Wissen Sie was? Eigentlich hätte dieser Text früher fertig sein sollen. Zunächst sah es auch gut aus, ehrlich. Das Thema war interessant, es gab viel Material und genügend Zeit für die Recherche. Man konnte es also ruhig angehen lassen und sich erst mal um wichtigere Dinge kümmern. Den Schreibtisch aufräumen zum Beispiel. Die Kontakte im Adressbuch neu sortieren. Alte E-Mails löschen. Bei Facebook vorbeischauen. Und überhaupt, frische Luft ist ja auch wichtig ...
Es kam, wie es immer kommt: Plötzlich waren mehrere Wochen rum und noch immer nichts geschrieben. Dann musste es mal wieder schnell gehen. Prokrastination nennen Psychologen dieses Verhalten, eine Zusammensetzung aus den lateinischen Wörtern „pro“ („für“) und „cras“ („morgen“). Wer prokrastiniert, verschiebt Dinge konsequent auf morgen. Eine Angewohnheit, unter der längst nicht nur Journalisten leiden.
Aufschieberitis auch bei Bestseller-Autoren
Manchmal trifft es auch erfolgreiche Bestsellerautoren wie George R.R. Martin, Erfinder der Fantasy-Reihe „Game of Thrones“. In einem Artikel auf seiner Internetseite musste Martin vor wenigen Wochen zerknirscht einräumen, dass das neue, von Fans weltweit sehnlichst erwartete Buch nicht wie geplant fertig wird. Martins Verlag hatte ihm eine Frist bis Oktober gesetzt. „Das schien absolut schaffbar für mich“, schrieb Martin peinlich berührt in seinem Blog, „zumindest im Mai.“
Doch ärgerlicherweise verpasste er nicht nur die erste, sondern auch die zweite Frist Ende Dezember. Und beschloss: „Das Buch wird fertig sein, wenn es fertig ist.“ So viel Chuzpe können sich berühmte Erfolgsautoren leisten. Alle anderen geraten in Panik, je näher die Abgabefrist oder der Präsentationstermin rückt. Der Psychologe Joseph Ferrari von der DePaul-Universität in Chicago hat in seinen Studien herausgefunden: Etwa jeder fünfte Amerikaner, Brite oder Australier erledigt seine Aufgaben erst in letzter Minute.
Schon vor mehr als 2000 Jahren schlugen sich Menschen mit diesem Problem herum. Der römische Politiker und Philosoph Cicero warnte vor „Verzögerung und Aufschub“. Auch der griechische Dichter Hesiod mahnte, dass man seine Arbeit nicht auf morgen verschieben dürfe, da sonst Armut und Niedergang drohten. Ganz so dramatisch sind die Folgen für heutige Angestellte nicht. Auch deshalb reden sich die Betroffenen das Problem gerne schön und erklären es zur Methode: „Ohne Druck kann ich nicht arbeiten ...“ Von wegen.
Prokrastination gilt heute längst nicht mehr als Disziplinschwäche müder Studenten, sondern als ernst zu nehmendes psychisches Problem. Ihrer Erforschung widmen sich Psychologen, Neurowissenschaftler und Ökonomen. Sie alle wollen verstehen, warum die Aufschieberitis auftritt – und wie sie sich vermeiden lässt.
Zunächst einmal beginnt alles mit einem zutiefst menschlichen Luxusproblem: „Was uns von anderen Lebewesen unterscheidet, ist die Fähigkeit, langfristige Ziele zu setzen und mit unseren großen Gehirnen an einem Plan für die Zukunft zu arbeiten“, sagt Elliot Berkman, Psychologe an der Universität von Oregon. „Ein Ziel im Leben zu haben, an das man glaubt, ist eine der wichtigsten Einflussgrößen von Glück und Lebenszufriedenheit.“ Das Dilemma ist bloß: Leider sind wir oft schlecht darin, diese Ziele rechtzeitig anzugehen.
Parallelen zu Drogensüchtigen
Um dieses Problem zu lösen, gründete Berkman vor einigen Jahren eine Forschungsgruppe. Sein Team will untersuchen, warum Menschen, die eigentlich wissen, was gut für sie wäre, sich ganz anders verhalten. Das trifft auf Übergewichtige ebenso zu wie auf Büroarbeiter, die alles erst auf die letzte Minute erledigen. „Es gibt sogar Ähnlichkeiten im Verhalten zwischen Drogensüchtigen und Menschen, die unangenehme Aufgaben ständig verschieben“, sagt Berkman.
Er greift vor allem auf Konzepte aus der Verhaltensökonomie zurück. Wer ständig wichtige Aufgaben verschiebt, leidet unter einem Symptom, das Wirtschaftswissenschaftler „inkonsistente Zeitpräferenzen“ nennen. Was kompliziert klingt, ist eigentlich ganz einfach.
