Am Anfang war eine Pflaume. Das hat nichts Anzügliches und ist auch kein Fehler in der biblischen Fruchtfolge. Die Pflaume ist schlicht der Beginn einer Erfahrung. Sie fällt vom Stamm, der wiederum Teil eines hölzernen Hochstands ist. Sie ist ein Geschenk. Das erste in einer langen Reihe.
Das Gute fällt hier vom Himmel, im Fall der Pflaume wörtlich. Und der Himmel ist die Gemeinschaft, in der die „Burner“ für eine Woche aufgehen. Aus ihr kommt alles, was man zum Leben braucht, und in sie geht alles, was man zu geben hat.
Dafür steht die Pflaume, geworfen von einem jungen Mann, der mit Freunden eines der vielen Camps hier beim Burning Man Festival errichtet hat. Es steht auf dem sandigen Boden der Hunderte Quadratmeter großen Brache eines ausgetrockneten Salzsees in der Wüste von Nevada. Nichts gibt es hier. Wer herkommen will, muss mitbringen, was er braucht. Nein, falsch. Er muss viel mehr mitbringen, als er braucht, denn die anderen brauchen ja auch etwas. Und wo immer jemand etwas braucht, bekommt er es geschenkt. Brauchte ich eine Pflaume? Nein, aber sie hat geschmeckt und war gleichzeitig die Einladung, auf den Hochstand zu steigen: „Du bist gerade angekommen? Cool, dann freue ich mich, dass ich dein erster Gastgeber bin.“
Vom hölzernen Hochplateau dröhnt Technomusik, die Happy Hour ist angebrochen. Sie heißt auch so, obwohl Drinks, die nichts kosten, nicht mehr billiger werden können. Man hängt sprachlich noch ein bisschen in der Kommerzwelt fest. Hier trinken alle alles, solange die Vorräte reichen. Gläser gibt es nicht. Der Profi-Burner hat immer einen verbeulten Kupferbecher am Gürtel hängen, um auf spontane Einladungen vorbereitet zu sein.
Wir trinken, reden, tanzen, und irgendwann zieht man eben weiter. Oder auch nicht. Es ist diese positive Gleichgültigkeit gegenüber allem Zukünftigen, die den Burning Man zu etwas Besonderem macht. Das Festival ist die Weltwerdung menschlicher Kontingenz, das Bekenntnis zur grundsätzlichen Offenheit und Ungewissheit. Auf Geld als Tauschmittel zu verzichten ist da fast logisch: Es gibt kein Mittel, Gegenwart oder Zukunft zu beeinflussen, außer dem eigenen Denken und Handeln.
In der Wüstenhitze blüht ein transzendentaler Kapitalismus. Alles geht, nichts muss. Und nichts kostet. Außer der Zurückhaltung.
Sozialordnung der Stammesgesellschaft
Burning Man ist ein Beispiel für die gelebte Schenkökonomie, wie sie der französische Soziologe Marcel Mauss in seinem „Essai sur le don“ (Aufsatz über die Gabe) 1923/24 beschrieben hat. In dem Wüstencamp lebt die Sozialordnung der Stammesgesellschaften auf, die auf Gabentausch beruht. Und der funktioniert noch anders als der Warentausch. Es bleibt immer dem Gabenempfänger überlassen, ob und wann er eine Gabe erwidert. Der Geber aber erhält für seine Gabe die Anerkennung der Gemeinschaft.
Abgeschnitten von Internet und Mobilfunknetz, ist das Wüstenfestival eine Oase der persönlichen Zuwendung in jeder vorstellbaren und unvorstellbaren Form. Man kann Foto- oder Yogakurse besuchen, gemeinsam Disney-Songs singen, oder auch mit vielen anderen bei der Kür des schönsten Allerwertesten um den Sieg buhlen.
