Büro Die Desk-Jockeys

Schon im Kinderzimmer lernen wir: Ordnung ist das halbe Leben. Aber das ist nur die halbe Wahrheit: Unordentliche Schreibtische haben einen Sinn. Ein Plädoyer für das perfekte Chaos.

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Erstaunlich, dass die polierte Tischplatte überhaupt noch durchblitzt. Auf dem antiken Schreibtisch im 15. Stock von New Yorks Park Avenue türmen sich Stapel mit Zeitschriften, Briefen und Unternehmensanalysen. Darunter begraben: vergilbte Kinderfotos, Schreibgerät, Notizzettel. An dem Platz, wo der gefürchtete Finanzinvestor Guy Wyser-Pratte über millionenschwere Geschäfte entscheidet, herrscht Chaos. Aufräumen? Wyser-Pratte räumt nie auf. Und das ist vermutlich gut so. Nach Erkenntnissen von Psychologen arbeitet jeder Mensch auf seinem eigenen Chaos-Level am effektivsten. Zu Unrecht werden Chaoten als Hallodris verspottet, die ihren Arbeitsalltag nicht unter Kontrolle hätten. Unordentliche Menschen sind oft kreativer, meist spontan und sparen Zeit. Deswegen warnen Experten vor einer übertriebenen Ordnung, die nichts anderes sei als eine „Reduktion von Freiheit“, sagt Jürgen Kriz, Psychologe an der Universität Osnabrück. Edith Stork ist eine Inkarnation dieses Ordnungswahns. Die vielbeschäftigte Ex-Sekretärin ist sich sicher: Wer immer höhere Stapel auf seinem Schreibtisch züchtet, hat ein „ungelöstes Problem“. Stork sorgt deshalb als Beraterin für Ordnung in fremden Büros und mistet bei Teams mit 20 Leuten schon mal bis zu „drei Tonnen Papier“ aus, wie sie sagt. Anschließend verordnet sie den Patienten ihr patentgeschütztes Ablagesystem AP-Dok. In Deutschland blüht die Ordnungsindustrie. Einige Hundert professionelle Aufräumer durchwühlen bereits systematisch Büros. In den USA sind es sogar mehr als 4000, die sich in der Aufräumer-Lobby „National Association of Professional Organizers“ verbandelt haben. Sie sortieren Schreibtische in Einzelsitzungen, schreiben Bücher und predigen die absolute Ordnung auf Vorträgen. Ihr Dogma: Nur an einer leergeräumten Tischplatte wird effizient gedacht und geschafft, nur hier sind vernünftige Strategien und kreative Gedanken möglich. Die reine Lehre ist die leere Schreibtischplatte.

Das ist Unfug. Ein unaufgeräumter Schreibtisch kann ein höchst funktionales Arbeitsumfeld sein: Er organisiert sich von selbst. Wichtige Dokumente thronen auf Stapeln in greifbarer Nähe, in der „heißen Zone“. Unwichtiges wandert, wie von unsichtbarer Hand geführt, von der „warmen“ in die „kalte“ Zone, gen Schreibtischrand und erledigt sich dort von selbst. So ein Schreibtisch funktioniert wie ein Komposthaufen, der Speisereste verdaut, wenn man ihm nur genug Zeit gibt. Jeder hat seine eigene Ordnung. In Büros tummeln sich deswegen Dutzende Chaos-Typen. Stapel-Chaoten etwa züchten permanent Zetteltürme, sind ansonsten aber ordentlich. Quartals-Chaoten überlassen ihren Schreibtisch dem Durcheinander, solange sie an einem Projekt arbeiten. Muldenbauer dagegen räumen nie auf. Sie sind keine Messies, sitzen aber dennoch vor einem beeindruckenden Haufen Papier. Anders die Archivare. Sie haben neben dem Tisch, hinten an der Wand, eigentlich überall im Raum, sauber geschichtete, bedrohlich hohe Stapel. Fragt man sie nach einem jahrealten Dokument, finden sie es intuitiv in Minuten. Menschen bauen um sich herum eine natürliche Ordnung auf. Die kann auf andere durchaus chaotisch wirken. Für den Schöpfer selbst ist es ein ausgeklügeltes System: Er weiß, welcher Stapel wichtig ist. Wer dieser persönlichen natürlichen Ordnung ein fremdes Ordnungssystem überstülpt, „macht die Menschen ineffizient“, sagt Stephan Grünewald, Psychologe und Unternehmensberater. Ein Sechs-Mann-Unternehmen in der Nähe von Frankfurt musste nach der Sitzung mit einer professionellen Aufräumerin sogar einen neuen Helfer anheuern. Die Mitarbeiter wussten einfach nicht mehr, wo ihre Unterlagen waren. Erst recht kontraproduktiv wirkt ein als „Clean Desk Policy“ verklausulierter Aufräumzwang. Danach haben alle Mitarbeiter abends einem leergeräumten Schreibtisch zu hinterlassen – eine Pflicht, die etwa Unternehmen wie Springer & Jacobi, General Motors und United Parcel Service ihren Angestellten verordnet haben. Das setze Menschen unnötig unter Druck, warnen Psychologen. In der Tat: Was kann daran so falsch sein, Stapel liegen zu lassen, die man am nächsten Morgen wieder braucht?

