Neulich war da dieser Gast, bereit, sich für viel Geld aus der Umlaufbahn namens Alltag katapultieren zu lassen, um sich und sein Leben zu entschleunigen, neu auszutarieren. Nur seinen Laptop, den wollte der Mann nicht abgeben. Gewundert hat man sich natürlich im Team von Raimund Wilhelmi, den Gast dann aber gewähren lassen. Irgendwie ist man hier, hoch über dem Bodensee, noch mit jedem zum Ziel gelangt.
Und das Ziel widerspricht eigentlich der Anwesenheit von Laptop, Smartphone und Co.: Wilhelmi betreibt ein mittelständisches Unternehmen, das auf Marbella und am Bodensee Klinikhotels betreibt, in denen Gäste fastend und entschleunigend den Alltag vergessen sollen. Seit mehreren Jahrzehnten bietet Buchinger Wilhelmi die gleichnamige Fasten- und Entschleunigungsmethode an. Selten war die Nachfrage gerade unter Managern und Führungskräften so hoch.
Wie auch Cornelia Poletto versteht. Die Starköchin (und Frau von Bahn-Chef Rüdiger Grube) fastet seit einiger Zeit selbst regelmäßig, um den Alltag hinter sich zu lassen.
Zu den Personen
Cornelia Poletto gehört zu den bekanntesten Köchen Deutschlands. Neben zahlreichen TVAuftritten betreibt sie ein mittelständisches Gastronomieunternehmen in Hamburg.
Raimund Wilhelmi leitet die Buchinger Wilhelmi Kliniken in Überlingen und Marbella. Deren Spezialität ist das Buchinger Heilfasten mit dem Ziel ganzheitlicher Heilung von Körper und Seele.
WirtschaftsWoche: Frau Poletto, Verzicht und Ihr Geschäft als Köchin müssten doch eigentlich Herrn Wilhelmis Ansatz von Verzicht widersprechen.
Cornelia Poletto: In erster Linie ist das, was Herr Wilhelmi hier macht, und das, was ich mache, natürlich ein totaler Gegensatz. Welcher Koch kann schon vom Fasten leben? Aber was mich als Unternehmerin vielleicht herausfordert, ist mir als Privatfrau schon sympathisch: Es ist doch total schön, wenn man durch Verzicht, durch ein geschärftes Bewusstsein für seinen Lebensstil mal dem alltäglichen Wahnsinn entkommt. Ich sehe das gerade bei mir selbst: Ich merke, wie ich so langsam Schindluder mit meinem Körper betreibe. Ich nehme mir keine Zeit mehr für Sport und Essen. Plötzlich fällt das Frühstück aus, es wird nur noch probiert und genascht, Sauerstoff und Bewegung sind tabu. Irgendwann muss man dann wieder da rauskommen.
Je stärker wir im Alltag an unsere Grenzen gehen, desto stärker suchen wir irgendwann einen Ausgleich?
Raimund Wilhelmi: Wer unglaublich unter Druck steht – sei es, weil er sich selber unter Druck setzt oder die Umstände Druck verursachen –, verliert die normalen Instinkte. Stress übertönt wie ein Lautsprecher alle Instinkte. Es gibt Leute, die darauf durch wenig essen reagieren, es gibt andere, die dann den ganzen Tag nichts essen und abends den Stress kompensieren durch übermäßiges Essen. Ich gehöre wohl eher dazu. Regelmäßiges Sporttreiben wäre eine andere Kompensation. Aber wer macht das schon regelmäßig?
Wenn man auf Deutschlands Topmanager schaut, denkt man: alle. Dort reüssieren doch eigentlich nur noch Asketen.
Poletto: Na, das sagen die, wenn sie gerade vom Fasten kommen und meinen, sie hätten alles umgestellt. Da ist eben wichtig zu suggerieren: Wir können alles – der beste Politiker sein, der beste Topmanager...
Wilhelmi: ...noch Marathon-Laufen...
Poletto: ...und natürlich trinken wir abends allenfalls mal zur Ausnahme ein gutes Glas Rotwein. Ich weiß von vielen, dass es anders ist. Das ist ja auch menschlich. Wir leben in einer Zeit, in der man ein Bild des Perfektionismus nach außen zeigen möchte und keine Schwäche zugibt.
Wilhelmi: Ich habe einen Freund, einen Rechtsanwalt, dem vor Gericht während der Plädoyers schwindelig wurde. Erst da merkte er, wie ihm der Stress zusetzte. Man braucht einen Rhythmus, eine gewisse Ordnung im Leben aus Wachen und Schlafen, aus Leistung und Erholung.