In einem klassischen Experiment aus dem Jahr 1994 stellte ein Team um den Psychologen Leonard Green von der Washington-Universität in St. Louis 24 Studenten vor eine schwere Entscheidung: Sie konnten entweder 20 Dollar sofort bekommen oder mussten drei Monate warten, um dann 50 Dollar zu erhalten. Wenig überraschend: Fast alle wählten den kleineren Betrag, den sie direkt mitnehmen konnten. Meist ist uns eben der sprichwörtliche Spatz in der Hand lieber als die Taube auf dem Dach – aber eben nicht immer.
Das zeigte die zweite Runde. Darin veränderten die Forscher die Entscheidung leicht: Wieder mussten die Studenten zwischen 20 oder 50 Dollar wählen. Doch diesmal wurden 20 Dollar erst in drei Monaten ausgezahlt und 50 Dollar in sechs Monaten. Der Abstand zwischen den Auszahlungen hatte sich also nicht geändert. Noch immer mussten die Teilnehmer drei Monate zusätzlich warten, um den höheren Betrag zu bekommen. Doch plötzlich waren deutlich mehr von ihnen dazu bereit, diese Zeit zu investieren. „Was wir sofort bekommen können, bewerten wir höher als eine Sache, auf die wir warten müssen“, sagt Gerlinde Fellner-Röhling, Ökonomin an der Universität Ulm. „Wenn wir aber ohnehin warten müssen, fallen ein paar weitere Tage auch nicht ins Gewicht.“
Dieses Verhalten haben Verhaltensökonomen und Psychologen in zahlreichen Experimenten in unterschiedlichen Ländern und Kulturen nachweisen können. Und dieser Effekt tritt nicht nur bei angenehmen Dingen wie einem Geldgewinn auf. „Bei unangenehmen Aufgaben ist es ähnlich“, sagt Fellner-Röhling. „Sie erscheinen weniger schlimm, wenn sie erst in ein paar Tagen anstehen.“ Genau dieser Effekt verleitet uns dazu, ständig immer alles auf morgen zu verschieben.
Schlechte Stimmung durch Aufschieben
Das ist nicht nur lästig, sondern auch gefährlich. Denn so harmlos wie lange angenommen ist die Prokrastination nicht. „Das Risiko für Depressionen ist bei pathologischem Aufschiebeverhalten deutlich erhöht“, sagt Stephan Förster, Psychotherapeut an der Universität Münster. Von einer solchen Form der Prokrastination sprechen Experten, wenn die Betroffenen regelmäßig Aufgaben verschieben, obwohl es eigentlich genug Zeit gäbe. Außerdem leiden sie an körperlichen und psychischen Folgen wie Muskelverspannungen, innerer Unruhe oder Schlafstörungen.
So hoch empfinden die Deutschen die Stressbelastung bei der Arbeit
Auf einer Skala von 1 bis 10 stuften die Deutschen ihr Stresslevel bei der Arbeit bei 6,6 ein. In den Vorjahren war der Wert mit 6,3 beziehungsweise 6,4 etwas geringer.
Quelle: Edenred-Ipsos-Barometer 2015, "Wohlbefinden & Motivation der Arbeitnehmer"
Bei Führungskräften liegt das gefühlte Stresslevel mit 6,9 etwas über dem Durchschnitt
In der Einzelbetrachtung ohne Führungskräfte gaben nur die Angestellten einen Wert von 6,5 an.
Was das Stressempfinden anbelangt, haben die jeweiligen Generationen gleich viel Stress. Bei den unter 35-Jährigen und in der Altersgruppe der 45- bis 54-Jährigen beträgt der Wert 6,5. Die über 54-Jährigen sowie die Altersgruppe von 35 bis 44 sind mit einem Wert von 6,6 nur wesentlich stärker gestresst.
Diese Symptome schaden wiederum unserer Leistungsfähigkeit, sie senken unseren Antrieb und verschlechtern unsere Stimmung – und verschlimmern das Problem mit dem Aufschieben nur noch weiter.
Bereits seit dem Jahr 2006 gibt es daher an der Universität Münster eine Prokrastinationsambulanz. Studenten, die Probleme haben, rechtzeitig mit Hausarbeiten und Klausurvorbereitungen anzufangen, können sich hier von einem Team aus Psychologen und Psychotherapeuten beraten lassen. An anderen Universitäten gibt es inzwischen ähnliche Angebote.
Wie können wir die Aufschieberitis wirksam bekämpfen
Bei Förster und seinen Kollegen rufen längst nicht mehr nur Studenten an, auch viele Selbstständige und Journalisten klagen ihr Leid. „Wir können sie allerdings lediglich auf die Informationen auf unserer Webseite und an psychologische Praxen verweisen, denn unser Angebot richtet sich nur an Studierende der Universität Münster“, sagt Förster.
Wie können also alle anderen die Aufschieberitis wirksam bekämpfen? Jan Peters und Christian Büchel vom Institut für Systemische Neurowissenschaften am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf entwickelten in einer Studie 2010 eine clevere Methode. Sie wiederholten das klassische Experiment von Leonard Green, allerdings in abgewandelter Form. Ihre 30 Probanden sollten die Entscheidung zwischen einer sofortigen Auszahlung und einer späteren, größeren in einem Magnetresonanztomografen treffen.
