Unternehmenskultur Chefs geben sich plötzlich volksnah

Laissez-faire bei deutschen Unternehmen: Bei Otto wird der Chef geduzt, bei Vodafone hat er kein eigenes Büro mehr und bei Daimler und Continental entfällt die Krawattenpflicht. Nicht alle mögen diese neue Lockerheit.

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Da würde sich Knigge im Grabe umdrehen
SchulmeisterereiOberlehrerhaftes Verhalten scheint typisch deutsch zu sein. Wachsender Trend: Deutsche schulmeistern gerne ihre Mitmenschen. „Sie sind ein schlechtes Vorbild für mein Kind, wenn Sie bei Rot über die Ampel gehen“ „Hier ist Ballspielen verboten“ „Hier raucht man nicht“: Schulmeistern hat nichts mit gutem Verhalten zu tun. Die Deutsche Kniggegesellschaft urteilt sogar: „Wir entwickeln uns zu einem Volk von Zurechtweisern. Das muss besser werden.“ Quelle: V.V.V.-Verlag
Sitz mit Aktentasche blockierenNerv-Trend Nummer zwei speziell bei Geschäftsreisenden: ein einziges Ticket kaufen und den Nebenplatz dennoch mit der Aktentasche blockieren. Andere Fahrgäste müssen stehen, das Gepäck hat´s bequem. Sehr effektiv, um von Hamburg bis Frankfurt ungestört zu sein, sozial aber nicht kompatibel, findet die deutsche Kniggegesellschaft. Quelle: dpa
Zu viele Löcher, labberige Hemden, kurze Ärmel mit KrawatteDer Businessmann macht laut der Kniggegesellschaft noch viel falsch. Darum: Perfekte Gürtel haben nur fünf Löcher, das Hemd muss zwei Zentimeter aus dem Ärmel schauen und kurze Arme mit Krawatte sind ein No Go. Damit sich diese Fashion-Fauxpas nicht wiederholen, raten die Benimm-Experten, auch als Mann mal hin und wieder einen Blick in eine Modezeitschrift zu werfen. Quelle: dpa
Lautstark in der Öffentlichkeit telefonierenEbenfalls auf der Kniggeliste steht der Handybrüller, vorzugsweise in Bus und Bahn. Den ganzen Waggon zu beschallen, ist schon ein Klassiker und bleibt dadurch weit oben auf der Liste der Benimm-Fehler der Deutschen. Dass leise und weniger und höflicher ist, ist immer noch nicht bei allen angekommen: Rechtsanwälte etwa posaunen immer noch die Namen und Aktenzeichen ihrer Mandaten durch den Zug (Gab´s da nicht eine Schweigepflicht?), andere lassen Mitreisende lautstark Anteil an Familien- und Beziehungsproblemen nehmen. Übrigens: Man kann auch leise in seinen Laptop hacken. Das muss nicht wie die alte Schreibmaschine MG klingen. Quelle: dpa
Vor dem Abbiegen nicht blinkenBlinken ist uncool, ist schon klar. Das machen nur Spießer. Der Selfmade-Man biegt ohne ab. Davon gibt es immer mehr, geißelt die Kniggegesellschaft. Da weiß man dann gar nicht, was der andere will und schon kracht es. Das ist extrem unsolidarisch. Also: Blink mal wieder! Quelle: dapd
Besteck falsch haltenJeder Zweite kann's nicht richtig, dabei ist es nicht schwer, Messer und Gabel richtig zu halten. Ein Messer ist kein Bleistift, also kein Grund, es wie einen Griffel zu halten. 50 Prozent der von der Knigge-Gesellschaft getesteten Besucher von Biergärten machten Besteckfehler beim Essen. Ein Vorsatz: Dringend Tischsitten updaten. In der Muße liegt der Genuss, dann klappt´s auch mit dem Knigge. Quelle: dpa
Daneben-Benehmen auf BetriebsfeiernAlle Jahre wieder immer dieselben Fehler. Vorsicht mit dem Alkohol, nicht Sexy-Hexy spielen und kein Geknutsche mit dem Chef. Das Betriebsfest ist nach wie vor vermintes Gelände. Hier enden immer wieder Karrieren. Überlebenstipp: Klappe halten, nichts ausplaudern und nicht am nächsten Tag krankfeiern. Quelle: dpa

