Am Tag bevor Brené Brown ein Medienstar wird, sitzt sie mit ihrer Familie im Flieger. Weder weiß die 51-Jährige zu diesem Zeitpunkt von ihrem anstehenden Ruhm. Noch, was sie in ihrer Rede am nächsten Tag bei der Vortragsreihe „TED Talks“, wo immerhin schon Microsoft-Gründer Bill Gates und Expräsident Bill Clinton gesprochen haben, eigentlich sagen will. Brown ist zu diesem Zeitpunkt zwar eine respektierte, aber nicht allzuweit über die Grenzen ihrer Disziplin hinaus bekannte Sozialwissenschaftlerin, die am Graduate College of Social Work der Universität Houston zum Themenkomplex Scham und Empathie forscht.
Nun soll sie über ihre Erkenntnisse sprechen. In der Luft fasst die Wissenschaftlerin einen Plan: Sie wird nicht über Schwäche als wissenschaftliches Sujet fachsimpeln. Sondern stattdessen ihre eigene Unzulänglichkeit, wie etwa ihren Perfektionismus, Ordnungswahn und falsch dosierten Ehrgeiz, zum Thema machen.
Sich angreifbar machen, tut weh
Ihre Vita beinhaltet auch einen Nervenzusammenbruch, über den sie sich lange nicht getraut hat zu sprechen. Ihr Mann hält sie für verrückt, das nun in aller Öffentlichkeit breitzutreten. Und auch Brown bereut ihren Mut zunächst. Nach ihrem Vortrag fährt sie nach Hause und schwört sich, so etwas nie wieder zu machen. Sie habe einen Kater vor lauter Verwundbarkeit gehabt, sagt sie später in einem Interview. Die Erfahrung, sich so angreifbar zu machen, sei schrecklich gewesen. Doch genau dieser Mut zur Wahrheit, zum humorvollen Umgang mit den eigenen Blessuren, hat dazu geführt, dass ihr TED Talk inzwischen zu den fünf erfolgreichsten aller Zeiten gehört und Brown zu einer Netz-Berühmtheit wurde.
Mehr als 25 Millionen Nutzer klickten ihn bislang an, jedes der von Brown danach veröffentlichten Bücher war ein Bestseller. Brown ist der Beweis für eine altbekannte Weisheit: Nur wer es wagt, seine Komfortzone zu verlassen und zuzugeben, dass er nicht vollkommen ist, nur wer scheitert und wieder aufsteht, kann Großes erreichen.
Wer hingegen Angst davor hat, für ein Geständnis ignoriert, verlacht oder abgelehnt zu werden, wird an Grenzen stoßen. „Scham lähmt“, sagt Brown. Sie fühlt sich an wie „ein Knoten im Magen“, wie „freier Fall“, „wie „nackt sein, während alle anderen angezogen sind“. Und: Sie führt zu Angst. Angst davor das Risiko einzugehen, sich zu blamieren.
Schlechter Chef? So werden Führungsschwächen zu Entwicklungschance für die Mitarbeiter
Der Mangel an Anerkennung macht vielen Mitarbeitern zu schaffen. Wichtiger als irgendein Lob von außen ist jedoch die Selbstachtung. Letzten Endes sollten wir so unabhängig wie möglich von äußerer Anerkennung werden. Wir dürfen andere nicht zu unseren Richtern machen. „Der Gerichtshof ist im Innern des Menschen aufgeschlagen.“ konstatierte Immanuel Kant. Die Stärkung der Selbstachtung wäre die angemessene Reaktion auf fehlendes Lob vom Chef.
Quelle: Diplom-Psychologin Marion Lemper-Pychlau
Es gibt sie noch, die autoritären Chefs. Entweder unterwirft man sich ihnen oder man bietet ihnen die Stirn. Wer sich wehrt, muss mit Schwierigkeiten rechnen. Andererseits übt er sich darin, eigene Interessen zu behaupten, Konflikte zu ertragen und seine Selbstachtung zu wahren.
Es geht nicht immer anständig zu. Vorgesetzte mit einer fragwürdigen Ethik sollten mehr als Empörung auslösen. Da ein Angestelltenverhältnis nicht von der Verantwortung für das Ganze entbindet, ist es wichtig, in solchen Fällen Widerstand zu leisten. Mitarbeiter müssen für ihre Werte einstehen. Gut sein stärkt die Selbstachtung und fühlt sich gut an. Feigheit eher nicht.
