Stadtbücherei? Das Wort klingt ähnlich wie Lexikon, Kassettenrekorder oder Sparbuch. Nach Kindheit, Erinnerungen und Vergangenheit. Nach engen, grauen Regalreihen, einem rätselhaften Nummernsystem zur Orientierung und einem laminierten Stück Papier als Ausweis. Früher war anscheinend doch nicht alles besser.
Wer ein Jahrzehnt nicht mehr in städtischen Büchereien war, für den ist ein Besuch in der Kölner Zentralbibliothek ein einziger Aha-Effekt. Von außen sieht der Betonkasten noch aus wie damals, direkt hinter den schweren Glastüren in Schulturnhallen-Optik ist alles anders. Statt Schaltern gibt es nur Terminals, an denen die Nutzer ihre Werke selbstständig ausleihen oder zurückgeben können. Bücher sucht man auf den ersten Blick vergebens. Und das ist auch so gewollt.
„Mit einer Bücherei aus den Neunzigerjahren hat das kaum noch etwas zu tun“, sagt Leiterin Hannelore Vogt. Der Erfolg gibt ihr recht. Seit sie vor mehr als sieben Jahren übernahm, hat sich die Zahl der Kunden um mehr als 60 Prozent erhöht. 2015 wurde das Haus vom Bibliotheksverband als „Bibliothek des Jahres“ ausgezeichnet.
Doch Vogt steht nur an der Spitze eines landesweiten Trends. Öffentliche Büchereien in Berlin, Hamburg, München oder Leipzig freuen sich derzeit über Zuwächse bei Ausleihen und Kunden – jenseits der Unibibliotheken, die von steigenden Studierendenzahlen profitieren.
Das ist umso erstaunlicher, weil eigentlich alles gegen die Bibliothek spricht. Die Deutschen lesen weniger, nur noch gut ein Viertel schafft mehr als zehn Bücher im Jahr. Abo-Dienste für Musik, Hörbücher und Filme im Internet wachsen seit Jahren immer schneller. Gerade auf dem Land müssen tatsächlich immer mehr Büchereien schließen, weil sinkende Nachfrage und leere Stadtkassen die gleiche Sprache sprechen. „Wer Inhalte sucht, der braucht keine Bibliothek mehr“, sagte selbst Rafael Ball, Leiter der Bibliothek der ETH Zürich, kürzlich der „NZZ“. In einigen Großstädten aber hat man offenbar einen Weg gefunden, sich dieser Logik zu entziehen. Was machen die Vorreiter anders?
„Ich wohne zurzeit bei meiner Mutter, die hat kein WLAN“, sagt Karim, der im zweiten Stockwerk der Kölner Zentralbibliothek ein Plätzchen gefunden hat. Jetzt klickt er ein wenig im Netz herum, erledigt kleinere Recherchen und kauft ein. „Hier oben kann ich konzentriert arbeiten, und das mitten in der Stadt“, sagt Karim.
Tatsächlich ist die Bibliothek für viele vor allem ein praktischer Aufenthaltsort. An einem gewöhnlichen Dienstagmittag sind auf den fünf Etagen fast alle Plätze belegt. Schüler, die zusammen für eine Klausur lernen, Nachhilfe geben oder sich für ein Referat vorbereiten, bevölkern die kleinen Tische. Wenige Meter entfernt liegt der Neumarkt, nach dem Hauptbahnhof und der Domplatte der belebteste Ort der Stadt. Wer in die Bibliothek kommt, kann etwas für die Schule tun, ohne auf Primark und Starbucks verzichten zu müssen.
Die öffentlichen Bibliotheken starteten vor langer Zeit mit einem gesamtgesellschaftlichen Auftrag. Als der preußische Finanzbeamte Karl Benjamin Preusker 1828 in Großenhain die erste Bürgerbibliothek gründete, war sein Ziel klar: „Zur Abhaltung von Wirtshausbesuch, Müßiggang und Unsittlichkeit“ solle das Haus dienen. Diese Wirkung lässt sich zwar nicht belegen, zum Erfolgsmodell wurde die Idee aber schnell.
Gleicher Tisch für alle
Um die Jahrhundertwende gab es in Deutschland 28 vergleichbare Häuser, seitdem haben sie alle Wendungen der Geschichte überlebt. Heute stehen die Bibliotheken erneut für einen modernen Teil der politökonomischen Debatte – die viel gerühmte Chancengerechtigkeit. Büchereien garantieren zwar keine Bildung. Aber sie gleichen die Wettbewerbsvoraussetzungen an. Gleicher Schreibtisch für alle Bürger. Akademikerkinder aus noblen Stadtteilen mag das nicht interessieren. Doch wo die Alternative eine von der Großfamilie bewohnte Dreizimmerwohnung im Problemquartier ist, wird ein ruhiger Schreibtisch schnell zum Luxus.