Kodak, die Foto-Ikone des Zelluloidzeitalters, verstarb 2012. In diesem Unternehmen wurde einst auch die Digitalkamera erfunden, aber als Bedrohung des bisherigen Geschäftsmodells empfunden, nicht als Chance. Deshalb wurde ihre Entwicklung nicht weiterverfolgt. Das haben dann andere gemacht.
Das Beispiel zeigt: Der Ursprung allen Scheiterns ist der Erfolg. Der Niedergang wartet gleich neben dem Aufstieg. Weil eine starke, erfolgsverwöhnte Tradition zu dem Glauben verführt, dass es so, wie es lange war, auch noch lange sein wird. Das galt in Deutschland für Nixdorf, wo man vor lauter nachkriegszeitlichem Schulterklopfen nicht bemerkte, dass man zwischen Großrechner und PC zerquetscht wurde; das galt für AEG, für Grundig, Holzmann, Quelle, Karstadt, Märklin, Schiesser, Rosenthal, Escada, Karmann, Telefunken, Saba, Nordmende, Rollei, Agfa, Voigtländer: Wo einst Leidenschaft war, ist jetzt Archiv. Unternehmen gehen unter, wenn sie glauben, den Gang der Marktbedingungen voraussagen zu können und nicht offen sind für das Überraschende, das Nicht-Vorhersehbare. Aber tradiertes Wissen ist keine Erfolgsgarantie für morgen, dominant ist man nur für kurze Zeit, dann hat sich der Vorsprung verbraucht.
Im Wirtschaftsleben müssen wir deshalb radikal denken: Die Wahrscheinlichkeit, dass wir morgen immer noch erfolgreich sind, ist eher klein. Die Erfolgsrezepte anderer sind die Erfolgsrezepte anderer. „One size fits all“ mag für Mützen gelten, nicht für Unternehmen.
Der Zufall entscheidet
Was wäre also die richtige Strategie? Nicht strategiehörig sein! Das richtige Verhalten ist die völlig zufällige Entscheidung. Das wirkt von außen betrachtet zwar fast anarchisch. Doch aus der Terrorabwehr wissen wir: Unberechenbarkeit ist die langfristig erfolgreichste Strategie. Das Erfolgsrezept lautet, keins zu haben. Das ist das Einzige, was wirklich funktioniert. „Es gibt Dinge, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen“, sagte einmal der ehemalige amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld. Der kollektive Facebook-Hype ist dafür ein Beispiel – man konnte ihn auch mit immensem Aufwand nicht vorhersehen.
Reinhard Sprengers beste Führungstipps
Gute Unternehmen sind Solidargemeinschaften, nicht nur eine Addition von Einzelleistern. Wer nicht zur Zusammenarbeit fähig ist, fliegt raus. Mehr Füreinander statt nur Miteinander heißt die Devise. Für Fußballfans: mehr Barcelona, weniger Real Madrid.
Lassen Sie Jahresplanung und Budgetverhandlung mal für ein Jahr wegfallen. Verzichten Sie auf Dienstpläne, vertrauen Sie der Selbstorganisation Ihrer Mitarbeiter.
Unternehmen sind keine Kirchen, müssen nicht Werte wie Monstranzen vor sich hertragen, für die Kunden nicht zahlen.
Gehen Sie den Weg des kleinsten Übels, akzeptieren Sie schmutzige Lösungen. Der Blick aufs Ideal erzeugt nur Leiden.
Sie arbeiten nicht mit Kindern, sondern mit Erwachsenen. Die brauchen kein permanentes Lob, steten Kontakt aber schon. Das vermittelt Wertschätzung.
Heute wechseln unterschiedliche Szenarien in rasanter Folge: Massives Wachstum in Asien und Stillstand in hoch industrialisierten Ländern. Bevölkerungsexplosion steht gegen Überalterung, Rohstoffhunger gegen Ressourcenknappheit, Bildungsarmut gegen neue Intelligenz, Ökonomie gegen Ökologie, kurzfristiges Überlebenwollen gegen die Forderung nach Nachhaltigkeit. Kunden fordern drastische Preisnachlässe und gleichzeitig höhere Leistung. Über das Internet drängen Mitbewerber auf den Markt, die das erfolgsverwöhnte Geschäftsmodell in Frage stellen. Das alles überwölbt von der wachsenden Macht sozialer Netzwerke sowie sprunghaft-unkalkulierbarer Politik.