Poletto: Das öffnet natürlich auch die Tür für viele Scharlatane. Diese ganzen Menschen, die so viel arbeiten, wollen ja alle nur dasselbe: lange gesund und leistungsfähig bleiben. Dafür machen sie alles. Ich stelle immer häufiger fest, dass mir Gäste von Wunderärzten erzählen, die ihnen innerhalb kürzester Zeit zu neuer Balance verholfen hätten. Da denke ich: Ganz toll, die verdienen da viel Geld mit. Aber nachhaltig hat es noch keinem geholfen.
Wilhelmi: Diese Menschen scheuen sich oft, ihre wahren Probleme zu konfrontieren.
Poletto: Sie merken, dass was falsch läuft, schaffen es aber nicht, sich grundsätzlich zu ändern. Sie werden automatisch auch durch Scheinbehandlung ein bisschen das Bewusstsein verändern, das verbessert auch kurzfristig etwas, keine Frage. Aber am Ende sind so traditionelle Geschichten wie Fasten einfach besser.
Wilhelmi: Also rennen die Leute lieber zu einem Arzt, der die schnelle Lösung verspricht. Es scheint natürlich anstrengender, nichts zu tun, als wirklich etwas zu ändern. Es ist leichter, eine Lösung zu kaufen, als sie durch eigene Anstrengung zu erreichen – auch wenn sie nur darin besteht, hier für eine begrenzte Zeit auf feste Nahrung zu verzichten.
Poletto: Wir haben in Hamburg zwei Wunderärzte, die haben eine Liste von Patienten, das ist Wahnsinn, wer darauf steht. Ich erkenne die immer daran, weil die Kärtchen mit Zutaten mitbringen, die sie nicht essen dürfen. Das sind immer Menschen, die wahnsinnig viel bewegen, viel arbeiten, aber sich nicht die Zeit nehmen, etwas für sich zu tun.
"Käse, Brot und Rotwein sind wunderbar, aber ziemlich tödlich"
Sie denken eben wie im Job: Gibt es ein Problem, kaufe ich eine Lösung.
Wilhelmi: The Quick-Fix. Das ist sehr stark gerade unter Männern verankert. Die schnelle Pille, die schnelle Spritze.
Funktioniert das jemals?
Poletto: Nein.
Wilhelmi: Doch, für den, der die Spritze gibt.
Poletto: Das ist auch nicht einfach. Wenn Sie jemanden aus einem Wahnsinnsalltag ziehen und den dann hier hinsetzen: Was soll der machen? Der nimmt sich dann einen Trainer und läuft um den See, macht nur Sport. Ich muss ehrlich zugeben: Ich bin auch so. Ich muss mich selber manchmal zwingen, nichts zu tun. Einfach mal auf dem Sofa liegen, vielleicht was lesen, wozu ich im Alltag gar nicht mehr komme.
Wilhelmi: Manche bringen sich Arbeit mit.
Sagen Sie dann etwas dagegen?
Wilhelmi: Siegfried Unseld hat hier ein ganzes Buch geschrieben. Das hat man immer gehört, wie die Schreibmaschine klackerte. Den halben Tag wollte er eben arbeiten.
Wie schwer ist es, überhaupt aus der eigenen Routine zu kommen?
Wilhelmi: Ich faste jedes Jahr schon seit über 30 Jahren regelmäßig. Aber das heißt ja nicht, dass ich in der Zwischenzeit ein vorbildliches Leben führe. Wenn Sie am gesellschaftlichen Leben teilhaben wollen – versuchen Sie das mal, ohne fast jeden Tag irgendwo essen zu gehen, Alkohol zu trinken. Gerade vor Weihnachten.
Poletto: Der Horror.
Wilhelmi: Das Leben ist dann ein einziges Essen. Und wenn Sie eine bestimmte Position in der Wirtschaft oder in der Politik erreicht haben, wie viele Menschen, die anschließend bei uns Unterstützung suchen, dann werden Sie eben oft zum Essen eingeladen oder müssen andere einladen. Es gibt eben gesellschaftliche Situationen, in denen man sich dann auch schlecht zurückhalten kann. Natürlich raten wir unseren Gästen, eben am nächsten Tag einen Fastentag einzulegen. Aber auch das ist ja oft schwer durchzuhalten, wenn man mittendrin ist.
