Architekturkritik Wie unförmige Bauten Städte entstellen

Der Wettbewerb der Spektakelbauten nimmt immer groteskere Züge an. Höchste Zeit zur Rückbesinnung auf das Ensemble. Eine lebenswerte Stadt entsteht nicht durch solitäre Riesenplastiken.

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Musée des Confluences in Lyon Quelle: Creative Commons - Bahnfisch

Wer vor drei Jahren die Schnellstraße durch Lyon Richtung Süden nahm, kam an einer Baustelle vorbei, die einem Trümmerfeld glich: wild durcheinander gewirbelte, dramatisch ineinander verkeilte Stahlträger, als habe hier soeben ein Tornado gewütet. Nähert man sich heute aus umgekehrter Richtung der französischen Metropole, reckt sich einem schon von Weitem ein furchteinflößendes Metallmonster entgegen, ein futuristisches Großinsekt, das den Trümmern entstiegen ist, um sich wie in einem Horrorstreifen der B-Klasse über die Landzunge am Zusammenfluss von Rhône und Saône herzumachen – das Musée des Confluences, ein Wissenschaftsmuseum mit den Schwerpunkten Technik und Natur, in einem Monat wird es eröffnet. Der mächtig ausgreifende Koloss, der erkennbar schwer an seinen Ambitionen trägt, ist das jüngste Mahnmal städteplanerischen Ehrgeizes. An der Spitze einer ehemaligen Industriebrache südlich der City erhält Lyon ein neues Entrée, ein skulpturales Supersymbol, umtost von Verkehr, das den Nicht-Ort zum Kult-Ort promovieren soll: Architektur von Coop Himmelb(l)au, typisch dröhnendes Stahl-Glas-Spektakel im Dienst des City-Branding.

Die größten Wolkenkratzer der Welt
Grafik des fertigen World One in Mumbai, Worli Quelle: Lodha Group
432 Park Avenue Quelle: Creative Commons Lizenz - Kohei Kanno
One57 Quelle: dpa
Mercury City Tower Quelle: dapd
Mercury City Tower Quelle: REUTERS
Moscow City Complex Quelle: dapd
Tokyo Sky Tree Quelle: dpa

Feingeister mögen von Entertainment-Architektur sprechen, von gebauter Reklame. Doch die Strategie hat sich bewährt, spätestens seit Frank O. Gehry Mitte der Neunzigerjahre im nordspanischen Bilbao die Architektur zum Tanzen gebracht hat. Mit den schwingenden Formen des Guggenheim-Museums bewies der kanadische Baumeister, dass moderne Architektur ein glänzendes Marketinginstrument ist. Die ehedem kunstferne Provinzkapitale mit darniederliegender Schwerindustrie wurde zu einem Wallfahrtsort des Architekturtourismus – und Gehry, der Großmeister des biomorphen Bauens, zum Pionier eines Städtewettbewerbs um Aufmerksamkeit.

Stadtpolitik als Bildpolitik

Der sprichwörtlich gewordene „Bilbao-Effekt“ prämiert seither eine Bauproduktion, die auf demonstrativ verblüffende, unverwechselbare, überwältigende Wirkungen abzielt: wackelnde Wände, schiefe Ebenen, spektakuläre Karambolagen als architektonische „special effects“. Der Stadtplaner Georg Franck spricht vom „Funktionalismus der Auffälligkeit“. Eine Architektur, die im Dienst der Werbung steht, wird zum „Medium der Massenattraktivität“, muss „nicht nur Geld, sondern Aufsehen verdienen“. Ihre Aufgabe besteht darin, einprägsame Logos zu schaffen, die als Wunschbilder städtischer Identität fungieren: „Seht her, so bin ich!“

Längst gehört es zur Planungspraxis der Städte, im Schulterschluss mit „Star“-Baumeistern Architektur als unverwechselbare Marke einzusetzen, als visuelle Visitenkarte. Der „fotografische Blick“, resümiert die Stadtsoziologin Martina Löw, ist „zum dominanten Blick in der Stadtwahrnehmung geworden, für Investoren wie für Touristen“. Stadtpolitik sei heute „Bildpolitik“, weil der Tourismus sich durch die Allgegenwart der Bilder in Reisemagazinen und Prospekten verändert habe. Anders als früher bereisen Besucher heute Städte nicht mehr, um vor Ort ihre Attraktionen im Original zu bestaunen, sondern um sich das fotografisch und filmisch längst Bestaunte vor Ort und im Original bestätigen zu lassen. Jeder Tourist hat lange vor seiner Reise nach Bilbao das zu erlebende Gehry-Image der Stadt im Kopf – und reist nach Bilbao, um dessen Gültigkeit einzufangen.

