Amy Chua In der Höhle der Tigerin

Amy Chua hat ihre Kinder rigide erzogen – und darüber ein provokantes Buch geschrieben. Wie hart ist die Frau, die sich "Tiger Mom" nennt, wirklich? Ein Hausbesuch.

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Amy Chua Quelle: dpa

Die Frau, die in ihrem Buch der eigenen Tochter damit droht, deren Stofftiere zu verbrennen, lebt in einem Märchenschloss. Ihre Villa in New Haven, Connecticut, ist dem britischen Tudorstil nachempfunden, mit Erkern, Giebeln, Türmchen und Fensterbögen. Die Hausherrin öffnet die Tür in Ugg Boots und Röhrenjeans, sie wirkt in diesem Haus mit seinen dunkel getäfelten Holzdecken, Säulen und Steinfußböden wie Besuch aus der Zukunft. Die schwarzen Haare fallen ihr offen über die Schultern, an den Ohrläppchen baumeln Kreolen, und in ihrem engen weißen T-Shirt hat die 48-Jährige die Ausstrahlung eines zierlichen Mädchens. Dabei ist Amy Chua, Tochter chinesischer Einwanderer, der Inbegriff einer Karrierefrau: Als Juraprofessorin konkurriert sie mit den schlauesten Köpfen des Landes. Mit ihrem Mann Jed Rubenfeld – amerikanischer Jude, ebenfalls Juraprofessor in Yale und Bestsellerautor – gehört sie zur amerikanischen Elite.

In westlichen Ländern eilt Chua der Ruf voraus, eine „Monster-Mom“ zu sein – oder zumindest die strengste Mutter Amerikas, wenn nicht der ganzen Welt. Es ist schwer zu sagen, womit Amy Chua am meisten provoziert hat. Vielleicht ist es Der kleine weiße Esel . So heißt das Klavierstück, das Chua ihre siebenjährige Tochter Lulu über Stunden hinweg ohne Unterbrechung üben ließ, bis es endlich saß. Seit solche aus ihrem Buch Die Mutter des Erfolgs zitierten Geschichten im Umlauf sind, wünschen zornige Leserinnen Chua wegen ihres drastischen Erziehungsstils schon mal den Tod. Ausgelöst wurde die Schockwelle vom Wall Street Journal, das unter dem herausfordernden Titel Warum Chinesinnen die besseren Mütter sind ein besonders krasses Kapitel vorab druckte. Wer ist diese Teenagermutter, die in Deutschland binnen kürzester Zeit Thilo Sarrazin auf der Bestsellerliste überholt hat und deren Buch auf der ganzen Welt diskutiert wird? Ist die „Tiger Mom“, wie sie sich selbst in ihrem Buch nennt, wirklich so unbarmherzig und rigoros?

Gastrednerin beim Weltwirtschaftsforum

Beim Gang durchs Haus jedenfalls legt sie eine unerwartete Lässigkeit an den Tag, achtlos kickt sie auf dem Fußboden verstreute Kleidungsstücke mit dem Fuß zur Seite und schließt eine Zimmertür, weil es „dahinter zu unordentlich aussieht“. Auf der Gästetoilette stapeln sich Bücher, ganz oben liegt "Über die Demokratie in Amerika" von Alexis de Tocqueville. Der Band gehört der Yale-Universitätsbibliothek und hätte, wie der Ausleihzettel verrät, im Oktober 1994 zurückgegeben werden müssen. Auch über den Billard- und den Pingpongtisch im Dachgeschoss wundert man sich sowie über das riesige Klettergerüst im Garten. In ihrem Buch macht Tiger Mom nicht den Eindruck, als verbringe sie mit ihren Töchtern viel Zeit beim Spielen.

