Deirdre McCloskey "Der Kapitalismus ist zu einer Privilegienwirtschaft degeneriert"

Vom Mann zur Frau, vom Marxisten zur Libertären, vom Agnostiker zur Christin – das Leben von Deirdre McCloskey ist eine lange Folge radikaler Wandlungen. Zu Besuch bei einer der größten Denkerinnen unserer Zeit, die die Ökonomie noch einmal neu erfinden möchte.

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Deirdre McCloskey. Quelle: Kat Schleicher für WirtschaftsWoche

William Shakespeare also ist ihr wichtig. So jedenfalls hat Deirdre McCloskey ihren Hund genannt. Und, ja klar, Adam Smith. Adam Smith ist auch wichtig. Jedenfalls hängen vom Begründer der klassischen Nationalökonomie Konterfeis in der Wohnung der 74-Jährigen. Wer diese Zimmer hier in Downtown Chicago dann eingehender erkundet, entdeckt neben dem großen Literaten und dem ebenso großen Ökonomen weitere Insignien einer Frau, deren Interessen sich nicht innerhalb konventioneller Grenzen bewegen. In der oberen Etage der Maisonette-Wohnung stehen Bücherregale nebeneinander aufgereiht wie in einer Universitätsbibliothek. „Mehr als 8000 Werke“, sagt McCloskey, „aus allen Bereichen der Geisteswissenschaften: Ökonomie, Geschichte, Literatur, Philosophie, Theologie, Rhetorik, Soziologie, Recht, Anthropologie.“ Nur mittendrin, mittendrin findet sich eine Oase der Ruhe, aber auch diese anders als bei anderen Gelehrten – ein schmiedeeisernes Bett. „Hier arbeitet Deirdre McCloskey“, erklärt Deirdre McCloskey.

Deirdre Nansen McCloskey ist eine Wissenschaftlerin, die Grenzen sprengt, eine Universalgelehrte, emeritiert in Ökonomie, Geschichte, Englisch und Kommunikation. Eine Ikone des klassischen Liberalismus, eine Frau, die den Wandel zur Überschrift ihres Lebens gemacht hat.

Wer sich der Person Deirdre McCloskey nähern will, kann es mit Twitter versuchen. In dem Kurznachrichtendienst beschreibt sie sich als „postmoderne, quantitative, literarische, exmarxistische Ökonomin, Historikerin und fortschrittlich-episkopale, an der Küste aufgewachsene Frau aus Chicago, die früher keine war“. Wem das zu verschwurbelt ist, dem empfehlen sich McCloskeys Website, eines ihrer 20 Bücher oder einer ihrer mehr als 300 wissenschaftlichen Aufsätze. Oder ein Besuch in ihrem Wohnzimmer. Dort schildert sie ein Leben, das keine Geraden kennt, nur Kurven und spitze Wendungen. Ein Leben, das geprägt ist von ideologischen, akademischen, religiösen und – vor allem – biologischen Metamorphosen.

Denn ihre ganze persönliche Grenzüberschreitung hat McCloskey ebenfalls schon geschafft. Mitte der Neunzigerjahre wuchs in ihr, die bis dahin als Donald McCloskey Karriere gemacht hatte, der Wunsch, das Geschlecht zu wechseln. „Wir Menschen haben die Freiheit, selbst zu bestimmen, wer wir sein wollen, es ist eine Frage der Identität“, sagt McCloskey. Die Geschlechtsumwandlung, die mit dem Entfernen der Körperbehaarung begann und mit der Amputation der männlichen Geschlechtsorgane endete, beschrieb McCloskey in dem Buch „Crossing“, das sie weit über die Ökonomenzunft hinaus bekannt machte. Das Werk ist ein ergreifendes Zeugnis eines zunächst zögerlich, dann immer entschiedener betriebenen Aufbruchs in das Desideratum der Weiblichkeit.

Ein Großteil unserer Kommunikation verläuft nonverbal. Der überwiegende Teil unserer Kommunikation besteht also gar nicht darin, was wir sagen, sondern wie wir es tun. Quelle: Fotolia

McCloskey erzählt, wie die Geschlechtsumwandlung ihre Ehe zerstörte und die Liebe der Kinder kostete, wie die Schwester sie für geisteskrank erklären und in die Psychiatrie einsperren ließ, wie die Mutter sie unterstützte, wie die Kollegen positiv auf die Geschlechtsumwandlung reagierten und wie aus dem Agnostiker Donald die Christin Deirdre wurde.