Kein Wunder, dass selbst altehrwürdige Metropolen an ihrem Image bauen. In Paris ist soeben das Museum der Fondation Louis Vuitton eröffnet worden. Mitten im Bois de Boulogne spreizt sich der neueste Gehry-Bau mit seinen monumentalen Glasflügeln auf, als gehe es darum, aller Welt zu beweisen, dass Paris immer noch ewig junge, sprühende Avantgarde sei (und der Bauherr, LVMH-Chef Bernard Arnault, sich als Erbe der Monarchen verstehen dürfe).

Frankfurt begrüßt den EZB-Neubau

Und in Frankfurt wird Anfang kommenden Jahres die neue Heimstatt der Europäischen Zentralbank eröffnet, wieder ein Bau der Marke Coop Himmelb(l)au. Auf der früheren Brache im Frankfurter Ostend, in respektheischender Distanz zu den Wolkenkratzern der City, haben es die Wiener „Gaudiburschen“ (Georg Franck) um Büro-Chef Wolf Prix ordentlich krachen lassen. Auf den sachlich-expressionistischen Klotz der Großmarkthalle von Martin Elsässer aus dem Jahr 1928 haben sie einen groben, fantastisch-neoexpressionistischen Keil in Gestalt eines 185 Meter hohen Doppelturms gesetzt, dessen Außenwände nach oben hin merkwürdig verdreht und verzogen wirken – gerade so, als würde der Turm in Schieflage geraten. Ein Kommentar zu den Schuldenkrisen, die unsere Wirtschaftswelt erschüttern? Ach was. An einer kritischen Interpretation des Kapitalismus im Zentrum der deutschen Hochfinanz ist Prix nicht gelegen, im Gegenteil: Stolz und prahlerisch prangen die Türme wie eine Geldwalhalla über Frankfurt.

Wolf Prix vor dem imposanten EZB-Neubau Quelle: REUTERS

Vielleicht kann man den in jeder Hinsicht schrägen Bau nur verstehen, wenn man die Entwurfsidee kennt: Prix hat einen Quader mit einem kurvigen Schnitt getrennt und eine Hälfte auf den Kopf gestellt, sodass die kurvigen Seiten der beiden Teile nach außen zeigen.

Heraus kommt eine absichtsvoll verwirrende Raumfigur, von der sich ihr Schöpfer einen Wow-Effekt verspricht: „Das wird man sich merken“, hat Prix prophezeit – und die Vorgaben des Bauherrn damit voll erfüllt: einen Bau zu schaffen, der eine Ikone darstellt. Der Blick findet keinen Halt an den stürzenden Perspektiven der Fassade. Das soll er auch nicht: Ruhestörung gehört bei Coop Himmelb(l)au zum Programm, seit den Siebzigerjahren, als die selbst ernannten Wolkenschieber und Rolling-Stones-Fans die Architekturwelt durcheinander wirbelten. Erst mit Parolen, die zu einer Architektur aufriefen, „die leuchtet, die sticht, die fetzt und unter Dehnung reißt“. Dann mit realen Bauten, einer Art Antiarchitektur, die bekannte Bau-Konventionen aufs Korn nahm.

Dynamisch bewegte Bauten

Die Störung des Baukörpers und seine gezielte Dekonstruktion wurden zum Markenzeichen einer ganzen Generation: Architekten wie Daniel Libeskind, Frank O. Gehry, Wolf Prix und Zaha Hadid zogen aus, den Funktionalismus der Sechziger-, Siebzigerjahre das Fürchten zu lehren, mit dynamisch bewegten Bauten, deren Winkel aggressiv zugespitzt wurden wie bei Libeskind und Hadid oder mit dem heiter-verspielten Pop-Interventionen eines Gehry. Was die Riege der sogenannten Dekonstruktivisten bei aller Unterschiedlichkeit eint, ist der Wille zum Extravaganten, zum effektvoll Deformierten, zum demonstrativ auffälligen Signet. Der Gestus der Unangepasstheit, der Provokation des Althergebrachten macht sie so attraktiv: Was als Anschlag auf die Bauwirtschaftsmoderne begann, wurde zum Modell für das Corporate Design der Städte.