Poletto: Ich glaube, das ist typabhängig. Es gibt ja wirklich sehr konsequente Menschen, die sich von jetzt auf gleich komplett umstellen. Ich gehöre eher zu den schwächeren Menschen, denen das schwerfällt. Gerade jetzt, wenn man im Alltag morgens im Dunkeln zur Arbeit fährt und abends im Dunkeln wieder nach Haus kommt und dann auf seine App schaut und sieht: Du bist heute nur 1000 Schritte gegangen, dann raffen Sie sich nicht noch auf, jetzt besonders vorbildlich zu sein, sondern denken eher: Jetzt gönn ich mir etwas.
Gestehen Sie selbst sich Schwäche ein?
Poletto: Ich esse wahnsinnig gerne. Und auch, wenn ich weiß, dass es nicht gut ist, abends nach dem Service mit meinen Köchen noch ein Stück Käse zu essen und ein Glas Wein zu trinken, mache ich das. Und natürlich bleibt es nicht bei einem Glas Wein. Und wissen Sie was? Es geht mir danach nicht schlechter. Einfach mal zu sagen, ich ignoriere, dass heute Abend ein Kräutertee vernünftiger wäre, das macht doch unser Leben aus.
Wilhelmi: Käse, Brot und Rotwein sind wunderbar, aber ziemlich tödlich.
Und wenn ein Gast eine Ausnahme möchte?
Wilhelmi: Das gibt es bei uns gar nicht. Kein Alkohol, kein tierisches Eiweiß. Wir bieten dann eben andere Genüsse: ein Mozart-Konzert, eine Wanderung mit interessanten Menschen, hier in der wunderbaren Bodenseelandschaft. Das kann einen guten Wein ersetzen.
Frau Poletto, können Sie das nachvollziehen?
Poletto: Es gibt ja schon diese Phasen, in denen man seinen Körper im Alltag gar nicht mehr wahrnimmt. Man hält es dann für normal, etwa nach jedem Essen Sodbrennen zu haben. Wenn man dann mal innehält, merkt man plötzlich: Man ignoriert die Signale des Körpers. Ich bin auch so ein Typ. Ich weiß, was gut ist ... aber hält man sich immer daran?
Hilft es da, einfach das Essen zu ändern?
Wilhelmi: Immerhin werden durch Fasten die Zeiger erst mal auf null gesetzt. Und die Menschen haben hier Bewusstseinsschübe, lernen Dinge, die sie sonst nicht mehr entwickeln. Und das kann man sehr gut in den Alltag hinüberretten. Deswegen gibt es in den Religionen ja auch die Zeit der Askese, um einfach zu neuen Ideen zu kommen. Viele unserer Gäste sagen, sie haben die besten Ideen hier. Ein bekannter Künstler hat es uns mal so gesagt: Fasten ist für mich – von der Erschöpfung zur Schöpfung.
"Man braucht eine gewisse Grundzufriedenheit mit sich"
Ist es überhaupt realistisch, den Körper einmal auf null zu setzen und zu glauben, danach habe man sein Leben im Griff?
Wilhelmi: Wir setzen die Leute ja nicht auf null und tun sonst nichts. Wir üben mit unseren Gästen schon hier ein, was sie für den Alltag brauchen. Viele machen dann zu Hause weiter – Ernährungsumstellung, Sport.
Poletto: Ich glaube, es ist wichtig, dass man für sich eine Benchmark setzt und sagt: Ab da ist gut. Ich bin 1,58 Meter groß. Ich werde nie mehr Modelmaße erreichen. Da muss man sagen, ich bin eben untergroß und nicht übergewichtig (lacht). Man braucht eine gewisse Grundzufriedenheit mit sich. Man darf nicht zu streng zu sich selbst sein.
Wilhelmi: Bei meinem Großvater hieß das noch sündigen. Wenn da ein Gast in die Stadt ging und dort etwas aß oder trank, hatte der gesündigt. Das Ganze mit moralischen Begriffen aufzuladen, das bringt überhaupt nichts. Die Spanier oder Italiener trinken schon mittags mal ein Glas Rotwein, sind aber nicht übergewichtiger oder sterben früher als wir.
Ein Volkswirt würde sagen, die Mittelmeerländer hinken deswegen hinterher, während der eher protestantische Norden auch ökonomisch besser ist.
Poletto: Das ist ja harter Tobak.
Wir stehen am Anfang des Luther-Jahres...
Wilhelmi: Die Deutschen sind keine großen Genießer, stimmt schon.
