Ratgeber der Macht Was Machiavelli heute empfehlen würde

Auf 99 Prozent der aktuellen Ratgeber-Literatur kann ein vernünftiger Mensch getrost pfeifen. Aber nicht auf Jean-Baptiste Hennequins herrliches Buch „Machiavelli für meinen Sohn“.

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Eine Statue von Niccoló Macchiavelli

Niccoló Machiavellis Buch „Der Fürst“ ist der vielleicht berühmteste Ratgeber der Literaturgeschichte. Auch nach fünf Jahrhunderten steht Machiavellismus für Methoden zur Erlangung oder Erhaltung von Macht, die sich über gängige Moralvorstellungen hinwegsetzen. Wer sich näher mit dem Buch und seinem Autor befasst, lernt, dass Machiavellis Überzeugungen und Empfehlungen nicht so verrucht sind, wie sie spätere Verleumder machten.

Was würde Machiavelli, der große Theoretiker der zweckorientierten Realpolitik, über unsere heutige Welt denken? Vermutlich würde er sich schütteln angesichts des heute nicht weniger als im 16. Jahrhundert verbreiteten „Lasters der moralischen Heuchelei“. Und dann würde er vielleicht Ähnliches verkünden wie der Franzose Jean-Baptiste Hennequin.

Leitfaden für das "Spiel um die Macht"

Der Politikberater und Generalsekretär einer französischen Elite-Hochschule hat ein wunderbares Buch geschrieben, in dem er im Stile des großen Renaissance-Denkers und auf der Basis eines umfassenden Bildungsschatzes zweierlei leistet: Er lichtet den Nebel der bequemen Lügen und der geistig einschläfernden Zerstreuungen der Gegenwart, um schließlich dem eigenen Sohn (und dem Leser, beziehungsweise dessen Kindern) einen Leitfaden zu geben für das „Spiel um die Macht“, das das Leben ist.

Seine Aufforderungen, die als Kapitelüberschriften das Buch einteilen, klingen zunächst zynisch: Denk an dich; Wachse über dich selbst hinaus; Lass andere für dich arbeiten; Verführe; Lüge; Bereichere dich; Sei nicht du selbst.

Doch nicht erst in den drei letzten Kapiteln - Lerne von der Geschichte; Schütze deinen Glauben; Nimm dich vor Barbarei in Acht -  wird klar: So wenig wie Machiavelli entgegen eines immer noch weitverbreiteten Vorurteils ein Zyniker oder diabolischer Apostel der Macht um der Macht Willen war, ist es Hennequin.

Hier schreibt kein "Coach" oder selbsterklärter Experte, der mit Business-School-Plattheiten viel Geld und beruflichen Erfolg verspricht. Die Macht, die Hennequin seinem Sohn wünscht, ist nicht unbedingt mit Geld oder Positionen gleichzusetzen – auch wenn beides für ihn als Mittel durchaus erstrebenswert ist. In erster Linie geht es Hennequin wie Machiavelli darum: Chaos und Barbarei verhindern, das Gemeinwohl vor dem allgegenwärtigen Egoismus schützen, kein Sklave seiner Triebe werden - und vor allem kein Sklave der durch scheinheilige Moral verschleierten Herrschsucht anderer.

"Wissen an und für sich ist Macht"

Einige Ratschläge im Einzelnen:

Kinder vor allen Zwängen zu bewahren, sie dauerhaft mit einem Schutzwall zu umgeben, ist falsch. Spätestens auf dem Pausenhof werden solche Kinder zu Opfern. „Ein Kind zu erziehen bedeutet, es auf die Grausamkeit der Gesellschaft vorzubereiten, anstatt sich vornehm zurückzuziehen.“ In einer Welt, deren Autoritäten immer schwächer werden, und in Staaten, die immer weniger Schutz bieten, empfiehlt Hennequin vor allem eines: „Wissen an und für sich ist Macht“.

Die Warnung vor der geisttötenden Zerstreuung durch moderne Unterhaltungsmedien zieht sich durch das gesamte Buch. „Jede Beschäftigung, die allein deiner Unterhaltung dient und von der du abhängig wirst, schwächt deinen Charakter und zerstört deinen Geist.“ Oder, wie Machiavelli schreibt: „Manche Fürsten haben die Herrschaft verloren, sobald sie ein Genießerdasein dem Kriegshandwerk vorzogen.“