Was gestern noch gut war, ist heute schon veraltet. Wie lächerlich muten heute Handys an, die gerade mal 15 Jahre alt sind. Viele Unternehmen werden von immer neuen Neuerungen gleichsam an die Wand gedrückt und wissen kaum, wie sie sich ihrer erwehren sollen. Wir schwingen uns von Störung zu Störung, der Ausnahmezustand wird zum Normalzustand. Immer seltener wird man aus Erfahrungen lernen können. Das ungestörte Arbeiten wird zum Antiquariat. Aber in der Krise, im Umgang mit der Überraschung, beweist sich die Qualität der Führung. Denn: Was passiert, mögen Sie nicht im Griff haben; wie Sie darauf antworten, schon.
Biegsam wie ein Schilfrohr
Resilienz ist ein Begriff aus der Materialwirtschaft. Er beschreibt, inwieweit ein Material, das sich unter Druck verformt, wieder seine ursprüngliche Form zurückerlangt, wenn der Druck nachlässt. Wie das Schilfrohr, das sich im Winde biegt, aber nicht bricht. Im übertragenen Sinne ist es die Fähigkeit, Unerwartetes zu meistern und aus Turbulenzen gestärkt hervorzugehen.
Führung muss daher nicht nur über den Tellerrand schauen, Veränderung vorhersehen. Sie muss sich der Resilienz verschreiben. Und sie muss das Unternehmen mental und strukturell vorbereiten auf das Hereinbrechen des Zufalls, des wirklich Neuen, das in Gestalt einer plötzlichen Ressourcenknappheit, eines politischen Großeingriffs, eines unerwarteten Marktteilnehmers oder eben etwas völlig Vorbildlosem auftreten kann.
Wie aber lassen sich Unternehmen überhaupt so gestalten, dass sie unter rasch wechselnden Rahmenbedingungen und plötzlichen Veränderungen nicht versagen? Wie hält man eine Organisation in Bewegung? Wie sich auf das Unplanbare vorbereiten?
Nerven ohne Unterlass
Es gibt diesen fast naturgesetzlichen Kreislauf, dass Wohlfahrt zu Dekadenz führt, die dann die Wohlfahrt unterhöhlt. Um diesen Zyklus zu unterbrechen, müssen wir die Krise aktiv einbauen in die alltagshypnotische Routine. Das ist der Störungsauftrag der Führung. Diese Störung ist eine Ressource zur Revitalisierung der wirtschaftlichen Kraft, um nicht zu verweichlichen, sondern anpassungsfähig zu bleiben. Damit ist nicht nur das kluge Reagieren auf krisenhafte Umweltveränderungen gemeint. Gemeint ist vielmehr die präventive Vorbereitung der Organisation auf mögliche Veränderungen. Ein aktives Musterbrechen. Eine Alarmierfunktion, die Wachsamkeit und Dauerskepsis am Weiter-so signalisiert. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, muss Führung in homöopathischen Dosen Störungen in die Organisation einführen. Sie muss das Unternehmen in optimistischer Absicht beunruhigen. Weil nur die permanente Austragung von Krisen fit hält. Bewusst herbeigeführte Krisen zur Aktivierung der Resilienz. Die Betonung liegt dabei auf "bewusst". Man kann es auch „Management by crisis“ nennen – Steve Jobs schien das intuitiv zu beherrschen. Der nervte sein Unternehmen ohne Unterlass – zu beispiellosen Erfolgen. Führung ist Unterbrechung. Weil es schlicht überlebenswichtig ist, die Routinen immer wieder aufzubohren, die Strukturen im Unternehmen regelmäßig in Frage zu stellen, die Leute von den Stühlen zu schieben. Die Erfolgsrezepte der Vergangenheit ehrt man, indem man sie hinter sich lässt.