Chua lässt sich erschöpft in ein Sofa fallen. Sie ist eben erst von Lesungen in Washington und Chicago zurückgekehrt, davor hat sie ihr Buch in London vorgestellt und ist als Gastrednerin beim Weltwirtschaftsforum in Davos aufgetreten. Zwischendurch hält sie Vorlesungen und Sprechstunden an der Yale Law School. „Es ist ein komisches Gefühl, plötzlich von so vielen Menschen gehasst zu werden. Ich bin eigentlich sehr gutmütig und gar nicht böse“, sagt Chua. Ihre Stimme ist unerwartet tief und rau, ein merkwürdiger Kontrast zur zarten Statur. Sie redet so schnell und nachdrücklich, als sei sie lange nicht mehr zu Wort gekommen.

Lauter verrückte Dinge

Wie erklärt sie sich denn das Entsetzen, das ihr Buch vielerorts ausgelöst hat? Viele hätten nur Auszüge gelesen oder Kolportagen gehört, verteidigt sich Chua. Längst nicht alles im Buch sei wörtlich gemeint. „Wissen Sie, in diesem Haus wird viel gelacht! Meine Töchter finden mich sehr lustig, und auch das Buch ist lustig! Ich meine, da erzählt eine wahnsinnige Person von lauter verrückten Dingen. Niemals würde ich die Stofftiere meiner Kinder verbrennen – das war ein Stilmittel, eine Übertreibung. Ich habe viele Situationen zugespitzt, um meine Position klarzumachen.“

Kann es sein, dass im Getöse, das diese Übertreibungen ausgelöst haben, ein bisschen untergegangen ist, dass Amy Chua einen sehr persönlichen Erfahrungsbericht darüber geschrieben hat, wie man als traditionsbewusste Asiatin im Herzen der westlichen Welt seine Kinder großzieht?

Wenn das stimmt, könnte es auch daran liegen, das Chua ihr Buch in einem so selbstbewussten Ton geschrieben hat, dass es zuweilen rechthaberisch wirkt. Zudem setzt sie sich mit großer Entschiedenheit von der westlichen Praxis ab, Kinder ihren Weg selbst bestimmen zu lassen. Manche haben das als Kampfansage interpretiert – zumal der Originaltitel des Buches Battle Hymn of a Tiger Mother Kriegsgeschrei suggeriert. Darauf angesprochen, schüttelt Chua heftig den Kopf: „Die Battle Hymn ist kein Triumphmarsch, sondern eine sehr traurige Hymne, die auf Beerdigungen gespielt wird.“

Auch Chua war sentimental, als sie ihr Buch zu schreiben begann: „Es war für mich Therapie im Moment einer großen Niederlage.“ Nach langen, zermürbenden Auseinandersetzungen hatte sie ihrer jüngeren Tochter gestattet, das Geigespielen aufzugeben und stattdessen mit Tennis zu beginnen. Der Tigermutter brannte das Herz – schließlich hatte die hochmusikalische Lulu es nach Jahren harter Arbeit zu großer Virtuosität gebracht. Schreibend wollte Chua herausfinden, woran sie gescheitert war. „Ich habe nie anderen vorschreiben wollen, wie man seine Kinder erzieht“, sagt Chua.

Hohe Erwartungen

Ist Tiger Mom am Ende gar keine pädagogische Dogmatikerin? Was bleibt, wenn man die Übertreibungen aus ihrem Buch herausrechnet? Ohne zu zögern, beginnt Tiger Mom eine längere Aufzählung: „Am wichtigsten sind hohe Erwartungen. Damit signalisiere ich meinen Kindern, dass ich unerschütterlich an sie glaube. Zweitens wachsen meine Kinder ein bisschen langsamer und traditioneller auf als westliche Kinder. Sie haben viele Freunde und sind sehr beliebt – aber sie verbringen nicht so viel Zeit bei anderen Leuten. Drittens lasse ich es niemals durchgehen, dass meine Kinder schlechte Leistungen durch Ausreden entschuldigen. Viertens sage ich immer aufrichtig meine Meinung, und fünftens bin ich überzeugt davon, dass Kinder im Alter von acht bis vierzehn viel Struktur und wenig Auswahlmöglichkeiten brauchen.“