Poletto: Und entsprechend spaßbefreit. In Italien gibt es ein schönes Essen am Mittag, da gibt es dann einen Wein dazu. Es ist eine andere Art, auf das Leben zu blicken.
Deutsche Manager waren vor einem Jahrzehnt auch noch genussorientierter.
Wilhelmi: Es ist sicher so, dass auf eine Mode die andere folgt, auf ein Extrem das andere. Dieser extreme Fitnesswahn einiger Manager ist aber auch schon fast wieder vorbei. Weil sie gemerkt haben, wenn sie mit der gleichen Besessenheit aus dem Job auch den Sport verfolgen, dann ist das ungesund. Man braucht Zeiten des Genusses, der Ruhe und der Muße. Das trägt mehr zu Leistungsfähigkeit bei als Leistung in allen Lebenslagen. Das Thema Burn-out jedenfalls, das vielleicht etwas modisch verkommen ist, kennen wir seit 50 Jahren, das hat sicher auch mit diesem Leistungswahn zu tun.
Poletto: Burn-out ist aber das falsche Wort, weil man es zu leicht benutzt.
Wilhelmi: Das richtige Wort wäre Erschöpfungsdepression.
Poletto: Dann würden es weniger sagen. Burn-out ist zu schick. Es klingt nach einem Menschen, der mal wahnsinnig viel geleistet hat und deswegen Pause braucht.
Fünf Tipps zur Stressbewältigung
Sagen Sie auch mal „Nein“. Haben Sie gerade keine Kapazitäten für eine neue Aufgabe oder ein Projekt, sagen Sie frühzeitig Bescheid. Selbstverständlich gibt es Situationen, in denen Sie mit „Ja“ antworten müssen. Aber vielleicht hat ein Kollege gerade mehr Zeit oder die Aufgabe ist doch nicht ganz so dringend.
Niemand ist perfekt, stellen Sie daher keine zu hohen und unrealistischen Erwartungen an sich selbst. Damit blockieren Sie sich nur.
Identifizieren Sie die Auslöser. Jeder Mensch gerät durch andere Dinge unter Druck. Um einen Überblick zu behalten, hilft es, sich eine Liste mit seinen persönlichen Stressfaktoren anzulegen. Stört Sie zum Beispiel das ständige „Pling“ eingehender E-Mails, stellen Sie den Computer auf lautlos und bestimmen Sie einen festen Zeitraum, in dem Sie Mails beantworten.
Stress zu unterdrücken, ist auf lange Sicht keine Lösung. Früher oder später wird er wieder hochkommen. Um das zu vermeiden, sprechen Sie darüber mit einem Kollegen und beziehen Sie auch ihren Chef mit ein. Allein das Gefühl, aktiv etwas gegen den Stress zu tun, hilft bei der Bewältigung.
Machen Sie Sport – Bewegung ist eine gute Methode, um Stress entgegenzuwirken, denn durch Sport werden Glückshormone wie Dopamin ausgeschüttet.
Im Alltag hilft schon ein kurzer Spaziergang zur Kantine oder morgens eine Station früher auszusteigen und den restlichen Weg zur Arbeit zu laufen. Nehmen Sie die Treppe statt den Aufzug und laufen Sie zum übernächsten Drucker statt zum nächstgelegenen.
Helfen diese ganzen digitalen Selbstvermesser eigentlich dabei, bewusster auf den Körper zu hören?
Wilhelmi: Das ist wie früher Kalorien zählen. Das kann man machen, aber es gibt ihnen letztlich nur einen Mittelwert. Man weiß doch eigentlich auch so, was gut ist.
Poletto: Sie helfen nicht wirklich, aber ich find ja solche Sachen immer super.
Wilhelmi: Ich habe ein Navigationsgerät im Auto. Wenn ich ein Ziel programmiert habe und mir das Gerät die Ankunftszeit anzeigt, versuche ich, diese Zeit zu schlagen, den Computer zu besiegen. So ist das mit den Apps auch.
Gibt es eine Schwelle, an der Disziplin in Freudlosigkeit, Verzicht in Geiz umschlägt?
Poletto: Ich verstehe zum Beispiel nicht die Menschen, die wohlhabend sind und nicht genießen können. Die sind Mitglieder in einem Aldi-Fan-Club und finden das auch noch lustig.
Wilhelmi: Ich glaube, Verzicht schlägt ins Falsche um, wenn er dazu führt, sich nichts mehr zu gönnen.