zum Beispiel der Psychologieprofessor Joachim Stoeber von der Universität von Kent. Für eine aktuelle Studie untersuchte der gebürtige Deutsche die Arbeitsgewohnheiten und Persönlichkeitsstruktur von 131 Angestellten. Das Ergebnis: Jene Befragten, die besonders perfektionistisch und ehrgeizig waren, zeigten bereits Anzeichen von Workaholismus.
Die Situationen kennt wahrscheinlich jeder: Der Chef lässt die Bemerkung fallen, dass die Präsentation „in Ordnung“ gewesen sei – nicht weniger, aber eben auch nicht mehr. Der eine lässt solche Bemerkungen an sich abprallen und geht trotzdem entspannt und rechtzeitig in den Feierabend. Der andere grübelt noch Stunden später drüber nach und entscheidet sich für nächtelange Überstunden, aus Angst vor dem Scheitern.
Dass eine solche Einstellung auf Dauer schadet, erklärt sich von selbst. Dass sie sogar das Leben verkürzen kann, weiß man erst seit einigen Jahren. Zu diesem Fazit kamen zumindest Prem Fry (Trinity Western Universität, Kanada) und Dominique Debats in 2009. Für ihre Studie verfolgten sie knapp sieben Jahre lang das Schicksal von 450 Personen. Und resümierten: Die Perfektionisten starben wesentlich früher.
Zugegeben, es spricht nichts dagegen, alles richtig machen zu wollen. Doch wer sich immer nur mit 100 Prozent zufrieden gibt, der gesteht sich selbst keine Fehler ein. Er traut sich nicht aus der Deckung; hat Angst, seinem Chef nicht alles Recht zu machen. Wo es an Mut und Chuzpe mangelt, entsteht nichts Neues. Die Bereitschaft zum Misserfolg macht Erfolge erst möglich.
Doch dieses Risiko wollen Perfektionisten vermeiden. Sie zerlegen jeden Arbeitsschritt am liebsten in kleinere Teilschritte. Hauptsache, alles bleibt unter Kontrolle. So richtig vorwärts kommt damit niemand.
Wohlgemerkt: Es geht nicht darum, fehlerhaft und gedankenlos zu handeln. Sondern sich immer bewusst zu sein, dass Scheitern dazugehört. Wer sich nicht mehr traut, vor die gedankliche Haustür zu treten, der wird zwar nicht nass – er verpasst aber auch den Sonnenschein.
Unbeeinflussbare Faktoren
Perfektionisten sollten sich davon verabschieden, immer und überall makellos sein zu müssen. Nicht nur, weil diese Einstellung gesünder ist. Sondern weil das Urteil darüber, ob dieses Produkt oder jene Präsentation nun perfekt ist, von vielen Faktoren abhängt. Von Faktoren, die Angestellte häufig gar nicht beeinflussen können.
Vielleicht lehnen die Kollegen Ideen nur deshalb ab, weil sie nicht selbst darauf gekommen sind. „Not-invented-here-Syndrom“ heißt das klassische Eitelkeitsphänomen, das vor allem in kreativen Berufen vorkommt. Dann nämlich, wenn die Kollegen nicht gemeinsam nach der besten Lösung suchen, sondern nur die eigene Idee bevorzugen und die anderen miesmachen. Das Kalkül dahinter: Was nicht auf dem eigenen Mist gewachsen ist, kann nicht gut sein.
In anderen Fällen hat der Chef schlechte Laune, weil er selbst unter Druck steht. Und diesen Druck reicht er nach unten weiter – indem er Vorschläge jäh zurückweist, die er in anderen Situationen vielleicht goutieren würde. Egal, wie lange und sorgfältig man daran gearbeitet hat.
Doch am heikelsten ist Perfektionismus deshalb, weil die Betroffenen häufig an den eigenen Ansprüchen scheitern. Sie wollen ständig alles zu 110 Prozent richtig machen. Auf Dauer kann das nicht gut gehen.
Zwar ist nichts dagegen einzuwenden, immer das Beste geben zu wollen und das auch von anderen zu verlangen. Doch die Grenzen zum schädlichen Perfektionismus sind fließend. Die einen fürchten sich ständig vor Fehlern, die anderen sind auf die Bestätigung anderer angewiesen, wieder andere setzen sich zu stark unter Druck.
Frauen häufiger als Männer. Zu diesem Ergebnis kam im Jahr 2009 auch Jacqueline Mitchelson von der amerikanischen Auburn Universität. Für ihre Studie legte sie 288 Angestellten umfangreiche Fragebögen vor: Immerhin 38 Prozent der Frauen hatten das Gefühl, dass ihre Leistung im Job ihren Ansprüchen nicht genügten. Den Männern ging das nur zu 24 Prozent so.
Perfektion nicht an der Zuneigung anderer messen
Der kanadische Psychologieprofessor Paul Hewitt von der Universität von British Columbia gilt als einer der weltweit führenden Perfektionismusforscher. Er erinnert sich noch gut an einen Studenten, der unter schweren Depressionen litt – vor allem verursacht durch seinen übertriebenen Ehrgeiz.
In einem Kurs wollte der Student unbedingt eine Eins Plus ergattern. Das gelang. Doch hinterher war er umso frustrierter. Denn jetzt glaubte er: Wenn er wirklich perfekt wäre, hätte er für die Note ja nicht so hart arbeiten müssen.
Hewitt entwickelte bereits in den Neunzigerjahren gemeinsam mit seinem Kollegen Gordon Flett einen Fragebogen. Diesen Test nutzen seitdem Wissenschaftler weltweit, um den Perfektionismus eines Menschen zu bemessen. Und inzwischen kristallisiert sich heraus, welcher Aspekt besonders schädlich ist.
Gefährdet sind vor allem jene Perfektionisten, die die Zuneigung anderer Menschen von ihrer Leistung abhängig machen; die irrtümlicherweise davon ausgehen, nichts wert zu sein, wenn sie nichts Überdurchschnittliches zustande bringen. Dabei ist oft das Gegenteil der Fall.
Klar, Menschen respektieren und bestaunen Höchstleistungen, Rekorde und Erfindungen. In ihr Herz schließen sie sie deswegen noch lange nicht. Niemand hat das je so schön formuliert wie die französische Schauspielerin Jeanne Moreau: „Perfektion an einem Mann kann man bewundern. Lieben kann man sie nicht.“
Auch der erfolgreiche US-Regisseur Andrew Stanton, Macher von Kassenschlagern wie „Findet Nemo“, wurde einst nach seinem Erfolgsrezept gefragt. Seine Strategie sei es immer gewesen, so schnell wie möglich falsch zu liegen, davor aber bloß keine Angst zu haben. „Man kann nicht erwachsen werden“, sagte Stanton einmal, „ohne die Pubertät zu durchleben.“