Innerhalb der Familie spielt Tiger Mom die Rolle der Antreiberin. Sie pfeift ihren Mann zurück, wenn er zu lange mit den Kindern im Spaßbad bleibt. Sie sorgt dafür, dass die Kinder Zahnseide benutzen und rechtzeitig im Bett liegen, um am nächsten Tag leistungsfähig zu sein. Als sie mit ihrem Buch auf Lesereise war, ermahnte sie ihre Tochter per SMS: „Vergiss nicht, dich auf die Mathe-Arbeit vorzubereiten!“

Chua leugnet im Gespräch nicht, für ihre Kinder eine Zumutung zu sein. Auch wenn sie einige Buchpassagen jetzt relativiert, hält sie an ihrer Grundaussage fest: Wer seine Kinder liebt, fordert sie bis zum Äußersten. Im Zentrum ihrer Erziehungsphilosophie steht das Musizieren. Aber es geht ihr nicht um Leistung nur um der Leistung willen: „Erst wenn man etwas gut kann, macht es auch Freude“, davon ist Chua überzeugt. Im Buch schreibt sie: „Klassische Musik ist das Gegenteil des Vulgären und Verwöhnten.“ Die Herausforderung, sich ein Stück zu erarbeiten und schließlich zu beherrschen, bildet den Charakter und kann auf alle möglichen Lebenssituationen übertragen werden, glaubt Chua. Deshalb lässt sie beim Spiel keinen Patzer durchgehen. Als sich ihre ältere Tochter Sophia ans Klavier setzt, um für die Fotografin des ZEITmagazins ein paar Takte zu spielen, unterbricht ihre Mutter: „Deine Finger sind zu flach!“, und Sophia seufzt genervt.

Erziehung übernehmen

Sophia, in der Familie Soso genannt, trägt an diesem Februartag Jeans und ein eng anliegendes Top – wie die meisten amerikanischen Mädchen in ihrem Alter. Im Gespräch beantwortet sie jede Frage höflich und zuvorkommend, aber man spürt, dass sie sich in dieser Rolle nicht wohlfühlt. Verglichen mit ihrer lebhaften Mutter, wirkt die 18-Jährige zurückhaltend. Sie spricht mit sanfter Stimme, überlegt sich jeden Satz genau – wohl wissend, dass man den Erfolg der mütterlichen Erziehungsmethode daran misst, wie gelungen ihre Kinder sind. Sie muss beweisen, dass es möglich ist, jeden Tag stundenlang Klavier zu üben, obendrein für die Schule zu lernen – und trotzdem glücklich zu sein. Nach den glücklichsten Momenten ihrer Kindheit gefragt, antwortet Sophia: „Ein paar Konzerte haben sich eingeprägt, vor allem eins in Budapest. Die Resonanz des Publikums hat es elektrisiert – noch während des Vorspiels haben sie mit den Füßen gestampft und geklatscht.“

Als Amy Chua so heftig angegriffen wurde, schrieb Sophia einen offenen Brief an die New York Post – zunächst gegen den elterlichen Willen und völlig ohne Hilfe, wie Mutter Chua betont. Im Brief ironisiert Sophia souverän ihre Rolle als vermeintlich angekettete Tiger-Tochter, die ab und zu aus dem Käfig herausdarf, um im Keller Mathe-Spiele zu machen. „Meine Vorstellung von einem erfüllten Leben hängt nicht mit Siegen zusammen. Sondern mit dem Bewusstsein, sich selbst an die Grenzen der eigenen Möglichkeiten zu bringen. Wenn ich morgen sterben würde, täte ich das mit dem Gefühl, mein Leben zu 110 Prozent gelebt zu haben. Und dafür, Tiger Mom, danke ich Dir“, schließt ihr Schreiben. Weniger schöne Erinnerungen verbindet sie mit einsamen Nächten, in denen sie sich zu Hause am Klavier mit einer Partitur quälte; eine Passage wieder und wieder spielte, ohne dass ihre Hände das umsetzten, was sie im Kopf hatte. Aber letztendlich sei das Klavier eben ein Teil ihrer Identität. „Es fordert und tröstet mich und bereitet mich auf die Zukunft vor. Ich weiß noch nicht genau, was ich mal machen will, weil ich in allem ziemlich gut bin. Was immer es sein wird – ich freue mich drauf.“ Eigene Kinder möchte Sophia später so erziehen, wie sie selbst es erlebt hat. „Sie sollen eine Sache besonders gut können – ein Instrument oder eine Sportart. Irgendetwas, das nur ihnen gehört.“ Aber, räumt sie ein, anders als ihre Mutter würde sie früher nachgeben, wenn ein Kind wie im Fall ihrer Schwester Lulu dem Musizieren nichts mehr abgewinnen kann.