Manchmal sind Vorgesetzte unsicher und scheuen vor Entscheidungen zurück. Die Unentschlossenheit der Führungskraft kann Anlass für die Eigeninitiative ihrer Mitarbeiter sein. Sei es, indem man Überzeugungsarbeit leistet, Unterstützung anbietet oder Fakten schafft. Sicher ist: Wo Vorgesetzte ihre Spielräume nicht nutzen, erweitern sich die der Mitarbeiter.
Offenbar geben Vorgesetzte mit ihrem Mangel an sozialer Kompetenz den Mitarbeitern einen häufigen Grund zum Klagen. Für die Mitarbeiter kann das eine ausgezeichnete Gelegenheit sein, die eigene soziale Kompetenz zu verbessern: Sie können beispielsweise lernen, strategisch zu denken, diplomatischer zu kommunizieren, geschickt Einfluss auszuüben, nicht alles persönlich zu nehmen etc.
Doch ohne Risiken, auch das ist klar, sind Innovationen kaum möglich. Und diese sind in Zeiten von Digitalisierung und Globalisierung wichtiger denn je. Vor allem für eine Volkswirtschaft wie Deutschland, deren Wohlstand eben nicht auf immensen Rohstoffvorkommen, sondern auf klugen Köpfen beruht. Und dafür braucht es die viel beschworene Fehlerkultur.
Zu diesem Ergebnis kommt auch eine Untersuchung der Beratungsgesellschaft McKinsey aus dem Jahr 2014. Demnach gelingt es vor allem jenen Führungskräften, Mitarbeiter für sich und das Unternehmen zu gewinnen, ein kreatives Umfeld zu schaffen, Vertrauen aufzubauen und zu inspirieren, die es schaffen, ihrer Mannschaft die Angst vor der Ungewissheit zu nehmen, und „Authentizität, Verständnis und ein echtes Interesse an ihrem Umfeld zeigen“.
Die anderen sind auch nicht perfekt
Ebenso hat eine Studie der Universität Michigan ergeben, dass Unternehmen, die im Fehlerfall eine Kultur der Vergebung leben, deutlich weniger anfällig sind für Krisen, weil die Mitarbeiter mit vollem Herzen bei der Sache sind. Doch gerade die, die in der Hierarchie oben stehen und solche Vorgänge des Miteinanders steuern, haben auf dem Weg dorthin oft den Mut verloren, sich selbst zuzulassen. Sie ziehen die Fassade der Wahrheit vor. Aus Angst vor Konkurrenz und Missgunst tricksen, tarnen und täuschen sie, egal, wie dick es kommt.
„Verwundbarkeit heißt Störbarkeit“, erklärt Gerhard Blickle, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Bonn. Wer sich angreifbar macht, ist darauf angewiesen, dass andere diese Schwachpunkte nicht ausnutzen. „Diesen Aufwand scheuen die meisten“, so Blickle. Wer sich traut, Schwäche zu zeigen, macht außerdem noch eine weitere wichtige Erfahrung: Vielen anderen geht es genauso.
Unsere Schwächen machen uns echt
Die verbindende Macht des Makels. „Langfristig mit sich und der Welt im Reinen sein kann man nur, wenn man lernt, es kurzfristig überhaupt nicht zu sein“, sagt Brown rückblickend über ihren Seelen-Striptease. Dort oben zu stehen und den Panzer abzulegen war in diesem Moment schrecklich. Doch langfristig hat Brown dadurch gelernt, dass ihr Forschungsthema viel mehr Menschen berührt, als sie sich das jemals hätte träumen lassen. Und dass die Scham, die sie nach dem Auftritt verspürte, völlig unbegründet war. Statt Ablehnung bekam sie durch ihre Offenheit millionenfach geteilte Sympathie und Bewunderung.
Wer Schwäche zeigt, dem wird vertraut
Paula Niedenthal, Professorin für Psychologie an der Universität von Wisconsin-Madison, nennt diesen Prozess „Echo“. Erst die Schwäche mache unsere Beziehungen echt, glaubt sie. Jemand, der uns anlächelt, bekommt ein Gegenlächeln. Einem Chef, der seine emotionale Deckung verlässt, vertrauen die Mitarbeiter eher. Als sich etwa abzeichnete, dass Hillary Clinton die US-Wahl nicht gewinnen würde und sie deshalb ihren Auftritt auf der Party der Demokraten absagte, machten sich nur wenige darüber lustig. Ganz im Gegenteil: Die meisten konnten Clintons Scham über die verlorene Wahl nur allzu gut nachvollziehen. Auf einmal wirkte die oft kühle Clinton viel menschlicher und sympathischer.