Was ist denn auf einmal mit den deutschen Unternehmen los? Überall werden die Chefs zu Kumpels, zumindest erweckt es den Anschein:

Bei Vodafone sitzt der Chef im Großraumbüro und die Mitarbeiter dürfen arbeiten, wann und wo sie wollen. „Jeder unserer Mitarbeiter kann bis zu 50 Prozent der Arbeitszeit außerhalb des Büros verbringen“, bestätigt der bürolose Chef des Unternehmens, Hannes Ametsreiter.

Beim Versandhändler Otto hat der Chef den 53.000 Mitarbeitern das Du angeboten und auch beim Dresscode der Chefs ist Lässigkeit nun offenbar Trumpf.

So kleiden Sie sich richtig

Die Führungsspitze des Dax-Konzerns Continental beispielsweise hat zur Vorlage der Jahreszahlen erstmals auf Krawatten verzichtet. „Wir passen uns den Gegebenheiten der Industrie an“, begründete Konzernchef Elmar Degenhart das ungewohnte Bild. „Die junge Generation, die heranwächst und die wir in unser Unternehmen aufnehmen und integrieren, die hat andere Ansprüche. Und das ist ein Zeichen für unsere Flexibilität; die Mitarbeiter müssen sich wohlfühlen, wenn sie zur Arbeit kommen, ansonsten werden sie nicht ihre volle Leistung bringen.“

Fehlende Krawatte wird zu Symbol des Kulturwandels

Die Krawatte als globales Symbol der Manager-Elite hat auch schon anderswo einen Bedeutungsknacks erfahren, etwa bei Daimler. Dort sei die fehlende Chef-Krawatte gleich ein Symbol für den Kulturwandel. Seit Konzernchef Dieter Zetsche die entspannte Arbeitsatmosphäre im Silicon Valley erlebt hat, will er die Führungskultur bei Daimler umkrempeln – und ließ bei der Jahrespressekonferenz gleich mal den Binder weg. So geht Unternehmenskultur.

„Dass immer weniger Männer Krawatte tragen, hat sich schrittweise entwickelt, wie auch Hosenanzüge bei Managerinnen“, sagt Rolf Wunderer. Das sei noch kein großer Kulturwandel. „Aber das Chefs Mitarbeitern das Du anbieten, ist nochmal eine ganz andere Sache.“ Wunderer war bis 2001 Ordinarius für Betriebswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen, wo er das Institut für Führung und Personalmanagement (IFPM) gründete.

Er sagt: „Es hängt sehr stark von der Kultur des Unternehmens und der Region ab, ob geduzt oder gesiezt wird: In den USA spricht man sich grundsätzlich mit Vornamen an. In der Schweiz duzt man sich nach einer kurzen Kennenlernphase. Und in Österreich wird heute noch teils erwartet, dass man Betriebsangehörige mit Ihrem Titel anspricht, also Herrn Diplomingenieur.“

Deutsche sind zurückhaltend mit dem Du

Der Durchschnittsdeutsche steht irgendwo zwischen dem Schweizer und dem Österreichischen Modell: Laut einer Erhebung des Instituts für Demoskopie Allensbach siezen 36 Prozent der Deutschen sogar ihre gleichrangigen Kollegen, 60 Prozent bieten nur engen Freunden und Verwandten das "Du" an und fast jeder Vierte hat sogar schon einmal ein Duz-Angebot ausgeschlagen.