In ihrem Buch behauptet Chua, es mache ihr nichts aus, der Buhmann der Töchter zu sein: „Meinetwegen sollen sie mich beide hassen.“ Eine Tigermutter nimmt die vielen Tränen und Streitereien, die es mit sich bringt, wenn man Kinder zum Üben anhält, klaglos in Kauf. Auch eine Übertreibung, oder ist das wirklich so? „Natürlich nicht! Es ist schmerzhaft und anstrengend, immer dagegenhalten zu müssen. Aber wenn ich den Weg des geringsten Widerstands ginge, wäre ich keine gute Mutter“, sagt Chua. Im Gespräch wirkt sie weicher und zweifelnder als im Buch. Und erschöpfter. Man ahnt, wie viel Kraft es Tiger Mom gekostet hat, den hohen Anspruch all die Jahre durchzuhalten. „Ich beneide Leute, die in Ruhe einen Sonnenuntergang betrachten können – dafür bin ich zu ungeduldig.“ Glück definiert sie als delayed gratification – als hinausgezögerte Erfüllung. Etwa wenn sie mit ihrer Tochter monatelang ein schweres Mendelssohn-Stück einstudiert und sie dann beim Vorspiel erlebt. Das Gefühl von Stolz und Freude in diesem Moment, sagt Chua, komme ihrer Glücksvorstellung sehr nahe.

Nerv getroffen

Auch in ihrer Erschöpfung kann Chua nicht lange still sitzen. Mitten im Gespräch springt sie auf, um die Hunde Coco und Pushkin rauszulassen. Mit weit ausholenden Schritten rennt sie so schnell durchs Haus, als könne sie so Zeit für Wichtigeres einsparen. Noch im Laufen erzählt sie atemlos, dass sie gar nicht damit gerechnet habe, jemals einen Verlag für ihr Buch zu finden. Auch ihre Mutter habe gesagt, niemand werde sich für Tiger Moms Geschichten interessieren, denn sie sei ja nicht prominent. Umso überraschender trafen die Familie die heftigen Reaktionen und die Feindseligkeit, die das Buch auslöste.

Nach dem Erscheinen forderte eine amerikanische Journalistin Chua auf, sich öffentlich bei ihren Kindern zu entschuldigen. „Leute, die ihre Kinder jeden Tag stundenlang fernsehen lassen, kritisieren mich jetzt dafür, dass ich meine Töchter zwinge, regelmäßig ein Instrument zu spielen und gewissenhaft Hausaufgaben zu machen“, empört sich Chua. Kerzengerade sitzt sie im Sofa und reißt ihre Augen vor Entrüstung so weit auf, dass sie aus dem puppenhaften Gesicht zu fallen drohen. Andererseits scheint Amy Chua trotz aller Kritik einen Nerv getroffen zu haben, sonst würde sich das Buch nicht so gut verkaufen. Auch hierzulande ist man irritiert, wenn beim Vorspielabend der Schule eine stümperhafte Darbietung auf die andere folgt – und vom Applaus der Eltern quittiert wird. Man zweifelt, ob der pädagogische Fetisch „freies Spiel“ und „Freiarbeit“ bei Kindern tatsächlich zu Leistungsbereitschaft führt. Und manch einer bewundert Amy Chua vielleicht insgeheim für ihre Konsequenz und Entschiedenheit.