Erfolg muss beflügeln
Jeder Erfolg muss daher zu einem neuen Anfang werden, der den alten Erfolg überholt. Nur dann kann er nachhaltig sein. So wie Google, das den gesamten Markt durch permanente Weiterentwicklung des Produktportfolios vor sich hertreibt. Oder Dietrich Mateschitz, der den Energietrunk Red Bull mit einer raffinierten Werbe- und Sponsoringstrategie zur Weltmarke machte: „Ich weiß nicht, ob es eine Philosophie ist oder bereits zwanghaft in fast schon klinischer Ausprägung“, sagt er. „Wir stellen aus Prinzip alles in Frage. Wir gehen davon aus, dass nicht alles, was schon immer irgendwie gemacht wurde, so auch richtig ist. Dann fragen wir uns: Gibt es auch andere Wege, intelligentere, kreativere, lustigere, günstigere?“
IBM ist seit einhundert Jahren ein herausragendes Beispiel dadurch, wie es Krisen genutzt hat, sich fundamental zu ändern. Etwa indem der Konzern Geschäftsbereiche abgestoßen hat, die zwar noch ertrags-, aber nicht mehr zukunftsträchtig waren. Nicht zuletzt deshalb stand der Konzern – im Gegensatz zu vielen Konkurrenten – fantastisch da, als der scheidende CEO Sam Palmisano im Januar 2012 den Stab an Virginia Rometty weitergab. In seine Amtszeit fielen der Abschied vom PC-Geschäft, der Ausbau des Software- und Dienstleistungsbereichs und die Akquisition von PricewaterhouseCoopers. Nach Aussage von Rometty habe er ihr nur einen Rat gegeben: „Du musst den Konzern einfach immer wieder neu erfinden.“
Neuem öffnen
Störungen initiieren Veränderungen, ohne die keine Entwicklung möglich wäre. Andererseits bringen Störungen immer Ineffizienzen mit sich. Sie beeinträchtigen Prozesse und Strukturen, die bis dahin funktioniert hatten – die eine Reform ist noch nicht umgesetzt, da wird schon die nächste entschieden. Der Störungsauftrag mit dem Ziel der Resilienz steht also in Spannung zur Kernaufgabe „Transaktionskosten senken“. Viele gute Vorschläge bedrohen sogar das Kerngeschäft – man denke an das Internet und den Handel, oder an Handys und das Festnetz. Will man die Störung verstetigen, aktiviert man im Regelfall den Widerstand der oberen Managementebenen, die unter hohem Erfolgsdruck stehen und auch kurzfristig Gewinne maximieren müssen.
Wir müssen uns also hindurchschlängeln zwischen den Möglichkeiten des Zukünftigen und den Erfolgen der Gegenwart. Es geht darum, Abläufe zu perfektionieren, aber immer wieder auch neue Alternativen auszuprobieren. Und sich so Neuem zu öffnen. Will man das entscheiden, dann ist das Reagieren auf Veränderungen wichtiger als das sture Befolgen eines Plans.
Mit Erregern versorgen
Gibt es eine optimale Organisationsform für Zukunftsfähigkeit? Wie können wir das Unternehmen so aufstellen, dass Veränderung als Rückenwind erfahren wird, nicht als Gegenwind? Der französische Soziologe Emile Durkheim schrieb 1895: „Nichts hindert einen Industriellen daran, mit den Methoden eines anderen Jahrhunderts zu arbeiten. Er soll es aber nur tun. Sein Ruin wäre sicher.“ Damals wie heute galt: Das Kundenproblem ist die Voraussetzung für die Existenz von Unternehmen. Es muss daher auf eine Eigenlogik und eine monolithische Struktur verzichten. Es darf nicht sagen: „Ich habe die Lösung, wo ist das Problem?“ Es verkauft nicht, was es produzieren kann, sondern produziert, was es verkaufen kann. Wenn sich Markt und Aufträge ändern, passt sich die Organisationsform dem Markt an, um erfolgreich zu bleiben. Eine solche marktgetriebene Organisation aber ist fast keine mehr – sie gleicht mehr einem Zur-Verfügung-Halten von Potenzialen. Unternehmen müssen sich mit Erregern versorgen, die es markt- und weltoffen halten und in den Modus des Problemlösens versetzen.