Der Raumökonom und Stadtplaner Georg Franck hat 1998 in seinem Buch zur „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ unbewusst das ökonomische Grundprinzip des Wüstenfestivals beschrieben: „Die Aufmerksamkeit anderer Menschen ist die unwiderstehlichste aller Drogen. Ihr Bezug sticht jedes andere Einkommen aus.“
Black Rock City für eine Woche
Was in Stammes- oder Mikrogesellschaften ganz gut funktioniert, wird in komplexeren Gesellschaften zum echten Problem. Könnten wir noch nach den Prinzipien von Geben, Nehmen und Erwidern existieren? Beim Burning Man gelingt das als Experiment auf Zeit. 70.000 Menschen haben beim letzten Mal ihr Zelt aufgeschlagen oder sind mit dem Wohnmobil angereist. Sie haben eine Stadt erbaut, Black Rock City, die nur für eine Woche lebt. Am letzten Tag des Festivals brennt die Gemeinde alles ab. Die Camps sortieren sich im Halbkreis um das zentrale Festivalgelände, die Playa, auf der, ganz im Norden, der „Man“ steht. Eine riesige Holzfigur, kilometerweit umringt von weiteren Kunstwerken, die begehbar oder bespielbar sind. Wer mit dem Fahrrad durch die Wüste fährt (zu Fuß kommt man nicht weit), kann über Tage immer wieder etwas Neues entdecken.
Einer von ihnen ist Jan, ein Mittvierziger aus Kanada. Er lebt immer in seinem Wohnwagenanhänger. Das Ding ist gut zehn Meter lang und eingerichtet wie ein Mittelklasseapartment. Der Umweltingenieur verbringt den Sommer im kanadischen Quebec und den Winter in Phoenix, Arizona. Von diesen beiden Orten aus fliegt er zu seinen Einsätzen auf Ölbohrinseln rund um die Welt. Wir haben die Vorzüge der Schenkökonomie schon außerhalb des Festivalgeländes erprobt. Wie checkt man mitten in der Nacht auf einem verlassenen, stockdunklen Campingplatz ein, der ernsthaft Wüstenrose heißt? Sein Rat war das wertvollste Geschenk der Nacht (neben zwei eiskalten Bier). Auf dem Weg auf das Festivalgelände haben wir uns verloren. Nach drei Tagen klopft es irgendwann am Camper. Vor der Tür steht Jan. „Das ist der Reiz des Burning Man. Du verlierst dich und findest dich wieder.“
Dieser Satz beschreibt das Festival perfekt. Wer in der Wüste leben, nicht nur überleben will, bringt sich ein und lässt die normale Welt hinter sich, die hier etwas abfällig „default world“ genannt wird. Zum Beispiel durch ausgefallene, bunte Kleidung, selbst gebastelte Kostüme oder kunstvoll geschmückte Fahrräder. Beim Radeln durch die Wüste begrüßen sich die Burner enthusiastisch mit Winken, Jubeln und einer Umarmung, für die man auch mal vom Fahrrad fällt. Ein Lächeln alleine reicht nicht. Man sähe es auch kaum. Vor allem tagsüber muss man sich gegen Sonne, Hitze und die immer wieder aufkommenden Sandstürme mit Wüstenbrille und Gesichtstuch schützen.
Das größte Geschenk des Burning Man ist die Zeit der Dunkelheit. In der Wüste wird es nachts nicht dunkel, es wird schwarz. Doch im Übergang von der Dämmerung in die Nacht erhebt sich ein faszinierendes Lichtspiel. Das Bild von 70.000 erleuchteten Fahrrädern in dunkler Nacht entschädigt für jeden Aufwand. Zwischen den Fahrrädern kurven kunstvoll gestaltete Fahrzeuge, die Art Vehicles. Ein Bus wird zum Raumschiff, ein anderer zu einem fahrbaren Wal. Und mittendrin spuckt ein vielarmiger meterhoher Oktopus, gebastelt aus Küchenutensilien, zum Technorhythmus der Kunstautos Flammen in den Nachthimmel. Hätte Gott an dem Tag, als er die Erde geschaffen hat, Drogen genommen, hätte das wohl so ausgesehen.
Fest der Techindustrie
Die Geschichte des Burning Man begann vor 30 Jahren an San Franciscos Baker Beach. Bei einer spontanen Party am Strand kam Gründer Larry Harvey und einigen Freunden die Idee zum Festival. Nach einigen Jahren wurde es so groß, dass die Gabengemeinde nach Nevada umziehen musste. Noch heute pilgern Tausende aus dem Silicon Valley in die Wüste. Burning Man, das ist auch ein Fest der Techindustrie. Seine Geschichte hat viele Parallelen zur Open-Source-Bewegung. Was geschaffen wird, soll für alle offenstehen. Die Freiheit, sich jenseits kommerzieller Vorgaben einzubringen, etwas zu erkennen, zu ändern, voranzubringen, trieb die Gründergeneration des Silicon Valley ebenso an wie die Wüstenbesucher.