Die Erinnerungen an das Leben als Mann sind im Laufe der Jahre verblasst. Als Frau blicke sie anders auf das Leben, lege mehr Wert auf soziale Kontakte, fahre vorsichtiger Auto und gönne sich mehr Erholung, sagt sie. Ihren libertären Blick auf die Wirtschaft und die Gesellschaft allerdings hat sie nicht geändert. Ihren Glauben, dass die Freiheit jedes Einzelnen wenn auch nicht die Lösung aller Probleme, dann doch die Voraussetzung für alle Lösungen ist.

"Der Kapitalismus ist zu einer Privilegienwirtschaft degeneriert"

WirtschaftsWoche: Professor McCloskey, der Kapitalismus ist weltweit unter Beschuss. Politiker und Ökonomen machen ihn für Krisen und die wachsende Ungleichheit verantwortlich. Ist die Kritik berechtigt?
Frau Deirdre McCloskey: Zumindest ist sie nicht überraschend. Nach jeder Wirtschaftskrise kommen Zweifel am Kapitalismus auf. Daran hat sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts nichts geändert. Die Linken sehen sich durch die Krisen in ihrer Skepsis gegenüber der kapitalistischen Ordnung bestätigt. Doch die Geschichte zeigt: Kein System hat den Menschen so viel Wohlstand beschert wie der Kapitalismus. Kritiker, die fordern, der Staat solle den Kapitalismus zähmen, erkennen nicht, dass das, was sie als Kapitalismus bezeichnen, kein echter Kapitalismus mehr ist. Durch die massiven Eingriffe des Staates ist der Kapitalismus zu einer Privilegienwirtschaft degeneriert.

Was meinen Sie damit?
Häufig wird kritisiert, der freie Markt führe zu mehr Ungleichheit. Doch das Gegenteil ist richtig. Der marktwirtschaftliche Wettbewerb wirkt Ungleichheit entgegen. Nehmen Sie das Beispiel eines hoch bezahlten Arztes. Hätten wir einen freien Markt, setzte dieser den Arzt der Konkurrenz durch andere Ärzte aus. Das ließe den Preis für ärztliche Dienste sinken. Tatsächlich aber erhalten Ärzte in den USA ein Vielfaches dessen, was andere Akademiker verdienen – weil der Staat die Ärzte durch Zulassungsbeschränkungen vor Wettbewerb schützt. Die Politiker beklagen die Ungleichheit, die sie selbst geschaffen haben.

Nicht jede Ungleichheit in Wirtschaft und Gesellschaft ist Folge staatlicher Eingriffe.
Natürliche Ungleichheit ist deshalb auch nicht schlimm. Im Gegenteil, sie ist die Voraussetzung für soziale Interaktionen und Arbeitsteilung. Wenn wir beide gleich wären, wüssten Sie alles, was ich weiß, und Sie würden nicht hier sitzen und mich interviewen. Egalitaristen, die Ungleichheit beseitigen wollen, nehmen in Kauf, die Freiheit zu zerstören und die Menschen wie kleine Kinder zu behandeln. Deutschland hat darin eine besondere Tradition.

Inwiefern?
Schauen Sie, was Otto von Bismarck gemacht hat. Er hat die Sozialversicherungen eingeführt, um dem Staat das Wohlwollen der Arbeiter zu erkaufen. Die finanziellen Segnungen der staatlichen Wohlfahrt sollten die Menschen dazu bringen, sich loyal zu Staat und Regierung zu verhalten.

Wirtschaft und Gesellschaft haben sich in den vergangenen 200 Jahren vom Nachtwächterstaat zum demokratischen Wohlfahrtsstaat entwickelt. Was ist daran so schlecht?
Meinen Sie? Als Mitte des 19. Jahrhunderts die Arbeiter das Wahlrecht erhielten, stimmten sie für mehr staatliche Sozialleistungen. Die Demokratie mündete in den Sozialstaat. Doch der Preis dafür war hoch: Eigenverantwortung und Freiheit – Werte, auf denen eine liberale Gesellschaft beruht – wurden durch den Sozialstaat in den Hintergrund gedrängt.