Und auf einmal sagt der CEO: Du kannst ruhig Du zu mir sagen. „Wenn der Chef Mitarbeitern das Du anbietet, ist es üblich, dass man annimmt, auch wenn man es nicht nur gut findet“, sagt Wunderer. Und gut finden das viele vermutlich nicht, die Deutschen haben nämlich offenbar gar keine Lust, ihren Chef zum Kumpel zu haben: Nur fünf Prozent sind auf den sozialen Netzwerken mit Ihrem Vorgesetzten vernetzt und 57 Prozent würden eine Freundschaftsanfrage vom Vorgesetzten ablehnen, wie eine repräsentative Umfrage von Bitkom zeigt.

Für die Mehrheit der Deutschen ist das Du ein Vertrauensbeweis, wie Psychologin Ilona Bürgel sagt. „Es wird also verschieden sein, wie wohl sich Menschen mit dem Du fühlen. Wer sowieso eher locker ist, wird es mögen.“ Wer auf Förmlichkeiten Wert legt, hat Pech.

„Bei einem Unternehmen mit flachen Hierarchien, beispielsweise bei Start-ups, ist es eine natürliche Entwicklung, dass man sich das Du anbietet. Je ausgeprägter die Hierarchien, desto skeptischer wäre ich bei dem Konzept“, sagt Tim Hagemann. „Siezen ist immer auch ein Zeichen von Respekt und schafft eine professionelle Distanz.“ Hagemann ist Professor an der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld mit dem Schwerpunkt Arbeits-, Organisations- und Gesundheitspsychologie.

Er ist überzeugt, dass die neue Duz-Kultur in deutschen Unternehmen am Umgangston in skandinavischen und amerikanischen Unternehmen anlehnt, wo es wegen der Sprache keine Unterscheidung zwischen Sie und Du gibt. „Aber gerade US-Unternehmen sind oftmals sehr hierarchisch aufgebaut. Da hat man eben andere Mittel und Konzepte, die Distanz zwischen Manager und Mitarbeitern auszudrücken“, so Hagemann.

Was gegen Duzen spricht

Entsprechend fürchten manche Vorgesetzte, dass Duzen zu einem Autoritätsverlust führt und die professionelle Distanz verloren geht. Und: „Wenn man per Du ist, ist es sowohl für Mitarbeiter als auch Führungskräfte schwieriger, seine Interessen durchzusetzen“, wie Hagemann sagt.

Du wirst nicht befördert und Du bekommst keine Gehaltserhöhung – das klingt nach einer persönlichen Abwertung. Sie werden nicht befördert und Sie bekommen keine Gehaltserhöhung klingt dagegen sachlich.

Umgangsformen: Wer bietet wem das Du an?

Und Bürgel ergänzt: „Respekt oder Wertschätzung kommt nicht automatisch mit dem „Sie“. Es entspricht allerdings eher unserer deutschen Denk- und Arbeitskultur, bei der bislang eher auf hierarchisches Denken Wert gelegt wurde.“ Da viele Menschen Berufliches und Privates lieber trennen, passe das „Sie“ ihrer Meinung nach im Beruf besser. Auf der anderen Seite sagt sie, dass sich allein durch eine veränderte Ansprache diese Einstellung nicht ändern werde. Dass die Otto-Mitarbeiter wegen der vertraulichen Anrede in Hos also nicht mehr Otto-Chef Schrader sehen, ist eher unwahrscheinlich.

Aber: „Ob ich Sie Arschloch oder Du Arschloch sage, macht einen Unterschied“, wie Michael Kastner, Leiter des Instituts für Arbeitspsychologie und Arbeitsmedizin (IAPAM), sagt. Er predige bei seinen Managern deshalb immer, eine gesunde Halbdistanz zu wahren, also nicht mit den Mitarbeitern in den Urlaub zu fahren, aber trotzdem so kollegial zusammen zu arbeiten, dass sich alle wohl fühlen. „Die Variante aus Siezen und Vornamen finde ich ganz charmant, unsere Sprache ermöglicht ja verschiedene Variationen, jemanden anzusprechen.“

 

Kulturwandel 4.0: Was für das Duzen spricht

„Wir wollen im Unternehmen zu einem noch stärkeren 'Wir'-Gefühl kommen. Das hat viel mit flachen Hierarchien und der Bereitschaft zu tun, Verantwortung zu übernehmen. Der Weg zum 'Wir' geht einfacher über das Du“, begründete Otto-Chef Schrader seine Entscheidung gegenüber der WirtschaftsWoche. „Das Du ist ein äußeres Zeichen, dass etwas Neues beginnt, eine Art verbaler Startschuss für unser Projekt Kulturwandel 4.0“, sagte er. Und durch das Duzen fallen natürlich auch Barrieren weg, was zu einer produktiveren Zusammenarbeit führen kann.