Zehn spektakuläre Gebäude bei Dunkelheit
Marina Bay Sands, SingapurErst 2010 eröffnet und schon das Wahrzeichen Singapurs: Das Marina Bay Sands Hotel. Bei Dämmerung bereiten sich die Drillingstürme, die über eine Plattform mit Swimmingpool verbunden sind, auf ihren großen Auftritt vor. Quelle: REUTERS
Marina Bay Sands, SingapurNachts setzt eine Lasershow das Gebäudeensemble in Szene. Quelle: dpa
Super Trees, SingapurHinter dem Marina Bay Sands wartet schon das nächste Architektur-Highlight. Die Super Trees sind mit Pflanzen bewachsene Stahlgerüste, die der Zucht seltener Pflanzen dienen. Quelle: Gemeinfrei
Super Trees, SingapurVor allem bei Dunkelheit wirken die Riesen wie Bäume von einem anderen Stern. Quelle: dpa
Ciudad de las Artes y de las Ciencias, ValenciaSchon bei Sonnenuntergang wirkt die "Stadt der Künste und Wissenschaften" in Valencia spektakulär. Die außergewöhnliche Architektur macht dem Namen des Komplexes alle Ehre. Quelle: Juandec, Creative Commons, CC BY 2.0
Ciudad de las Artes y de las Ciencias, ValenciaNoch futuristischer wirkt das Ensemble bei Nacht. Quelle: Jorge Franganillo, Creative Commons, CC BY 2.0
Banpo-Brücke, SeoulTagsüber ist die Banpo-Brücke in Seoul eine schnöde Balkenbrücke. Warum sie im Guinness-Buch der Rekorde steht, offenbart sich erst bei Dunkelheit. Quelle: Jordi Sanchez Teruel, Creative Commons, CC BY-SA 2.0

Inzwischen auch zum Imageinstrument asiatischer Semidiktaturen, die sich Denkmäler ihrer Autorität und Fortschrittlichkeit setzen. Der Berliner Architekt Jürgen Mayer H etwa, dem das südspanische Sevilla das Implantat einer hölzernen Pilzlandschaft auf dem zentralen Platz der Altstadt verdankt, hat für seine Marshmallow-Bauten Abnehmer in Georgien gefunden. Und Zaha Hadid hat zuletzt mit dem Kulturzentrum in Aserbaidschans Hauptstadt Baku für Aufsehen gesorgt: Die glamouröse Plastik einer Riesenwelle aus weißem Beton ergießt sich in die Stadtlandschaft. Ihr Entwurf für das Performing Arts Center in Abu Dhabi zeigt, wohin die Reise geht: Die Formen werden biologisch-fluid, statt scharfer Kanten und Keile konturieren nun weiche, zerfließende Kurven das Bauprofil. Die digitalen Entwurfstechniken laden zu gestalterischen Freiheiten ein, wie man sie früher nicht kannte. Die Auffälligkeit wird geschmeidiger – und bleibt doch, was sie ist: bloßer Selbstzweck.

Die Folge ist ein Wettbewerb der Überspanntheiten, bei dem Architektur wie Publikum mittlerweile aus der Puste geraten. „Der Aufmerksamkeits- und Erregungswert dieser terroristisch-touristischen Dauerprovokationen gerade im Kulturtourismus ist weiterhin hoch“, sagt der Architekturtheoretiker Michael Mönninger, „doch die anhaltende Serienfabrikation von angeblich unverwechselbaren Unikaten stößt an die Grenze des öffentlichen Auffassungsvermögens.“ Libeskind in Berlin oder New York sei noch „ein Statement“ gewesen, aber Libeskinds neue Uni-Aula in Lüneburg, ein Abklatsch seiner Metropolen-Bauten in der Provinz, sei „deplatziert“.