Diesen Effekt bestätigt auch die Wissenschaft. „Die größte Stärke ist, Schwäche zu zeigen und nach Schwächen zu fragen“, sagt etwa Psychiater Manfred Lütz.
Im beruflichen Umfeld heißt das: Sprechen Sie den Kollegen an, der im Morgenmeeting nach einem Ihrer Beiträge mit den Augen gerollt hat. Vielleicht hat er einfach zu wenig geschlafen, vielleicht erwartet sie aber auch Kritik. Trauen sollten Sie sich trotzdem, denn zum einen wissen Sie nun Bescheid, und zum anderen können Sie aus dem Feedback vielleicht sogar lernen.
Ebenso gehört dazu, bei einer Rede Nervosität zu gestehen. „Das nimmt sofort für die vortragende Person ein“, so TED-Chef Chris Anderson. In seinem Buch „TED Talks – Die Kunst der öffentlichen Rede“ schreibt er, dass es kaum eine bessere Möglichkeit gibt, das Publikum zu entwaffnen, als wie ein Cowboy in den Vortragssalon zu marschieren, den Mantel zu öffnen und zu zeigen, dass kein Revolver im Colt steckt. „In dem Moment sind alle entspannt“, so Anderson.
Zu diesem Schluss kommt auch der amerikanische Bestsellerautor Timothy Ferriss in seinem Buch „Tools of Titans“. Darin beschäftigt er sich mit den Taktiken herausragender Persönlichkeiten. Sein Resümee: Allen Großgeistern gemein ist die Fähigkeit, ihre Schwächen in einen Wettbewerbsvorteil umzumünzen. Als Beispiel führt Ferriss etwa Arnold Schwarzenegger ins Feld, Bodybuilder, Schauspieler, Immobilienmakler, Gouvernator. Auf dem Weg von der Steiermark hinauf zur Gipfelspitze seiner Karriere hat „Arnie“ nie einen Hehl aus seinen Macken gemacht. Ulkiger Zungenschlag, einfache Herkunft, zu viele Muskeln. Aber gerade deshalb hat jeder ihn, ob beeindruckt oder belustigt, als echt wahrgenommen. „Erfolg beruht nicht darauf, keinen Makel zu haben. Er kommt dadurch zustande, persönliche Stärken zu identifizieren und Gewohnheiten drumherum zu kreieren“, so Ferriss.
Verwundbarkeit nicht stigmatisieren
Schwäche-Expertin Brown fordert deshalb, Verwundbarkeit nicht länger zu stigmatisieren. „Der Glaube an die Perfektion ist nichts weiter als ein tonnenschweres Schutzschild“, erklärt die Wissenschaftlerin. „Es bewahrt uns davor, so gesehen zu werden, wie wir wirklich sind.“ Wer hingegen das Schutzschild ablegt, gewinnt.
Als etwa der Ehemann von Facebook-COO Sheryl Sandberg unerwartet starb, teilte sie ihre Gefühle mit der Weltöffentlichkeit. Diese emotionale Nabelshow machte sie zur Ikone. Als der milliardenschweren Quandt-Erbin Susanne Klatten der windige Gigolo Helg Sgarbi den Boden unter den Füßen wegzureißen drohte, indem er sie mit einer Affäre erpresste, trat sie die Flucht nach vorne an und profilierte sich plötzlich als zielstrebige Unternehmerin. Als die gilt sie heute, nicht als betrogenes Dummerchen.
Der ehemalige Unternehmer Philippe Pozzo di Borgo wiederum, dessen Leben in dem Film „Ziemlich beste Freunde“ verfilmt wurde, brach sich beim Gleitschirmfliegen das Genick und ist seither querschnittsgelähmt. Er hat ein Buch über seinen tiefen Fall geschrieben, sagt heute, er würde viel achtsamer leben und diagnostizierte gegenüber dem „Manager Magazin“ „Allmachtsfantasien“ bei den allermeisten Konzernchefs.
