Aber hat sich nicht auch in Deutschland einiges getan? Immer mehr Leute ernähren sich dezidiert gesund, entdecken die vegetarische Küche und meiden Alkohol.
Ja, an den Rändern unserer Gesellschaft ist tatsächlich ein Wandel bemerkbar. Ich bin immer wieder von manchen jungen Menschen überrascht, die mir sagen, dass sie Alkohol doof finden. Das hätte ich mir mit Anfang 20 nicht vorstellen können. Es gibt heute allgemein ein viel stärkeres Gesundheitsbewusstsein. Aber wir sollten uns nichts vormachen: Die Mehrheitsgesellschaft hat genauso wenig aufgehört zu trinken, wie sie plötzlich aufgehört hat, Fleisch zu essen.
Aber gerade in der Wirtschaft begegnet uns doch immer mehr der Typ des sportiven Managers, der morgens um sechs für seinen nächsten Marathon trainiert.
Da ist wahrscheinlich etwas dran. Die holzvertäfelte Minibar im Büro oder mittägliche Geschäftsessen mit reichlich Alkohol gehören sicherlich einer anderen Zeit an. Und wenn sie nicht gerade auf der Büroweihnachtsfeier zu Gast sind, sollten Führungskräfte heute auch nicht angetrunken sein. Ein gewisser Kulturwandel macht sich da durchaus bemerkbar. Es hat sich auch in den Chefetagen herumgesprochen, dass man bessere Entscheidungen trifft, wenn man nicht zwei Flaschen Barolo intus hat. Trotzdem: Das Leitbild des fitten Wirtschaftsführers steht nicht im Gegensatz zum massiven Alkoholkonsum. Es wird weiter ordentlich getrunken. Schlendern Sie mal am späten Nachmittag durch die First Class der ICE-Züge, sehen Sie sich mal am Freitag in den Flughafen-Lounges um: Da wird der Frust des Tages runtergespült. Da entspannt man sich von einer harten Woche – mit Alkohol.
Die Droge Alkohol als Mittel gegen den Stress?
Natürlich. Alkohol ist eines der wirksamsten Sedative und das einzig vollumfänglich anerkannte Stressmanagementmittel in unserer Gesellschaft. Nach zwei, drei Gläsern Wein fühlt sich die Wirklichkeit gleich viel wärmer, weicher und freundlicher an. Trinken scheint das Leben tatsächlich schöner und erträglicher zu machen. Es versöhnt uns mit der Welt, wirkt wie ein Ballon, der uns fortträgt aus der Realität und ihre unangenehmen Seiten vergessen macht. Wenn auch nur vorübergehend – und um einen manchmal fatalen Preis.
Dann müsste die Stressgesellschaft eine Gesellschaft von Trinkern sein.
Abhängigkeit ist nicht nur ein medizinisches Phänomen, sie ist immer auch historischen und kulturellen Schwankungen unterworfen. Menschen haben schon immer getrunken, und das wird auch so bleiben. Nur leben wir heute in einer gesellschaftlichen Konstellation, die Abhängigkeit unterstützt. Wir leben in einer Zeit, in der viele Menschen unter einem noch nie da gewesenen Selbstoptimierungsdruck stehen – und innere Zwänge entwickeln, denen sie nur schlecht entkommen können. Denken Sie nur an die wichtige Burn-out-Diskussion der vergangenen Jahre. Zu den ersten Fragen, die Patienten in Burn-out-Kliniken gestellt werden, zählt: Wie viel trinken Sie? Glauben Sie, Sie haben ein Alkoholproblem? Das ist sicher kein Zufall.
Sie selbst sind seit drei Jahren nüchtern. Welches Wort beschreibt Ihr Leben seither besonders treffend?
Glück. Glück und Zufriedenheit. Das neue, das nüchterne Leben übertrifft alle Erwartungen. Sich den Problemen und inneren Konflikten zu stellen, vor denen man früher weggelaufen ist, zahlt sich aus. Man lernt, wie es ist, sich wirklich zu entspannen. Lernt, was man wirklich fühlt. Lernt, halbwegs authentisch durchs Leben zu gehen. Auch wenn das ein bisschen esoterisch klingt: Man schläft besser, beginnt Menschen besser zu verstehen und öffnet sich der Welt, mit ihrer Schönheit und ihren Konflikten. Das ist unbezahlbar.