Wollen Sie behaupten, Demokratie sei schlecht für die Freiheit?
Im Grunde genommen ist das so, ja. Schon John Stuart Mill hat erkannt, dass eine funktionierende Demokratie erfordert, dass die Bürger ausreichend gebildet sind. Allerdings erkenne ich keine Alternative zur Demokratie. Das ist der Grund, warum ich Bücher schreibe und Vorlesungen halte. Ich versuche, die Menschen davon zu überzeugen, dass freier Handel Nutzen stiftet und dass es sinnvoll ist, staatliche Regulierungen zurückzufahren, um die Freiheit zu erhalten. Wenn die Menschen ein Grundverständnis von wirtschaftlichen Zusammenhängen haben, laufen sie nicht so schnell Gefahr, Rattenfängern wie Donald Trump auf den Leim zu gehen, die an niedere Instinkte appellieren.

Das hört sich so an, als sei der freie Markt für Sie auch eine Frage der Ethik.
Absolut. Viele Ökonomen befürworten den Markt nur deshalb, weil er den Menschen ein höheres Einkommen beschert. Das ist eine utilitaristische Sicht. Ich bin überzeugt, dass der Markt darüber hinaus eine ethische Dimension hat. Unverfälschte Marktwirtschaft beruht auf dem Haftungsprinzip. Sie belohnt die Tüchtigen und bestraft die weniger Tüchtigen. Der Markt als gesellschaftlicher Gegenentwurf zu Korruption und Vetternwirtschaft ist allen anderen gesellschaftlichen Organisationsformen nicht nur funktional, sondern auch ethisch überlegen.

Der Markt führt aber doch nicht zwingend zu steigendem materiellem Wohlstand.
Wohlstand, Freiheit und Marktwirtschaft sind eng miteinander verknüpft. Freie Märkte sind die Basis für Wohlstand, Wohlstand wiederum erzeugt Freiheit. Jede Gesellschaft muss sich fragen, ob sie die Beziehungen der Menschen lieber durch freiwillige Vereinbarungen oder durch Zwang regeln will. Wer auf Zwang setzt, wird den Staat ins Spiel bringen. Die Menschen sollten ihre Beziehungen lieber durch freiwillige Verträge regeln.

Der Werdegang McCloskeys

Dass Deirdre McCloskey den Markt, die Freiheit und den Kapitalismus verteidigt, war angesichts ihres Elternhauses nicht vorgezeichnet. 1942 wurde sie als ältester Sohn einer Dichterin und eines renommierten Harvard-Professors für Staatswissenschaften geboren. Schon als Elfjähriger schlüpfte Donald, wenn er unbeobachtet war, in Frauenkleider. Da er ansonsten jedoch ein normaler Bursche war, groß, kräftig und den Frauen zugetan, kam niemand auf die Idee, dass er insgeheim das Gefühl hatte, im falschen Körper zu leben.

Der intellektuellen Tradition der Eltern folgend („Von meinem Vater habe ich die Begeisterung für die Wissenschaft, von meiner Mutter für Rhetorik geerbt“), studierte Donald an der Harvard-Universität Wirtschaftswissenschaften. Dort lernte er seine Frau kennen und heiratete sie noch während des Studiums.

Drei Monate nach der Hochzeit gestand er ihr seine Neigung zur Travestie. Der Liebe tat das keinen Abbruch, seine Frau hakte es als skurriles Hobby ab. Die Ehe, aus der zwei Kinder hervorgingen, hielt 30 Jahre. In dieser Zeit bastelte McCloskey an seiner Karriere als Wissenschaftler. Allenfalls auf Dienstreisen oder wenn die Kinder nicht im Haus waren, wagte er es, in Frauenkleider zu schlüpfen, um wenigstens für kurze Zeit in die Welt des anderen Geschlechts einzutauchen. „Jeder Mensch hat die Wahl zwischen einer männlichen und einer weiblichen Version“, sagt McCloskey. Er selbst unterdrückte seine weibliche Version jedoch zunächst.

Die wissenschaftliche Karriere verlief steil. Sie machte aus dem linken Ideologen im Laufe der Jahre einen radikalen Marktwirtschaftler. „In meiner Jugend war ich vom Marxismus überzeugt, im Studium wurde ich zum Keynesianer“, sagt McCloskey. 1968 holte ihn der spätere Nobelpreisträger Milton Friedman an die Universität von Chicago. Unter Friedmans Einfluss wandelte sich McCloskey zu einem jener marktbegeisterten Chicago Boys, wie man die Epigonen Friedmans damals nannte.

„Ökonomie ist eine Macho-Disziplin“, sagt McCloskey. Entsprechend rüde verhielt sich Donald. Auf Konferenzen und in Fachaufsätzen bügelte er Kollegen gnadenlos nieder. Dass er, der Macho-Ökonom, insgeheim davon träumte, eine Frau zu sein, ahnte keiner seiner Kollegen.