Die berüchtigte Liste

Auf der ersten Seite ihres Buches zählt Tiger Mom auf, wozu sie ihre Töchter verpflichtet hat – die berüchtigte Liste. Keine Geburtstagspartys besuchen zum Beispiel. Immer die Bestnote bekommen. Nicht im Schultheater mitspielen, weil das Zeitverschwendung ist, und nicht bei Freundinnen übernachten. Chua sagt, ihre eigene Kindheit habe sie zu dieser Liste inspiriert. Ihre Eltern hätten die aufgezählten Prinzipien kompromisslos und mit bitterem Ernst angewandt, sie selbst lasse inzwischen Ausnahmen zu. „Wenn meine Kinder leidenschaftlich gerne Theater spielen wollten, dürften sie das natürlich. Ab und zu übernachten sie auch bei Freunden. Aber sie sind nicht glücklich, wenn sie zurückkommen. Sie sind müde und gereizt.“ Nur bei den Schulnoten fährt die Tigermutter die harte Linie ihrer Eltern: „Das Ziel ist die Eins und nicht die Eins minus. Meine Kinder müssen nicht zwingend die Besten sein – aber sie sollen versuchen, zu den Besten zu gehören. Letztlich geht es nicht um Noten und Auszeichnungen – sondern darum, das eigene Potenzial zu erkennen.“

Wie bei allen Müttern ist auch der Erziehungsstil von Tiger Mom stark von den eigenen Kindheitserfahrungen geprägt. Die Wehmut über den Verlust der Heimat klingt im Buch an, auch die Einsamkeit von Einwanderern. Chuas Eltern sprachen kein Wort Englisch, als sie in Amerika landeten. Ihre Töchter schickten sie mit Thermosgefäßen voll chinesischen Essens in die Schule und verboten ihnen, Jeans anzuziehen. Amy schmuggelte heimlich Klamotten in die Schule und zog sich auf der Toilette um. Der Liebe zu ihren Eltern tat das keinen Abbruch: „Meine ungewöhnliche Familie gab mir Kraft und Selbstvertrauen.“ Die Eltern vermittelten ihr traditionelle chinesische Werte wie Respekt und Gehorsam, und in der Schule lernte Chua ein System kennen, das Kindheit als Zeit der Spontaneität und Freiheit definiert. Irgendwo zwischen den Extremen hat sich ihr eigener Erziehungsstil eingependelt.

Ihren selbst gewählten Spitznamen Tiger Mom erklärt Chua mit dem chinesischen Horoskop – sie wurde 1962, im Jahr des Tigers, geboren. Chua identifiziert sich mit der kraftvollen Energie und der Vormachtstellung des Tigers. Außerdem soll der Tiger sehr liebesfähig sein. Die Synthese dieser Merkmale macht eine Tigermutter aus: Sie verbindet Liebe mit hohen Anforderungen. „In chinesischen Immigrantenfamilien ist diese Liebe mit viel Schmerz verbunden“, sagt Chua. Schmerz, der durch Isolation entsteht. Es macht einsam, wenn man sich nicht zum Spielen verabreden kann, weil man Klavier üben muss. Oder wenn man nicht bei anderen Kindern übernachten darf.