Testballone steigen lassen
Einige der geschicktesten Verhaltensweisen langlebiger Unternehmen sind Experimentierfreude, Herumprobieren, Irrtum, Opportunismus und Zufall. Google etwa lässt statistisch nur eins von hundert Projekten zur Marktreife kommen – frei nach dem Motto: „Start many, try cheap, fail early!“ Dem Zufall eine Chance geben, die starren Strukturen verflüssigen, das Aus- und Abgebremste wieder in Bewegung bringen – das ist eine Kernaufgabe der Führung. Zukunftsfähigkeit lässt sich nicht kontrollierend und steuernd erreichen, sondern wird gerade durch Kontrolle und Steuerung behindert – durch Management eben. Die einzig moderne Strategie heißt Ausprobieren, Testballone steigen lassen, mit dem Scheitern rechnen. Experimentieren – das ist heute unternehmerisches Handeln unter Unsicherheitsbedingungen. In einer Welt, die nicht kontrollierbar ist, nicht der Planung gehorcht und auch nicht der kontrollierenden Mega-Hierarchie. Provisorisch, bis auf Weiteres, das heißt: spielerisch. Dieses Experimentieren ist nur möglich in einer heiteren, zukunftsgerichteten Unternehmenskultur.
Bob Dylan etwa ist seit 1988 permanent auf Tour – aber mit ständig wechselnden Besetzungen. Er variiert von Konzert zu Konzert, spielt Songs an einem Abend akustisch, am nächsten elektrisch, verändert während einer Konzertreise mitunter Arrangement, Tonart und Geschwindigkeit. Manchmal erkennt man einen Song erst, nachdem er fast beendet ist. Das mag für seine Mitspieler schwierig sein, für seine Kunden aber entstehen auf diese Weise nie gehörte, magische Momente. Nicht selten geht das grandios schief – aber das eine ist ohne das andere eben nicht zu haben.
Kultur des methodischen Zweifels
John Maynard Keynes schrieb: „Die Schwierigkeit besteht nicht so sehr darin, neue Ideen zu entwickeln, sondern alten zu entkommen.“ Das heißt auch, auf allen Märkten ein Frühwarnsystem einzurichten, das Veränderungen seismografisch registriert und rückmeldet. Extern durch das Einbeziehen von Ideen diverser Kunden- und Expertengruppen. Intern als Vernetzung über Abteilungsgrenzen hinweg. Sie können ein großes Ohr werden: Genau hinhören, was die anderen umtreibt, welche Probleme sie haben, was sie von der Zukunft erwarten.
Ein Sieger kultiviert den methodischen Zweifel. Er muss einerseits fest von seiner Idee überzeugt sein, andererseits genügend Flexibilität besitzen, schlechte Ideen aufzugeben. Was aus Siegern Verlierer macht, ist das Verschwinden dieses Zweifels – wenn man blinden Optimismus pflegt, wie er vor allem für Männer typisch ist. Somit gilt: Unternehmen brauchen Krisen. Krisen haben eine Entkalkungsfunktion – sie zwingen Unternehmen zum Lernen und Besserwerden. „Never miss a good crisis“ – das ist die Zeit, in der sich etwas bewegt.
Von Schema F zu Plan B
Wir müssen uns vorausschauend selbst erneuern. Es gilt, von der Zukunft her zu denken und, gleichsam von dieser zurückblickend, in der Gegenwart angemessen zu entscheiden. Weniger Schema F, mehr Plan B. Dabei helfen Methoden jenseits der traditionellen Marktbeobachtung wie Trend- und Umfeldanalysen, die Expertenbefragung sowie „Preferred Futuring“, „Presencing“ und die Szenariotechnik. Dieses Spielen mit alternativen Zukunftsbildern kann helfen, den schnellen Kurswechsel zu simulieren.
Diese Aufgabe ist nicht an Berater delegierbar. Das Top-Management sollte sich regelmäßig zurückziehen an einen ruhigen Ort, gegebenenfalls unter Moderation und unterstützt von branchenfremden Referenten, mögliche Zukünfte diskutieren, in denen sich das Unternehmen zu bewähren hat. In Open-Space-Konferenzen können Sie Mitarbeiter zum Mitdenken anregen. Weg vom Vergangenheits-Druck, hin zum Zukunfts-Sog! Resilient sind nämlich nicht zentralistisch geführte Firmen, in denen charismatische Führer einsame Entscheidungen fällen. Sondern jene, in denen wahrscheinliche und unwahrscheinliche Szenarien diskutiert werden und Meinungsvielfalt zu einem Mehr an Ideen und einer präziseren Ausarbeitung von Positionen führt. Von hochangepassten Ja-Sagern hat man ohnehin immer genug.