Das Denkgerüst der Mainstream-Ökonomie, das sich auf mathematische Formeln und realitätsentrückte Modelle reduziert, engte ihn mit der Zeit zunehmend ein. „Ich spürte, dass ich mich intellektuell weiterentwickeln musste“, sagt McCloskey.

Den Wechsel an die Universität von Iowa im Jahr 1980 empfand er daher als eine „humanistische Erweckung“. In den 20 Jahren, die er dort lehrte und forschte, erweiterte sich sein Denk- und Forschungsansatz.

Er sprengte die Grenzen seines Fachs, indem er Erkenntnisse der Philosophie, Soziologie, Literaturwissenschaft und der Psychologie mit denen der Ökonomie verband. Er las die Werke der Ökonomen der Österreichischen Schule, darunter Ludwig von Mises, der die Ökonomie als Teil einer umfassenden Theorie des menschlichen Handelns definiert hatte. „Hätte ich Mises früher gelesen, hätte es meine intellektuelle Entwicklung um zwei bis drei Jahrzehnte beschleunigt“, sagt McCloskey.

"Ich bin Ökonomin geworden, weil ich den Armen helfen will. Die Reichen sind mir egal."

Libertäre wie Sie, Frau Professor, preisen die Vorzüge der Freiheit, aber sie gewinnen nicht die Herzen der Menschen. Statt grenzenloser Freiheit verlangen die Menschen heute nach einem starken Staat.
Libertäre und Liberale haben in der Tat zwei Probleme. Das erste betrifft die Kommunikation. Wir wissen zwar, dass freie Märkte den Armen helfen, weil sie die Wirtschaft dynamischer machen. Aber uns gelingt es nicht, diese Botschaft unter das Volk zu bringen. Deshalb plädiere ich dafür, die mütterliche Seite des Libertarismus zu betonen, die auf Wohltätigkeit und Spenden beruht. Ich bin Ökonomin geworden, weil ich den Armen helfen will. Die Reichen sind mir egal. Außerdem bin ich Christin. Deshalb spende ich einen Teil meines Einkommens. Ich habe viele Freunde aus dem linken Lager, darunter Marxisten. Die glauben, sie könnten den Armen helfen, indem sie den Mindestlohn anheben oder den Markt durch Planwirtschaft ersetzen. Doch damit erzeugen sie nur noch mehr Arme.

Sie könnten die Reichen ja auch stärker besteuern, wie es Thomas Piketty vorschlägt.
Piketty glaubt, er helfe den Armen, wenn er den Reichen etwas wegnimmt. Das ist Unsinn. Ich würde ihn gern fragen, ob er das Autorenhonorar für seine Bücher den Armen gespendet hat. Ich vermute, dass er sich damit lieber ein schönes Haus auf dem Land gekauft hat (lacht).

Sie sprachen von zwei Problemen der Libertären. Was ist das zweite?
Ein anthropologisches. Die Menschen wachsen in Familien auf. Familien sind sozialistische Institutionen. Mutter und Vater sind die zentralen Planer, und dank ihrer Einkommen regnen für die Kinder Geld und Güter wie Manna vom Himmel. Die Familie verteilt die Ressourcen gleichmäßig auf alle Mitglieder, auch wenn nicht alle an deren Erwerb beteiligt sind. Die Menschen glauben daher, das Prinzip der Familie könne auch im größeren Zusammenhang einer Gesellschaft funktionieren. Deshalb ist die Übernahme von Eigenverantwortung, wie sie Liberale fordern, so unbeliebt. Man verlässt sich lieber auf den Staat. Das ist ein großer Fehler. Denn was in der kleinen Einheit der Familie funktioniert, scheitert, wenn man es auf große Gruppen mit fremden Personen überträgt.