Ehemalige Raumkunst weicht medialer Bildwirkung

Fritz Neumeyer, Professor für Architekturtheorie an der TU Berlin, spricht vom „Originalitätsstress“: Alles soll spektakulär sein, als könne man, wie Mies van der Rohe einmal ironisch sagte, „jeden Montag“ die Architektur neu erfinden. Die Logik dieses „Überbietungswettbewerbs“ führe dazu, dass es nicht mehr um Architektur als Raumkunst geht, sondern um „mediale Bildwirkungen“: „Jeder will noch mal eins draufsetzen“ – auf Kosten des städtischen Ensembles und der „Mitspielerqualität“. Für Neumeyer gehört es zur Ironie der Geschichte, dass, nachdem die Moderne das Ornament aus der Architektur verbannt habe, jetzt das ganze Gebäude zum Ornament wird, zur Riesenplastik. Die „Objektfixierung“, die in Markenzeichen-Architekturen zum Ausdruck kommt, beschleunige die Fragmentierung der Stadt. Das isolierte Gebäude profiliere sich auf Kosten seiner Umgebung, es sauge der Stadt Energie ab, anstatt ihr Energie zuzuführen – ein Grundproblem der Gegenwartsarchitektur: Sie vergisst, dass Architektur ein „Mannschaftssport“ (Georg Franck) ist, dass es darauf ankommt, mit anderen Architekturen zu kooperieren, im Gleichklang wie im Kontrast.

Dass das möglich ist, zeigt beispielhaft Hans Kollhoffs Daimler-Chrysler-Gebäude am Potsdamer Platz in Berlin, ein hochaufragender Backsteinbau, der sich in die Block- und Platzstruktur integriert. Das zeigen die Solitäre von Herzog & de Meuron (Hamburger Elbphilharmonie, Münchner Allianz-Arena), die die Kraft zum Wahrzeichen haben, ohne der Stadt ihren Stempel aufzudrücken. Das zeigt beispielhaft das New Yorker New Museum des japanischen Architekturbüros Sanaa: Ein Turm aus versetzt übereinander gestapelten, silbrig-weißen Kartons, dessen minimalistische Schönheit auf die Nachbarschaft abstrahlt.

Selbst Rem Koolhaas, der einst Forderungen des Städtebaus mit der Parole „Fuck the context“ abfertigte, hat einen vorsichtigen, für manche sogar entschiedenen Kurswechsel vollzogen: Das Ende vergangenen Jahres eröffnete Hochhaus „De Rotterdam“, ein Entwurf aus den späten Neunzigerjahren, wirkt mit seinen seitlich verschobenen Türmen noch wie ein monumentales Ausrufezeichen, ein vorweggenommenes Symbol des aus den Fugen geratenen Kapitalismus. Und Koolhaas’ offen-verschrägtes CCTV-Trapez in Peking wiederum, eines der berühmtesten Signature-Buildings der Gegenwart, lässt sich als „kritischer Kommentar“ zur Unterdrückung der Presse- und Meinungsfreiheit in China lesen, sagt Kulturtheoretiker Alexander Gutzmer, Chefredakteur des Fachmagazins „Baumeister“: Alles, was dieses Haus verlässt, sind windschiefe Nachrichten.

Im Gegensatz dazu zelebriert Koolhaas’ Entwurf für den neuen Springer-Campus in Berlin eine radikale Öffnung: Das alte Hochhaus („Die gedruckte Zeitung“) richtet den Blick förmlich aufs Neue („Die digitale Medienwelt“). Der Bau wirkt trotz der ungewöhnlichen, terrassenartig angelegten Arbeitslandschaft vergleichsweise bescheiden und nimmt, wie Fritz Neumeyer sagt, als einziger Wettbewerbsbeitrag auf die städtebaulichen Rahmenbedingungen Rücksicht. Ein Hinweis darauf, dass die Ära der Sensationsbauten ihren Zenit überschritten hat? Vielleicht.

Vielleicht aber auch nicht. Wolf Prix, dessen Büro zurzeit in Tirana das neue Parlamentsgebäude Albaniens als „herausragende Landmarke“ plant, sieht in Europa überall „Angst vor der Zukunft, Angst vor Veränderung, Angst vor dem Fortschritt“. Architektur war für ihn „immer Kunst“. Die „Utopie der Architektur“, so Prix, verlange nach „Schaffung von neuen Körpern und fremden Gestalten, die wie Meteoriten von einem fremden Stern in die Vertrautheit einschlagen“. Eine lebenswerte Stadt aber lässt sich aus solchen „Fremdkörpern“ nicht bauen. Sie braucht die Abstimmung ihrer Architektur, die Kooperation ihrer Gebäude. Architektur ist gebaute Begegnung, gebaute Umgangsform – und kein Schauplatz für Egomanen.

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