Dadurch konnten die Wissenschaftler beobachten, was währenddessen im Gehirn vor sich ging. Außerdem führten sie mit den Testpersonen vorab ein ausführliches Gespräch und fragten sie nach ihren Plänen für die Zukunft: Wohin sollte der nächste Urlaub gehen? War eine Hochzeit geplant? Wollte jemand vielleicht ein neues Studium beginnen?
Diese Informationen setzten sie nun während des eigentlichen Experiments ein. Einen Teil der Probanden erinnerten die Neurologen kurz vor der Entscheidung zwischen den beiden Geldbeträgen an ihre Zukunftspläne. Bereits dieser dezente Hinweis reichte, um die Ungeduld in den Griff zu bekommen. Im Vergleich zu den anderen Teilnehmern waren jene Freiwilligen öfter dazu bereit, auf den höheren Geldbetrag zu warten. Je wichtiger ihnen das Ereignis war, desto größer der Effekt.
Bei der Auswertung der Daten fielen den Forschern zwei Gehirnregionen auf, die vermutlich für strategisches Denken und Planen verantwortlich sind. Sie waren immer dann aktiv, wenn die Probanden an ein zukünftiges Ereignis erinnert wurden, und schienen in diesen Momenten zu entscheiden, welcher Geldbetrag attraktiver war.
Auch Motivationsforscher Berkman glaubt, dass sich Prokrastinieren mit einem Blick für das große Ganze und die eigenen Lebensziele in den Griff bekommen lässt. Seine Studien zeigen, dass Menschen immer dann motiviert und hartnäckig an langfristigen Aufgaben arbeiten, wenn diese Aufgaben wichtig für ihr Selbstbild sind. Klingt etwas esoterisch, ist aber wirkungsvoll.
Prokrastination bei wichtiges Lebenszielen
Wer schon immer ein erfolgreicher Professor werden wollte, wird mit seiner Doktorarbeit früh genug anfangen. Wer schon seit Kindheitstagen davon träumt, an Olympischen Spielen teilzunehmen, geht ganz automatisch regelmäßig zum Training. Bei solchen Aufgaben, die zu wichtigen Lebenszielen gehören, komme es nur selten zu Prokrastination, sagt Berkman. Dieser Mechanismus lässt sich auch für kleinere Aufgaben nutzen. Man sollte sich verdeutlichen, wie der konkrete Arbeitsschritt mit größeren Werten zusammenhängt.
Genau das aber fällt vielen Betroffenen schwer, sagt Stephan Förster: Sie haben Probleme damit, ihre kühnen Pläne auf einzelne Arbeitsschritte herunterzubrechen. Mit den Studenten, die zu ihm in die Prokrastinationsambulanz kommen, arbeitet Förster daher vor allem an zwei Strategien. Sie sollen lernen, realistische Arbeitspläne zu erstellen, und eine Methode finden, mit der es leichter fällt, endlich anzufangen. Dieser Plan gebe in kleinen Schritten vor, was bis wann zu erledigen ist: „Das sorgt für regelmäßige Erfolgserlebnisse“, sagt Förster, „und gibt das gute Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein.“
Nützliche Rituale
Wer vor allem Probleme damit hat, jeden Tag zu einem festen Zeitpunkt mit der Arbeit anzufangen, könne sich mit einem Ritual helfen. Zum Beispiel vor jeder Arbeitseinheit eine Tasse Tee kochen oder einen kurzen Spaziergang machen. Wichtig sei, dass der Brauch ein natürliches Ende hat und nicht länger als 15 Minuten dauert. „Nach einer Zeit wirkt ein derartiges Ritual wie ein Signal, das auf die bevorstehende Arbeit vorbereitet”, sagt Förster.
Vielleicht muss man die Prokrastination aber auch nicht mit aller Kraft bekämpfen. Die Psychologin Jihae Shin von der Wisconsin School of Business glaubt zum Beispiel, dass das Aufschieben sogar seine guten Seiten hat. In einem Experiment ließ sie Probanden neue Geschäftsideen entwickeln. Die einen konnten sofort loslegen, die anderen sollten erst mal eine Runde Videospiele daddeln. Später bewertete eine Jury die Vorschläge. Und siehe da: Die Ideen der Gruppe, die erst zocken durfte, kamen deutlich besser weg. Im Durchschnitt empfand die Jury ihre Ideen um 28 Prozent kreativer.
Wer zu früh mit einer Aufgabe anfängt, neigt zu naheliegenden und wenig innovativen Ideen, so die Theorie von Shin. Auch das Gegenteil von Prokrastination könne daher problematisch sein: wenn man nicht abwarten könne und zu schnell Entscheidungen treffe. Einen Namen gibt es für dieses Leiden auch schon – Prekrastination.
Bis zu einem gewissen Grad kann man den eigenen Hang zum Aufschieben daher gelassen sehen. Und sich den 2001 verstorbenen Autor des Kultbuches „Per Anhalter durch die Galaxis“ zum Vorbild nehmen. „Ich liebe Deadlines“, sagte Douglas Adams mal in einem Interview. „Ich liebe dieses zischende Geräusch, wenn sie vorbeirauschen.“