„Lass andere für dich arbeiten“, heißt ein Kapitel. Hennequin zählt darin das Erfolgsgeheimnis einiger großer Unternehmer auf. Zum Beispiel Edison, der Teslas Erfindungen in Produkte umsetzte, oder Jobs, der seinen Kompagnon Wozniak übervorteilte. „In dem, was Moralapostel als Plagiatsbetrug anprangern, lässt sich genauso gut die Kühnheit von Unternehmern erkennen, die in der Lage sind, Erfindungen in materiellen Erfolg umzuwandeln.“ Um andere für sich arbeiten zu lassen, muss man verführen können. Wer es lernt, kann Macht über die Umschmeichelten gewinnen: „Die Situation des Eingelullten verbessert sich durch den Kontakt mit dem Charmeur in keiner Weise, doch er ist bereit, jedes Märchen zu glauben, das aus dessen schmeichlerischem Mund kommt.“

"Häufe besser Wissen an als Gold"

Wirklich konsequent immer die Wahrheit zu sagen, auch dem Mörder, der nach dem Bruder fragt, kann nur ein machtferner Philosoph wie Immanuel Kant ernsthaft raten. Hennequin hält es (wie Machiavelli) für besser, „die Wahrheit für sich zu behalten, sich einen klaren Blick zu bewahren und nach außen hin das zu sagen, was einen selbst und die geliebten Menschen schützt“. Dabei zwei Regeln bitte beachten: „ Ein Lügner ist nur der, der erwischt wird“ und „Bleib Herr deiner Lügen und hüte dich vor den Lügen anderer“.

Das Streben nach Geld grundsätzlich zu verurteilen, ist der Gipfel der Heuchelei: „Hinter dem Gerede der Gleichheitsprediger, das bei anderen Schuldgefühle weckt, verbirgt sich in der Regel der reinste Narzissmus: Ihre Klagen dienen nur zur Demonstration der eigenen moralischen Überlegenheit.“

Aber ebenso gilt: Wer sich vom Geld oder der Angst vor Armut beherrschen lässt, ist unfrei. „Also häufe besser Wissen an als Geld.“ Denn: „Mit den Tantiemen deiner Intelligenz wirst du die Freiheit erlangen, irgendwann zu tun und zu lassen, was dir gefällt.“

Helden bleiben oft ohne Lob und Anerkennung

Durch Hennequins Buch zieht sich diese Aufforderung zum Wissenserwerb als roter Faden. „Lerne von der Geschichte“ ist eine zentrale Botschaft: „Die Geschichte begleitet dich durchs Leben und flüstert dir zu wie die Souffleuse im Theater, wenn es dir an Orientierung und Inspiration mangelt.“

Zu den Lehren der Geschichte gehört, dass viele der miesesten Übeltäter - KZ-Schergen wie Mengele und Massenmörder wie Pol Pot - ungestraft davon kamen und friedlich starben. Den wirklichen Helden dagegen bleiben oft Anerkennung und Lohn versagt, während die angeblichen Lichtgestalten sich bei näherer Betrachtung als durchaus finstere Gesellen entpuppen: Leute wie Che Guevara, der noch immer vielen als Held gilt, obwohl er willkürliche Todesurteile fällte.

Die Geschichte dieser Ungerechtigkeiten ist eine ewige Mahnung vor der Verblendung der Leichtgläubigen, die menschliche Tyrannei und Barbarei erst möglich macht. Also: „Bleib kritisch, wenn von unfehlbaren Genies die Rede ist, denn eine solche Spezies gibt es weder in der Politik noch sonst wo.“

Machiavellis Ziel war die Einigung Italiens

Die tiefsten und schönsten Ratschläge enthalten die beiden letzten Kapitel. „Schütze deinen Glauben“. Das heißt: Gib Deinem Leben einen Sinn, kämpfe für etwas Großes. Aber: „Mach ihn [deinen Glauben] nur öffentlich, wenn es strategisch notwendig ist, um bestimmte Taten zu vollbringen“.

Für Machiavelli war dieser Sinn die Einigung und Stärkung seines zerrissenen Vaterlands Italien. Im letzten Kapitel offenbart Hennequin schließlich, was dieser Glauben, diese Sache, für die es sich einzusetzen lohnt, für ihn ist: der Kampf gegen die Barbarei, auch die in uns selbst.  „Ich befürchte, dass die Welt, in der du leben wirst, jenem Italien gleichen wird, an dem Machiavelli verzweifelte: geschlagen, zerrissen, erobert und von einer Vielzahl von Katastrophen heimgesucht.“  

Hennequins Buch ist nicht nur der extrem seltene Fall eines klugen, gebildeten Ratgebers, sondern auch eine hinreißende Liebeserklärung eines Vaters an seinen heranwachsenden Sohn: „Dass mein Geist in dir weiterleben wird, ist mein größter Reichtum und das Einzige, was mir inneren Frieden schenkt“, schreibt er ausgerechnet am Ende des Kapitels „Bereichere dich“.

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