Chaos schürt Kreativität. Selten fließen kreative Einfälle direkt auf ein weißes Blatt Papier. Neue Ideen entstehen, wenn Menschen aus Ordnungen aussteigen und neue Gedankenverbindungen stimulieren. Wenn sie überraschend an etwas hängen bleiben. Oder wenn sie nur halb an das Problem denken und halb an etwas ganz anderes. Das spezielle Problem und das ganz Andere befruchten sich dann gegenseitig. „So entsteht eine schöpferische Synthese“, sagt Grünewald. Der unaufgeräumte Schreibtisch bietet dafür ein optimales Umfeld. Als der schottische Bakteriologe Alexander Fleming im September 1928 aus dem Urlaub zurückkehrte, entdeckte er in der Unordnung seines Labors, zwischen Reagenzgläsern, Büchern, Zigaretten und Notizen eine Petrischale mit Bakterienkulturen. Auf der Schale hatte sich Schimmel gebildet. Fleming fiel auf, dass sich die Kulturen von den Pilzen auf wundersame Weise fernhielten. Er untersuchte das Mini-Biotop und stellte fest, dass der Pilz die Bakterien tötet. Auf Basis dieser Erkenntnisse entwickelte er das Penizillin. Diese zufällige Entdeckung brachte ihm später den Nobelpreis. Für viele Psychologen steht fest, dass kreative Menschen oft etwas chaotischer sind. „Auf einem leergefegten Schreibtisch findet man keine überraschenden Anregungen“, sagt Michael Frese, Psychologe an der Universität Gießen und der London Business School. Das gilt nicht nur für den Schreibtisch. Wer Chaos zulässt, bleibt flexibel. Der ehemalige Schauspieler und heutige Gouverneur von Kalifornien, Arnold Schwarzenegger, treibt das Prinzip auf die Spitze: Er führt keinen Terminkalender. Wer ihn sprechen will, ruft an. Er schaut dann, ob es passt. Dies nennt er „improvisationsfreudigen Lebensstil“. Man kann viel sagen über Schwarzenegger, nicht aber, dass er erfolglos wäre. Zu viel Ordnung engt ein und kann sogar Blechschäden verursachen. In einer Untersuchung für den Deutschen Verkehrssicherheitsrat hat Psychologe Grünewald herausgefunden, dass Autofahrer, die sich besonders streng an die Verkehrsregeln halten, auffällig oft in Unfälle verwickelt sind. Der Grund: Sie sind unfähig, spontan zu reagieren. Am seltensten krachte es bei Fahrern, die sich zwar an die wichtigsten Regeln hielten, gleichzeitig aber ihre Aufmerksamkeit auf Gespräche, Radiobeiträgen oder Tagträume richteten.

Unordnung spart Geld. Zwar behaupten die Ordnungshüter das Gegenteil. So sollen Unternehmen mit 1000 Mitarbeitern, die das Ordnungssystem AP Dok implementieren, sagenhafte zehn Millionen Euro sparen – verspricht Edith Stork. Dabei unterstellt sie, dass wir uns ohne ihr System täglich im Schnitt eineinhalb Stunden durch unsere Zettelberge wühlen. Belege für diese Annahme gibt es nicht. Studien zeigen vielmehr, dass Menschen im Büro durchschnittlich nur etwa neun Minuten nach verlegten Unterlagen kramen. Besonders interessant: Wer an einem aufgeräumten Schreibtisch sitzt, kramt sogar 36 Prozent länger nach seinen Zetteln, schreiben Eric Abrahamson, Professor der New Yorker Columbia University, und der Journalist David Freedman in ihrem Buch „Das perfekte Chaos“. Denn wer alles abheftet, kann sich oft nicht mehr erinnern, wo die Unterlagen stecken. Und da sind die Minuten noch nicht mitgerechnet, die vergehen, während wir Zettel in Kästen, Hängeregister und Ablagekörbe systematisieren. Jeden Zettel beim ersten Anfassen in Ordner zu verstauen ist die häufigste Empfehlung der Aufräumhelfer. Und genau das ist ihr schlechtester Rat: Wer immer sofort reagiert, wenn ein neuer Brief auf den Tisch flattert, vertut nicht nur Zeit. Er wird kaum noch einen klaren Gedanken fassen können. Nicht Genies beherrschen das Chaos. Nur Genies können sich in so einer Ordnung noch konzentrieren. Chaos vermeidet Stress. Psychologen raten, für bestimmte Zeit bewusst aus der Ordnung herauszutreten und im Alltag kleine Oasen der Unordnung zu pflegen. So kann man Teile des Büros zu Chaos-Zonen erklären. Alles, was keinen Platz findet, landet dann in einer Ecke oder einem Schrank. Es geht spürbar schneller, nur Teile des Raumes aufzuräumen, als sich durch jeden Winkel zu wühlen.