Gegen die Kultur des Aussitzens
Zunächst geht es darum, die Veränderungsbereitschaft der Mitarbeiterschaft anzustoßen. Ihre Neugier, ihren Einfallsreichtum, ihre Gestaltungskraft zu stimulieren. Keine leichte Aufgabe. Widerstand ist zu erwarten von der Kultur des Aussitzens und der gegenseitigen Rücksichtnahme unter den Führungskräften. Deshalb ist es so wichtig, die Notwendigkeit der Veränderungen plausibel zu machen. Das sind die Leitfragen: Welche Kenntnisse und Fähigkeiten müssen wir morgen besitzen? Auf welche Kenntnisse und Fähigkeiten können wir demnächst verzichten?
Mit Planungen kann man zwar die Kontrollillusion aufrechterhalten, aber sie beeinträchtigt die adäquate Erkenntnis der Wirklichkeit. Betrachten Sie Planung als kontrollierten Irrtum. Zukunftsfähigkeit ist nicht Planung, sondern das Umgehen mit ungeplanten Situationen – wenn die Planung über den Haufen geworfen wird.
Schlank ja, magersüchtig nein
Organisationen müssen heute mit überraschenden Ereignissen rechnen, die bei aller Anstrengung nicht vorhersehbar waren und mühsam stabilisierte Routinen über Nacht obsolet werden lassen. Was Sie brauchen, ist die Fähigkeit zur Mobilisierung zusätzlicher Leistungsreserven, um unter hohem Zeitdruck besondere Anforderungen meistern zu können. Denken Sie an den menschlichen Körper – dort, wo er nur ein Organ hat (etwa das Herz), ist unser Überleben im Schadensfall hoch gefährdet; haben wir hingegen zwei Organe (etwa die Nieren), können wir den Ausfall eines Organs verkraften. Viele Unternehmen haben sich in den letzten Jahren dieser Reserve aus kurzsichtigen Gründen beraubt. Entsprechend verwundbar sind sie. Effizienz ist wichtig – aber nicht alles. Sie sollten Schlanksein nicht mit Magersucht verwechseln.
Positiv stören
Unternehmen müssen sich, wenn sie zukunftsfähig sein wollen, um Störungen herum organisieren, weil nur die permanente Austragung von Krisen fit hält. Das gilt für Informationen und Personen, die das Unternehmen herausfordern, den Status quo zu überdenken. Berater zum Beispiel, wenn man sie wirklich beratend einsetzt – und nicht als nachträgliche Rechtfertigung zuvor getroffener Managemententscheidungen. Ein Reklamationswesen, kundenorientiert geführt und gut vernetzt mit dem Gesamtunternehmen, sorgt immer wieder für nachdenkenswerte Störungen. Neue, branchenfremde Mitarbeiter und Quereinsteiger wundern sich noch über das, was für Sie längst selbstverständlich ist. Frauen sind in männerdominierten Unternehmenskulturen personifizierte Störungsaufträge. Oder wenn zwei Manager mal ihre Aufgaben tauschen. Das schafft neue Konstellationen und überraschende Erkenntnisse.
Raus aus der Kuschelecke
Wer aber stößt so etwas an? Wer sorgt dafür, dass das Unternehmen immer wieder ausreichend im positiven Sinne gestört wird? „Nur der, der sich die Gegenwart auch als eine andere denken kann als die existierende, verfügt über Zukunft“: Adornos Worte können als Basis einer Unternehmenskultur dienen, die über das Optimieren des Bewährten hinausweist. Als mentaler Boden, aus dem die wirtschaftliche Dynamik sprießt.
