Aufstieg Dienen Lügen wirklich der Karriere?

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Demonstranten werfen dem Quelle: REUTERS

Freilich: Nicht jede Lüge dient allein dem Gehirnjogging. Wohl nirgendwo sonst wird so viel gelogen wie in Büros, Labors, Konferenzräumen und Besprechungszimmern. Wohl auch, weil es so einfach geworden ist, seit die Kommunikation dort immer vermittelter, digitaler und unpersönlicher geworden ist. Wo sich schon Büronachbarn per E-Mail verständigen, da ist es leichter, die Wahrheit zu verdrehen als dort, wo man sich in die Augen sieht.

Internet, E-Mails und Telefone sind geradezu schwindelerregende Medien, wie Befragungen der Unternehmensberatung German Consulting Group ergaben. Danach belügen 63 Prozent der Befragten ihre Geschäftspartner mithilfe von SMS. Beliebter sind nur noch E-Mails oder Blackberry-Botschaften, mit denen drei von vier Befragten bluffen. Wer etwa den Zug verpasst, schiebt der Bahn die Schuld zu und signalisiert dem Partner: „Mal wieder Zugverspätung. Komme eine Stunde später.“

In einem wissenschaftlichen Experiment, dessen Ergebnisse im amerikanischen „Social Justice Research Journal“ publiziert wurden, untersuchten US-Forscher, ob Probanden per E-Mail eher bereit sind zum Lügen als solche, die handschriftlich Botschaften austauschten. Ergebnis: Nahezu alle E-Mailer logen ihre Partner an; von den Briefschreibern waren hingegen nur 64 Prozent zur Unwahrheit bereit. Immerhin.

Selbst die Lügeninhalte variieren mitunter. Während in eher prosperierenden Zeiten die Lügen dazu dienen, Konkurrenten auszubooten und die eigene Karriere zu beschleunigen, helfen sie in stürmischen Zeiten hauptsächlich, die eigene Haut zu retten sowie „die eigene Verantwortung für das Desaster auf andere abzuwälzen“, sagt der österreichische Lügenprofessor Peter Stiegnitz.

Lügen gehören bis in die Gegenwart zum politischen Handwerkszeug

Am wirksamsten ist dabei die Lügenmethode des „fingierten Beweises“, auch als Schönfärberei bekannt. Oft stellt sie eine Kombination aus gefälligen Sprach- und scheinbar objektiven Zahlenspielen dar. Eben jene Zahlenwerke täuschen unbestechliche Wahrhaftigkeit vor, wo gar keine ist. Womöglich wird die Wahrheit nirgendwo so sehr ausgebeutet wie in geschickt arrangierten PowerPoint-Präsentationen oder Chartanalysen vor Kunden und Klienten.

Oder gar vor der Weltöffentlichkeit. So gaukelte der damalige Außenminister Colin Powell dem UNO-Sicherheitsrat im März 2003 mithilfe von Grafiken und Statistiken vor, dass Saddam Husseins Regime „nachweislich“ im Besitz von Massenvernichtungswaffen sei. Zwei Jahre später bezeichnete er diese falsche Tatsachenbehauptung als „Schandfleck“ seiner Karriere.

Sein Eingeständnis zeigt aber auch, dass der wahrhaftige Umgang mit Berufslügen einer Biografie nicht unbedingt schadet: Colin Powell berät heute den neuen US-Präsidenten Barack Obama – auch weil er nach dem Lügenfall Haltung bewahrt hat.

Wer sich stattdessen auf Dauer auf Verlogenheit und Unaufrichtigkeit einlässt, wird leicht Opfer der eigenen Doppelmoral. „Ich konnte es irgendwann nicht mehr ertragen, meine Kinder zu Hause vom Lügen abzuhalten und im Büro nach Strich und Faden zu schwindeln“, sagt Anne W., die Chefsekretärin in einer großen Anwaltskanzlei ist. Nach all der gewohnheitsmäßigen Schwindelei („Chef ist auf Dienstreise.“ „Besprechung, gerade rausgegangen.“) hält sie es jetzt immer öfter mit der Wahrheit und kokettiert sogar mit ihr – erfolgreich.