Auf der Lesung in Washington am Vorabend hätten sich eine Reihe asiatischer Immigranten bei ihr für das Buch bedankt, erzählt Chua. „Einer meinte: Endlich verstehe ich meine Eltern!“ Ein paar Mütter hätten ihr verschwörerisch zugeblinzelt und gesagt: „Wir sind auch Tigermütter, und unsere Kinder entwickeln sich prima...“ Es klingt, als sei Chuas Buch für einige ein Befreiungsschlag – ein lange überfälliger Beweis, dass Pädagogik asiatischer Prägung nicht zwingend seelenlose Roboter heranzieht, die zwar viel können, aber so unglücklich sind, dass sie sich mit achtzehn vom Hochhaus stürzen. Als hätten Eltern – egal ob asiatischer oder westlicher Prägung–, die ihren Kindern viel abverlangen, auf Chuas Coming-out gewartet.

Mehr Alternativen lassen

Am frühen Abend kommt Lulu Chua-Rosenfeld – die jüngere, rebellische Tochter – nach Hause. Sie hat ein Tennisturnier gespielt und, natürlich, gewonnen. Die 15-Jährige ist, wenngleich auf eine physischere Art, ähnlich raumgreifend wie ihre Mutter – sie poltert in die Eingangshalle herein, schleudert ihren Schläger in die Ecke und schaut dem Besuch aus Deutschland herausfordernd in die Augen. Wo sie mal hinwill? Lulu macht eine wegwerfende Handbewegung. „Keine Ahnung. Auf jeden Fall hat es nichts mit Mathe oder Naturwissenschaft zu tun. Momentan macht mir Facebook am meisten Spaß.“ Sie rollt mit den Augen und schiebt flüsternd hinterher: „Ich bin süchtig!“ Sie wirkt freier als ihre Schwester, hat weniger Angst, einen Fehler zu machen.

Lulu hat ihre Mutter veranlasst, ihre Strategie zu überdenken. Einiges, so Amy Chua, würde sie rückblickend anders machen: nicht so viel herumschreien zum Beispiel. Mehr Alternativen bei der Auswahl der Instrumente zulassen („Meinetwegen dürften sie auch Cello oder Flöte spielen – aber keinesfalls das Tamburin!“). Und sie würde mehr auf die individuellen Persönlichkeiten ihrer grundverschiedenen Töchter eingehen. Sie hat aus ihren Fehlern gelernt und bleibt wochentags extra länger im Büro, um Lulu zu Hause Freiraum zu lassen. Auch Facebook ist jetzt erlaubt – obwohl Tiger Mom Zweifel hat, ob das richtig ist. „Ich lasse zwei Stunden Facebook zu – und sie will immer mehr!“

„Wie würdest du deine Mutter charakterisieren, Lulu?“

„Sie glaubt an sich selbst. Und an uns. Und an die Hunde.“

Drill und Herzenswärme

Es ist Abend geworden. Tiger Mom regt an, noch schnell ein Gruppenfoto mit beiden Töchtern zu machen – „sonst denkt man, du willst dich neben mir nicht sehen lassen, Lulu!“. Doch Lulu will sich im verschwitzten Tennis-Outfit nicht ablichten lassen. Zwischen Mutter und Tochter entwickelt sich ein neckischer Ringkampf, die beiden tänzeln umeinander und versuchen, sich zu packen. „Hör auf, Mom!“, wehrt Lulu ab und lacht ein breites Zahnspangenlachen. Man hatte sich die Tigermutter als eine Art Fräulein Rottenmeier vorgestellt, die ihre Tochter, die Peitsche griffbereit, mit schneidender Stimme maßregelt. Stattdessen trifft man eine lustige Person, die das Vorurteil widerlegt, eine rigide Erziehung schließe automatisch Hartherzigkeit und Humorlosigkeit mit ein. Tiger Mom zeigt, dass Drill und Herzenswärme keine Gegensätze sind.

Den Ringkampf verliert sie, und nachdem sie sich von dem Besuch aus Deutschland verabschiedet hat, läuft Chua die Treppe hinauf, um sich umzuziehen, Freunde aus New Haven veranstalten ihr zu Ehren eine Buchparty. Auf halbem Weg dreht sie sich um und ruft: „Lulu, du musst noch Bio machen! Hörst du? Bevor wir gehen, bist du mit Bio fertig.“

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