Außerdem bedeutet das Du nicht zwangsläufig, dass auf einmal ein Umgangston herrscht, wie auf dem Bolzplatz. „Wie im Englischen das 'you' kann auch das 'Du' sowohl freundschaftlich als auch geschäftlich sein“, sagt Bernhard Zirkler, Trainer für Stil und Etikette aus Gießen.

Wer bei der neuen Duz-Kultur mitmachen will, braucht also Fingerspitzengefühl. „In kleinen und mittelständischen Unternehmen erlebte ich öfters, dass der Chef sich siezen lässt, aber seine Mitarbeiter duzt. Diese Ungleichheit muss unter Umständen akzeptiert werden. Grundsätzlich ist das aber eine Respektlosigkeit“, sagt Wunderer. Und Kastner ergänzt: „Die Probleme kommen immer dann, wenn man die einen Mitarbeiter duzt und die anderen nicht. Wenn muss es einheitlich sein.“ Außerdem sollte kein Duz-Zwang herrschen, damit die Mitarbeiter nicht das Gefühl haben, dass ihnen etwas oktroyiert wird. „Ich halte es für schwierig, auf Befehl eine neue Kultur etablieren zu wollen“, sagt Kastner.

Das Du lässt sich nicht rückgängig machen

Und man muss sich im Klaren darüber sein, dass sich das Du nicht rückgängig machen lässt, wie Bürgel sagt. Das ist ein Problem, was besonders in international aufgestellten Unternehmen auftritt, erzählt Kastner. Dann fliegt der Mitarbeiter mit seinem Vorgesetzten Dr. Maier für einen Geschäftstermin nach Amerika, wo er "Herrn Dr. Maier" dann wie alle anderen nur noch Peter nennt. Schließlich ist man in den USA immer beim "you".

So benehmen Sie sich in den USA richtig

Kaum sind die Geschäftspartner aus dem Raum, wird das gute alte Sie wieder hervorgeholt. Spätestens aber im Flugzeug zurück nach Hause. Hier hilft nur, vor Abflug zu klären, wie man in beiden Kulturkreisen miteinander umgehen will.

 

Trotzdem: Das Du wird sich durchsetzen, wenn auch nicht in allen Branchen. Innerhalb gleicher Hierarchiegruppen ist das Duzen ohnehin seit gut 30 Jahren üblich, wie Wunderer sagt. Dass der Chef jetzt duzt und geduzt wird, ist also nur die Konsequenz. „Die Kultur ändert sich, junge Leuten duzen und wollen geduzt werden“, sagt er. Das sehe man ja an Otto. „Das Unternehmen Otto war bei solchen Themen immer schon eher großzügig - und es hat einen vergleichsweise jungen Chef.“

Auch Kastner glaubt an einen durchschlagenden Erfolg des Berufs-Dus über die Hierarchiestufen hinweg. „Das Duzen liegt auch an der Globalisierung und dem Englischen. Dann wollen sicher einige Unternehmen ein junges, dynamisches Image. Insofern kann ich mir schon vorstellen, dass sich das verbreitet.“ 

Es wird also offenbar Zeit, dass der distanzierte Durchschnittsdeutsche seine Dienst-ist-Dienst-und-Schnaps-ist-Schnaps-Mentalität ab- oder sich ein dickes Fell zulegt. Für den Fall, dass morgen der Azubi sagt: „Hey Chef, kannst du mir mehr Urlaub geben?“

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