Die "harten Hunde" sind meistens schwach
Großes erreicht zu haben nähre ein Gefühl der Unsterblichkeit, so der ehemalige Topmanager. Dazu passen auch die kriegerischen Worte, mit denen der Goldman-Sachs-CEO Lloyd Blankfein seine Krebserkrankung beschreibt. Er verglich seine Chemotherapie in einem Fernsehinterview mit dem Einsatz von Napalm. „Leute, die wie harte Hunde wirken wollen, sind in Wirklichkeit oft eher schwach“, weiß Psychiater Lütz. Außerdem wirkt es oft gekünstelt. Damit verspielen Manager aber eine große Chance. Denn Authentizität führt zu mehr Glaubwürdigkeit und damit zu einer höheren Identifikation der Mitarbeiter mit ihren Führungskräften und dem Unternehmen. Deshalb ermutigt Christine Arlt-Palmer, Partnerin der Personalberatung Board Consultants Manager, dazu, auch zu schwierigen Lebenssituationen offen zu stehen.
Wer lernen will, zu sich selbst zu stehen, sollte stattdessen lieber mal ein Unternehmen gründen, rät Sozialwissenschaftlerin Brown. Warum? Ganz einfach: Aus einer Passion heraus den Schritt in die Ungewissheit zu wagen, Leute zu begeistern ohne eine Ahnung zu haben, was die Zukunft bringt, erfordert genau das, was sie einen gesunden Umgang mit Schwäche nennt: rausgehen in die Arena. Hinfallen. Blutverschmiert aufstehen. Weitermachen. Lernen. „Im besten Fall wartet am Ende des Leidensweges der Triumph der großen Leistung“, hat US-Präsident Theodore Roosevelt einmal gesagt. „Im schlechtesten steht die Erkenntnis, beim Scheitern zumindest etwas Großes gewagt zu haben.“
Max Wittrock, einer der drei Gründer des bekannten Start-ups MyMuesli, weiß, was Risiko bedeutet. Er startete sein Unternehmen vor zehn Jahren mit zwei Freunden, maximaler Passion und minimaler Sicherheit. Noch als Student entwickelten die drei ihre Vision vom individualisierten Digitalmüsli. Im Passauer Kämmerlein mixten und horteten sie Nüsse und getrocknete Cranberries, Amaranth und Honigflocken bis sich die Regalbretter bogen. Als Gründer, sagt Wittrock, hätten sie vieles falsch gemacht, aber hoffentlich noch mehr richtig. Inzwischen führen die drei einen soliden Mittelständler, der an drei Standorten insgesamt mehr als 800 Mitarbeiter beschäftigt und 58 eigene Läden betreibt.
Wittrock hat auf dem gemeinsamen Weg die Schwäche in ihren sämtlichen Facetten kennengelernt. Er und seine Mitgründer haben nie einen Hehl daraus gemacht, zum ersten Mal Unternehmer dieser Größenordnung zu sein. Er findet es normal, dass Fehler passieren. „Man muss es dann halt entsprechend lösen“, sagt der Gründer. Viel wichtiger ist in seinen Augen ohnehin, dass es eine starke Vision gibt, einen Fixstern.
„Gründen hat viel mit Wünschen und Träumen zu tun“, erklärt Wittrock. Da alle die Reise gemeinsam erlebten, sei es umso wichtiger, sich offen und verwundbar zu geben. „Sonst wirkt es wie aufgestülpt“, sagt der junge Unternehmenschef. „Man will ja aber, dass die Leute verstehen, worum es einem geht. Dadurch menschelt es automatisch mehr.“ Am Anfang sei das einfacher gewesen, alle mitzunehmen. Doch mit mehr Standorten und noch mehr Mitarbeitern „haben wir da sicher noch eine enorme Bringschuld“.
Wer seine Ängste ignoriert, wird von ihnen regiert
Auch Brené Brown hat in gewisser Weise gegründet. Sie lebt heute ein neues Leben, sowohl beruflich als auch privat. Ihren Zusammenbruch nennt sie rückblickend „ihr spirituelles Erwachen“. Sie vertraut sich jetzt öfter Freunden an. Sie steht zu den Dingen, die ihr misslingen. Sie lobt sich für Dinge, die ihr gelingen.
Dürfte sie irgendwo auf der Welt eine Reklametafel mit einer Botschaft platzieren, würde sie sie in Washington aufstellen und darauf schreiben „Shut up and listen“, erzählte Brown vor ein paar Monaten in einem Podcast. „Halt die Klappe und höre einfach mal zu.“ Denn was geschieht, wenn die Scham die Oberhand gewinnt, zeigt „das, was da gerade in den Vereinigten Staaten passiert“, so Brown. „Wenn wir unsere Ängste und Verwundbarkeit ignorieren, regiert sie irgendwann.“ Das sei Gift für jedes System. Klingt logisch – und aktueller denn je.