Dafür braucht es Persönlichkeiten, die reflektieren können. Die sich nicht dem Diktat des Status quo beugen. Sie haben eine so starke Bindung an ihr Unternehmen, dass sie es fortwährend hinterfragen und auf Verbesserung abklopfen. Sie sind notorisch unzufrieden – ohne dabei übellaunig zu sein. Sie denken, was andere nicht denken; suchen, wo andere nicht suchen; machen, was andere nicht machen. Ihnen geht es nicht um prinzipielles Dagegensein. Sie haben lediglich eine Neigung zum Ausprobieren, zum ergebnisoffenen Versuch. „Why not?“ ist ihre Haltung; nicht „Yes, but...“
Ihre Triebfeder ist Neugier. Sie beschäftigen sich gerne mit dem „Noch nicht“. Es geht um eine positive Einstellung zu Veränderungen, turbulente Phasen dürfen nicht als bedrückend, sondern positiv als Herausforderungen wahrgenommen werden. Um dann klug zu reagieren – empfindlich, aber nicht hysterisch; zügig, aber nicht überhastet; angemessen, aber nicht überzogen. Gefordert ist: Mut zur Kontroverse. Raus aus der Kuschelecke! Innovation basiert auf Widerspruch von Menschen, die sich ihren Eigensinn erhalten haben. Die streiten können und dabei ihren Humor nicht vergessen. Ferner ist Disziplin von großer Bedeutung – wer Gold finden will, muss Sand waschen. Und Bescheidenheit. Es ist wissenschaftlich belegt, dass ein übergroßes Ego der Top-Manager die Krisen oft erst entstehen lässt. Manager, die sich überschätzen, die betrügen, spekulieren, extreme Risiken eingehen, alles für machbar halten. Wie Porsche beim Versuch der Übernahme von VW. Wie die Landesbanken bei windigen Finanzgeschäften.
Keine Alleingänge erwünscht
Deshalb braucht es nicht nur den einsamen, heroischen Unternehmenslenker, der das Unternehmen umkrempelt. Es braucht unabhängige Geister auf allen Hierarchieebenen, die für permanentes Neu- und Vorausdenken eintreten. Die dem immensen Anpassungsdruck widerstehen, der vom Status quo und von Effizienzdenken aufgebaut wird. Ihre zentrale Fähigkeit hat Marcel Proust definiert: „Die wahre Entdeckung besteht nicht darin, Neuland zu finden, sondern die Dinge mit neuen Augen zu sehen.“
Zukunft rekrutieren
Jedes Unternehmen muss sich heute fragen, ob es Führungskräfte will, die ihren Störungsauftrag ernst nehmen. Organisationen haben die Tendenz, immer wieder Mitarbeiter ähnlichen Typs zu rekrutieren. Genau jene, die sich überhanglos der Kultur anschmiegen. Gewinnen kann jedoch nur, wer sich stören lässt.
Seien Sie skeptisch bei Bewerbern, die glauben, Erfolgsrezepte zu kennen – sie sind tendenziell rückwärtsgewandt. Prüfen Sie, ob jemand in einem Strategiespiel einen Plan B entwickelt, weil er damit rechnet, dass sich die Dinge anders entwickeln als angenommen.
Das ist die Aufgabe: Menschen zu finden, die einen Unterschied in das Unternehmen bringen, aber ihr Verhalten auf die Bedürfnisse ihrer Kollegen und Mitarbeiter abstellen. Das Management sollte für viele Zusammentreffen mit unterschiedlichen Leuten sorgen. Mitarbeiter, die etliche Jahre dieselben Aufgaben verrichten, sind keine Störung mehr. Bei der souveränen Beherrschung rasch wechselnder Umstände sind jüngere Manager den älteren klar voraus. Sie kommen besser mit Aufgaben zurecht, deren Herausforderungen und Ergebnisse zu Beginn unklar sind.
Einen Störungsauftrag werden vorrangig Generalisten erledigen. Ein resilientes Unternehmen wird im Top-Management daher eher Menschen mit Überblick einsetzen, die die Vielfalt der eigenen Person und der Welt kennen, die schnell die Perspektive wechseln können und ihrerseits die Spezialisten richtig einsetzen. Die oft geforderte Branchenerfahrung ist jedenfalls mit Blick auf Zukunftsfähigkeit nicht immer hilfreich.
Sich selbst unterbrechen
„From a distance“ hieß ein Song, mit dem Bette Midler im Jahr 1991 einen Grammy gewann. Im Text ging es darum, dass vieles sich verändert, wenn man es aus der Distanz betrachtet. Dass Distanz notwendig ist, um zu einem abgewogenen Urteil zu kommen. Dass viele Dinge, die uns oft so ungeheuer wichtig erscheinen, sich aus einiger Entfernung lächerlich aufgeblasen ausnehmen. Zu große Nähe verzerrt die Optik. Diese Distanz zu gewinnen, gehört auch zum Störungsauftrag einer Führungskraft. Distanz meint, sich selbst zu hinterfragen. Verzögerungen einzubauen, die Schnelligkeit von Hetze unterscheiden, die uns schauen lassen, wohin wir laufen. Der Alltagshypnose entkommen.