Auch empfehlenswert ist das zeitlich limitierte Chaos. Vor allem Menschen, deren Alltag in Projekte und feste Zyklen fragmentiert ist, beobachten, dass sich Unterlagen auf dem Tisch bis zur Abgabe türmen. Danach sind sie auf wundersame Weise verschwunden. Wer das akzeptiert, mindert den täglichen Aufräumdruck. Besonders wirksam ist, was bei den Ordnungshütern unter Höchststrafe steht: Stapel bilden. Das sieht nicht nur ordentlich aus, sie sind auch ein riesiger Fundus für Ideen. Und sie erinnern uns stets daran, was noch zu erledigen ist. Unzählige Prominente gestalten ihren Arbeitsplatz mit derartigen Chaos-Oasen. Auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Auf seinem Schreibtisch türmen sich neben Unterschriftenmappen Bücher, Zeitschriften und Zettel. Stapel zeugen denn auch keineswegs von einem chaotischen Geist. Eher spiegeln sie komplexe Interessen und einen vielseitigen Alltag. So wie bei Alberto Alessi, Chef des gleichnamigen Herstellers edlen Haushaltsdesigns. Auf seiner konferenztischgroßen Arbeitsplatte liegen bunte Mappen auf Prospekten und Katalogen, die wiederum über Notizen, Schreibgerät und Skizzen lagern. Dazwischen stehen Figuren, kleine Pappmodelle und Wasserflaschen. Sein Büro erinnert an die Bastelstube eines alternativen Kindergartens. Chaotische Schreibtische verraten etwas über den sozialen Status. Studien belegen, dass die Stapel bei Menschen mit steigendem Bildungsgrad, höherem Einkommen und wachsender Berufserfahrung besser gedeihen. Psychologe Frese hat bei deutschen Versicherungsvertretern festgestellt: Weniger intelligente Vertreter arbeiten besser, wenn sie genau planten und im Alltag Ordnung hielten. Die intelligenteren Kollegen dagegen arbeiten mit zunehmender Ordnung weniger effektiv. Ordnung ist für jeden anders. Ebenso wie die Motivation aufzuräumen. Manche Menschen versuchen mit Ordnung, innere Konflikte zu lösen. Frese sagt, dass Patienten oft aufräumen, wenn ihnen eine „innere Struktur fehlt“. Wenn sie vor schwierigen Entscheidungen stehen zum Beispiel und ihnen klare Prioritäten fehlen. Um Ordnung im Kopf zu schaffen, räumen sie den Schreibtisch auf.

Der zunehmende Wunsch nach einem aufgeräumten Schreibtisch ist auch eine Reaktion auf die immer unübersichtlichere (Alltags-)Welt. „Die Haltlosigkeit versuchen viele mit einem überordentlichen Umfeld zu kompensieren“, sagt Grünewald. Ist erst der Stapel besiegt, herrscht wieder Ordnung im Leben, so der Plan. Die wachsende Nachfrage nach den Aufräumhelfern erklären Experten auch mit der Utopie des papierlosen Büros. Papier ist altmodisch und unproduktiv. Wieso stapeln sich dann bei mir die Zettel? Klar, krankhafte Chaoten brauchen Hilfe. Und natürliche (Un-)Ordnung kann auswuchern. Hin und wieder aufräumen ist daher eine Voraussetzung dafür, dass die natürliche Ordnung gedeihen kann. In der Wissensgesellschaft aber, in der immer mehr Menschen kreativ und strategisch denken müssen, passen herkömmliche Einheits-Ordnungskonzepte mit ihren bunt-strukturierten Ablagefächern nicht mehr. Laut Abraham und Freedman ist es an der Zeit, die Pole Ordnung, Planbarkeit und Vorhersehbarkeit einerseits und Unordnung, Komplexität und Kreativität andererseits ins Gleichgewicht zu bringen. Das ist erreicht, wenn wir mit etwas mehr Ordnung oder auch mit etwas mehr Chaos ineffektiver arbeiten würden. Genau dann haben wir das perfekte Chaos erreicht.

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