Anzüge vom Schneider So kleidet sich der Mann nach Maß

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Maßgeschneiderte Garderobe ist ein teurer Spaß


Das wirklich individuelle Stück vom Schneider fängt in der Regel bei 2800 Euro an. Darunter ist in der Regel nichts zu machen. Schließlich kommen die Stoffe nicht vom Stoffdiscounter im Internet, sondern von SCABAL in Brüssel oder der Wiener Stoffhandlung Wilhelm Jungmann & Neffe, bei der schon Kaiserin Sissi Stoffe für ihre Ballroben kaufte.

Vom Knopfloch bis zur Bundfalte wird alles per Hand geschnitten, gesäumt und in Form gebügelt. „Wenn man 60 Stunden für einen Anzug zugrunde legt und die dann mit einem Stundensatz multipliziert, der in Europa realistisch ist, wird schnell klar, was es mit ‚Maßanzügen‘ für 300 bis 600 Euro auf sich hat“, schreibt Roetzel.

Wenn der Schneideranzug mit allen Schikanen 5000 Euro kostet, der Designeranzug von der Stange dagegen nur 500 Euro, ließe sich der hohe Preis natürlich nur schwerlich mit zehnmal so guter Qualität rechtfertigen. Für Roetzel selbst seien Maßanzüge eine Art wie Hobby, so wie andere teure Autos schätzen. Und schließlich frage bei einem teuren Sportwagen auch keiner nach, ob es nicht der billige gebrauchte Golf auch getan hätte.

Die wichtigsten Fachausdrücke rund um den Anzugstoff

Ein Anzug macht unempfindlicher gegen Kritik

"Formelle Kleidung bewirkt, dass wir uns mächtig fühlen, und das verändert unsere grundsätzliche Sicht auf die Welt", sagt der Forscher Abraham Rutchick von der California State University in Northridge. Er hat zusammen mit Kollegen die Wechselwirkung von Kleidung und Denken untersucht. Das Ergebnis: Je formeller sich Menschen kleiden, desto besser lösen sie abstrakte Probleme und desto unempfindlicher werden sie für Kritik. In der Vergangenheit haben bereits mehrere Wissenschaftler belegt, dass Kleider Leute machen und neben der Fremd- auch die eigene Wahrnehmung beeinflussen.

Mit Preis und Herstellung der Garderobe hat das allerdings nichts zu tun. Wer förmlich gekleidet ist, legt eine andere Distanz zu sich selbst und seiner Umwelt an den Tag, so das Ergebnis der Forscher aus Northridge. Das schafft aber auch der Billiganzug aus dem Kaufhaus.


"Wer keinen Spaß an Mode hat, sollte die Finger davon lassen"

„Gründe für den Maßanzug gibt es viele, wirklich rational sind sie alle nicht“, sagt Roetzel. Er vergleicht die Frage Schneiderkunst oder Konfektion mit dem Essen am Schnellimbiss oder dem im guten Restaurant: Satt wird der Kunde bei beiden. Wo er hingeht, ist Geschmacksache.
Für wen sich maßgeschneiderte Garderobe eignet, lässt sich also schlecht sagen. Auch Geld sei kein Argument für oder gegen den individuellen Anzug oder das individuelle Kostüm. Zum einen gibt es laut Roetzels Beobachten sowohl Milliardäre, schlecht sitzende Konfektionsanzüge tragen und kleine Angestellte, die sich den teuren Schneideranzug gönnen, weil sie Spaß daran haben. Man könne jedoch ganz klar sagen, wer die Finger von Maßkleidung lassen sollte: „Wer keinen Sinn für Stoffe, Passform und Handarbeit hat und bei der Anprobe keine Freude empfindet, sollte bei der Konfektion bleiben.“, sagt Roetzel.

Welche Faserarten bei Anzügen zum Einsatz kommen

Denn unterscheiden kann der Laie die Anzüge ohnehin nur schwer. Wer erkennt schon den Unterschied zwischen einem handgenähten und einem industriell gefertigten Knopfloch, wenn er sich für Mode nicht interessiert? Laut Roetzel gibt es natürlich Details, die zuverlässig auf das Erzeugnis eines guten Ateliers hindeuten: Er spricht von der perfekten Harmonie zwischen Weste und Hose. War ein Schneider am Werk, bedeckt die Weste den Hosenbund, egal wie hoch oder tief die Weste sitzt. Hosen von der stange sind in der Regel tief geschnitten. Wer dann eine lange Weste dazu kauft, damit das Hemd nicht hervorlugt, verlängert optisch seinen Oberkörper, was unfreiwillig komisch aussehen kann.

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Grundsätzlich gilt: Echte Maßkleidung wird von einem Schneider oder einem Hemdenmacher nach einem individuell erstellten Schnittmuster als Einzelstück anfertigt. Ist also das rechte Bein länger als das linke, werden auch die Hosenbeine entsprechend ausfallen. Wer dagegen einen Anzug von der Stange kauft, hat entweder rechts Hochwasser oder links ein zu langes Hosenbein. „Das individuelle Schnittmuster berücksichtigt Ungleichmäßigkeiten bei der Figur des Kunden und geht auf die Proportionen seines Körpers ein, was bei einem Anzug von der Stange nicht möglich ist“, sagt Roetzel.


Allgemein wird der Trend zur Individualisierung aber nicht so weit führen, dass künftig alle maßgeschneiderte Kleidung tragen oder sich ihr Wunschprodukt im Internet zusammenstellen. „Es wird immer eine Nische sein. Die meisten Kunden wollen in den Laden gehen und das Produkt mitnehmen“, prognostiziert Frank Piller vom Lehrstuhl für Technologie- und Innovationsmanagement an der RWTH Aachen. „Erstmal zahlen die Leute nur für das Erleben. Dauerhaft werden sie nur dafür zahlen, wenn sie einen funktionalen Nutzen haben.“

Die Frage ist nur, wie man zum richtigen Schneider findet, wenn man Lust auf das Erlebnis maßgefertigtes Produkt hat: Soll es der renommierte Londoner Herrenschneider sein oder tut es auch das Atelier um die Ecke?

„Das namenlose Atelier an der Ecke muss nicht unbedingt eine schlechte Wahl sein, doch auf welcher Qualitätsstufe dort wirklich gearbeitet wird, stellt sich leider erst bei der ersten Anprobe heraus. Und zu diesem Zeitpunkt hat man immerhin schon eine nicht unbeträchtliche Anzahlung geleistet“, erklärt Roetzel. Es kann also nicht schaden, sich vorher umzuhören. Auf jeden Fall sollte man sich vor Ort Arbeitsproben vorlegen lassen.


Einen Tipp hat Roetzel noch für die Suche nach dem passenden Handwerkskünstler: Sich spontan sympathisch zu sein, sei zwar keine Garantie für gute Arbeit, eine Voraussetzung für ein gutes Verhältnis zwischen Kunde und Schneider sei es aber allemal. Vor dem Maßnehmen braucht sich übrigens niemand Sorgen zu machen oder sich zu genieren, schreibt Roetzel. Die Frage, ob der Herr Rechts- oder Linksträger ist, würde nämlich nur dann gestellt, wenn die Hose extrem eng sitzen soll. Und das ist bei Anzügen in der Regel nicht der Fall.

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