Zwang zu schöpferischen Pausen
Von vielen Managern hat man den Eindruck, das rhythmische Auf und Ab des Lebens sei dem ewig angespannten, ja überspannten Gleichmaß gewichen. Alle rotieren in ihren Hamsterrädern, hetzen von Termin zu Termin. Aber Menschen, die fortwährend in Spannung leben, leiern aus wie Gummibänder. Darunter leidet auch die Zukunftsfähigkeit vieler Unternehmen. Zukunft wird nicht thematisiert, weil die Führungskräfte notorisch überlastet sind. Jedenfalls ist das ihr Selbstbild. Diese Wahrnehmung hat zur Konsequenz, dass wir uns nur um das Kurzfristige kümmern, nicht um das Langfristige, nur um das Dringliche, nicht um das Wichtige. Wenn Sie in dieser Mühle stecken, dann müssen Sie dort heraus. Schaffen Sie sich Freiräume für freies Denken! Unterbrechungen, schöpferische Pausen, Zwischenzeiten. Dazu müssen Sie sich zwingen, sie ergeben sich nicht von selbst. Und das ist keine Zeitverschwendung.
Göttlichste Muse
Beachten Sie auch, dass Sie Ihre Freizeit nicht verplanen wie die Arbeitszeit; dass sie nicht aus fortdauernden Aktivitäten nach dem immer gleichen Muster besteht. Vermeiden Sie Freizeitstress nach dem Arbeitsstress. Nach der Hast: die Rast. Muße heißt: jetzt keine Ziele haben. Nichtstun. Leere zulassen. Sich treiben lassen. Den inneren Monolog – der nach einem aufreibenden Tag für viele Führungskräfte bis in die Nachtstunden andauert – bewusst stoppen. Etwa mithilfe des Sports. Schweißtreibendes, aber eher spielerisches Sporttreiben. Freude, Freunde, Spaß und Spielerisches sollten im Vordergrund stehen, nicht verbissenes Kämpfen und Siegenwollen. Auch Musik kann zu diesem Sich-Lösen beitragen – wenn Sie sich wirklich auf sie einlassen, sie nicht nebenbei als Geräuschkulisse konsumieren. Dann ist sie die göttlichste der Musen. Am besten natürlich: aktiv Musik machen, am allerbesten zusammen mit anderen.
Diene und Verschwinde
Ich erinnere mich an einen Lehrer, der Ende der Sechzigerjahre in meiner Klasse Geschichte unterrichtete – es war die Zeit der Flower-Power. Zu jener Zeit dauerte es nach dem Klingeln durchschnittlich etwa fünf Minuten, bis die Lehrer in die Klasse schlurften. Nicht so Dr. Figge. Mit dem ersten Klingelton trat er in die Klasse, schloss hinter sich die Tür und begann den Unterricht. Wir Schüler waren anfangs irritiert, dann amüsiert – und dann gewöhnten wir uns daran, dass er eben anders war. Bei Weitem nicht alle Schüler haben ihn dafür gemocht. Aber in meinem Leben hat er einen Unterschied gemacht.
Wenn Sie auch nur im Leben eines Mitarbeiters ein Beitragender waren, ihm zu größerer Freiheit, zu größerer Unabhängigkeit verholfen haben, haben Sie Ihren Job gemacht. Denn das ist unser aller Aufgabe: Platz zu machen für die, deren Weg wir bereiten. So wie wir ernten, was wir nicht gesät haben, so sollten wir säen, was wir nicht ernten werden.
Wie formulierte es schon Friedrich der Große: „Servir et disparaître!“ Diene und verschwinde! Das ist radikal führen: Hinterlassen Sie Ihr Unternehmen so, dass es in einem höheren Maß zur Selbstführung in der Lage ist, als es bei Ihrem Dienstantritt war.
Bearbeitet von Manfred Engeser