Am Telefon sagt sie neuerdings: „Ich könnte Ihnen ja jetzt etwas vorschwindeln, aber Dr. M. bereitet sich gerade auf eine Konferenz vor – und will sich dabei nicht unterbrechen lassen. Es sei denn, von den Kindern oder seiner Frau. Bitte haben Sie Verständnis.“ Die Anrufer hätten meist Verständnis, manche freuten sich sogar über die Aufrichtigkeit – sie selbst müsse sich nicht mehr mit einem ewig schlechten Gewissen herumplagen, sagt sie.

Lüge und Wortbruch sind gleichsam Drillingsschwestern der Macht, der politischen wie ökonomischen. Das gab schon 1513 Niccolò Machiavelli den Potentaten auf den Weg und ermunterte sie zu Schein und Schwindel: „Auch wird es einem Fürsten nie an guten Gründen fehlen, um seinen Wortbruch zu beschönigen. Denn die Menschen sind so einfältig und gehorchen so sehr dem Eindruck des Augenblicks, dass der, welcher sie hintergeht, stets solche findet, die sich betrügen lassen.“

Lügen gehören bis in die Gegenwart zum politischen Handwerkszeug. Es gibt so viele davon, dass Rainer Nahrendorf, der frühere Chefredakteur des „Handelsblatts“, jüngst ein spannendes Buch veröffentlicht hat, auf dessen Titel er die entscheidende Frage stellt: „Der Pinocchio-Test – Wie viel Lüge verträgt die Politik?“

Mehr Mut zur Wahrheit und eine „Kultur der Redlichkeit“ fordert nicht nur Nahrendorf, sondern auch der Personalberater und Moraltheologe Bernd Brauckmann, der nebenbei in Münster am „Institut für Kirche, Management und Spiritualität“ unterrichtet. Er plädiert im Berufsleben für einen pragmatischen und „utilitaristischen“ Umgang mit der Wahrheit, weil sich Wahrhaftigkeit unterm Strich als nützlicher und effektvoller erweise als Verlogenheit. „Eine wahrhaftige Grundhaltung bringt vielleicht keinen kurzfristigen Erfolg, aber sie schafft tiefere und festere Bindungen zu Kunden und Klienten“, sagt Brauckmann. Wer sich aber an die Lüge gewöhne, der mache sich von ihr abhängig wie der Süchtige von seinem Stoff.

So wie der wohl teuerste Schwindler der Geschichte, Bernard Madoff, der über Jahre seine 50-Milliarden-Dollar-Lebenslüge ausgelebt hat. Und auch noch glaubte, mit unmoralischer Energie Gutes zuwege zu bringen: wohltätige Stiftungen, Wissenschaftsförderung, Mäzenatentum. Alles Lüge.

Madoffs Lügenökonomie zeigt: Unwahrheiten können zum Fundament für immer aufwendigere Lügengebäude werden, die irgendwann zusammenkrachen (müssen). Ein etwas alltäglicheres Beispiel: Wer seinem Vorgesetzten fälschlich versichert, sich auf dem osteuropäischen Markt gut auszukennen, muss sich immer hanebüchenere Ausreden ausdenken, um bloß nicht mit osteuropäischen Geschäftspartnern verhandeln zu müssen. Und wer vor Kollegen damit prahlt, ein „passabler Hockeyspieler“ zu sein, darf sich nicht wundern, wenn die ihm am nächsten Wochenende beim Spielen zuschauen wollen. Irgendwann macht die Ausrede „Auswärtsspiel“ eben auch den gutwilligsten Kollegen misstrauisch.

Auch jenseits der religiösen Fundamentalmoral des Dekalogs gibt es ebenso rationale wie praktische Gründe, die gegen das Lügen in der Arbeitswelt sprechen. Das Gebot, gegenüber Vorgesetzten, Mitarbeitern, Kollegen, Auftraggebern, Dienstleistern und Kunden möglichst wahrhaftige Aussagen zu machen, bringt nämlich Klarheit und Konstanz in die Arbeitsbeziehungen.

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