„creative common“ im Wüstensand
Heute herrscht im Valley längst der digitale Kapitalismus. Doch der Burning Man ist die Enklave, in der sich das analoge Leben und die digitale Wirtschaft jedes Jahr für eine Woche begegnen. Der Burn ist die realweltliche Allmende der Digitalzeit, der ganz praktisch geteilte Raum, in dem gemeinsam etwas geschaffen wird, ein „creative common“ im Wüstensand.
Davon zeugen auch die zehn Prinzipien des Burn. Jeder muss in der Lage sein, für sich selbst zu sorgen und auch für die anderen. „Wenn in San Francisco ein Obdachloser auf der Straße umfällt, gehen die Leute einfach vorbei. Hier kümmert sich sofort jemand, wenn es einem schlecht geht.“ So beschreibt Stephanie, Digital Innovation Managerin für Nestlé in San Francisco, das Gemeinschaftsgefühl. Das Ideate Camp, in dem sie Unterschlupf gefunden hat, lebt die Prinzipien des Burn vorbildlich. Wer hier wohnt, muss mindestens zwei Mal kochen und am Ende beim Aufräumen helfen. Täglich finden Lesungen und Diskussionen statt. „Das Camp“, sagt die 35-Jährige, „ist auch Versuchsgebiet für neue Ideen.“
Und das gibt es alles umsonst? Nun ja, nicht ganz. Vor Ort ist Geld verpönt. Aber im Vorfeld lassen sich die Burner das Festival doch einiges kosten. Da sind die Eintrittstickets, die zwischen 400 und 1200 Dollar kosten. Die Miete für das Wohnmobil oder für einen Zeltplatz in einem der Camps schlägt noch mal mit einigen Hundert Dollar zu Buche. Und dann das Zubehör. Keinesfalls darf man vergessen, vor Festivalbeginn ein Fahrrad für die Wüste zu kaufen. Beim US-Handelsriesen Walmart gibt es spezielle Burner-Bikes, die für knapp 100 Dollar angeboten werden. Bei 70.000 Festivalgästen beläuft sich allein der Umsatz mit Fahrrädern auf etwa sieben Millionen Dollar. Schenkökonomie?
Kapitalistische Ökonomie zieht in die Zelte ein
In den vergangenen Jahren ließ sich durchs Wüstenflimmern beobachten, wie sich die Krakenarme eines gierigen Kapitalismus in die Oase des Schenkens schlängelten. Immer mehr Camps entstanden, die für viele Tausend Dollar allen Luxus bieten, den reiche Besucher aus ihrem Alltagsleben gewöhnt sind. Ein direkter Angriff auf eine weitere Regel des Burn: Entkommerzialisierung.
Das Ideal des Gebens setzt soziale Gleichheit voraus. Wer in der glühenden Sonne vor einem der stinkenden Dixieklos wartet, versteht das. „Wir sitzen mitten in der Wüste“, sagt Stephanie, „und wir sind aufeinander angewiesen und alle miteinander dafür verantwortlich, dass es uns gut geht.“ Für die Bewohner der Luxuscamps gilt das nicht mehr. Da ist ein anderer verantwortlich fürs Wohlbefinden, und dafür wird viel Geld gezahlt. Mit der Arbeitsteilung zieht die kapitalistische Ökonomie in die Zelte ein und verändert langsam die Stammesgesellschaft der Burner. Vielleicht geht es aber auch gar nicht um die großen ideologischen Fragen, um die perfekt gelebte Schenkökonomie. Vielleicht geht es um die vielen kleinen Erfahrungen, die man aus der Wüste mitnimmt. Die vielen kleinen Geschenke, die einem zugesteckt werden, die Umarmungen, den Pullover, den Jan mir für eine Fahrradtour durch die kalte Wüstennacht geschenkt hat.
Auf der Playa spielt ein fahrendes Theater auf. Drei Tänzerinnen und ein Conferencier werben um die Vorbeiradelnden. „Tretet vor und teilt einen Traum mit uns“, ruft der Conferencier in die untergehende Sonne und setzt sich einen Helm mit Antennen auf. Dessen Signale versenden sich zunächst, keiner will anfangen. „Leute“, ruft der Mann, „es geht ums Mitmachen!“ Eine Frau tritt vor. Sie beginnt zu erzählen. Ihr Traum ist nicht käuflich. Ihr beim Träumen zuschauen zu können ist unbezahlbar.