Die Ökonomin, die ein Ökonom war. Als Donald McCloskey startete die außergewöhnliche Karriere in der Wissenschaft. Erst in den Neunzigerjahren wurde nach einer Geschlechtsumwandlung aus Donald McCloskey Deirdre. Quelle: Kat Schleicher für WirtschaftsWoche

Jetzt reden Sie wie ein Anarchokapitalist.
So weit wie die Anarchokapitalisten, die den Staat komplett ablehnen, gehe ich nicht. Ich glaube, dass der Staat die Aufgabe hat, die Bürger zu schützen und gegen Gewalt von außen zu verteidigen. Aber anders, als das heute geschieht. Schauen Sie sich die USA an: Wir verfügen über 800 Militärstützpunkte in der ganzen Welt, darunter auch in Deutschland. Der reinste Wahnsinn. Mein Vorschlag ist, die US-Armee aus Ländern wie Deutschland und Südkorea abzuziehen. Um die US-Bürger gegen mögliche Aggressoren zu verteidigen, reichen der Küstenschutz und eine überschaubare Heeresstreitkraft. Auch Atomwaffen halte ich für legitim, weil sie andere Länder abschrecken, solche Waffen gegen Amerika einzusetzen.

Brauchen wir den Staat nicht auch, um Streitigkeiten im Innern zu schlichten und um Recht zu sprechen?
In der Öffentlichkeit ist die Ansicht verbreitet, ohne den Staat als Rechtssetzer und Rechtssprecher funktioniere die Gesellschaft nicht. Tatsächlich aber hat das Recht seinen Ursprung in privaten Vereinbarungen. Um wirtschaftliches Handeln auf eine verlässliche Basis zu stellen, haben die Menschen im Laufe der Zeit Regeln entwickelt, die es einzuhalten gilt. Auch heute noch werden die meisten Streitfälle außerhalb staatlicher Gerichte geklärt, entweder durch Schlichter oder indem man konfliktreiche Geschäftsbeziehungen durch weniger konfliktreiche ersetzt. Da kommen wir ganz ohne Staat aus.

Sie selbst haben das früher aber auch schon einmal anders gesehen.
Ja, mein erster politischer Held war der russische Anarchokommunist Peter Alexander Kropotkin. Ich entdeckte sein Buch „Gegenseitige Hilfe“ in der Gemeindebücherei in meinem damaligen Wohnort, als ich 15 Jahre war. Daraufhin wurde ich zur Marxistin. Ich nannte mich selbst eine Joan-Baez-Marxistin.

"Leider bin ich wenig optimistisch. An den Unis werden Kulturbarbaren ausgebildet"

Die Marxismus-Phase hat McCloskey längst beendet, aber auch vom ökonomischen Mainstream wandte sie sich Stück für Stück ab. In der eigenen Forschung, die sie „Humanomics“ nennt, lenkt McCloskey den Blick auf die Gefühle und die menschlichen Eigenschaften, die das Handeln maßgeblich mitbestimmen: Liebe, Glaube, Mut, Hoffnung, Eitelkeit und Kühnheit.

Das Bestreben der Mainstream-Ökonomen, sich mit den Naturwissenschaften gleich zu machen, habe die Ökonomie in die Sackgasse geführt, habe sie zu einer positivistischen Rechendisziplin verkümmern lassen, kritisiert McCloskey. Um das menschliche Handeln, den Gegenstand ökonomischer Forschung, zu verstehen, müsse man die Ökonomie in der europäischen Tradition der Geisteswissenschaften verankern.

Unter Kollegen erntet McCloskey für ihre marktradikale und ketzerische methodologische Haltung Widerspruch. McCloskey bringe geisteswissenschaftliche und kulturelle Argumente in die ökonomische Diskussion, die sich einer empirischen Überprüfung entziehen, kritisiert Gregory Clark, ein Wirtschaftshistoriker von der University of California, Davis. Der Nobelpreisträger Robert Solow wirft McCloskey vor, zu sehr dem Markt zu vertrauen und Verteilungsprobleme kleinzureden.

McCloskey aber findet: Wenn die Ökonomen die Gesellschaft zum Besseren verändern wollen, müssen sie ihre mathematischen Modelle zu den Akten legen und an ihrer Rhetorik feilen. Die Welt lasse sich nur durch rhetorische Überzeugungsarbeit verändern, nicht durch lineare Algebra.

„Fakten allein machen keinen Sinn“, sagt McCloskey. Ökonomen müssen sie interpretieren, eine Story daraus machen, um sie mit Leben und Inhalt zu füllen.

Was glauben Sie, warum sind viele Ökonomen so mathematikversessen?
Die Mathematisierung der Ökonomie geht vor allem auf den 2009 verstorbenen Nobelpreisträger Paul Samuelson zurück. Die Fokussierung auf die Mathematik aber ist gefährlich. Ökonomen sollten sich stärker an den Geisteswissenschaften orientieren, die sich mit den Kategorien menschlichen Handelns befassen, etwa der Frage, was gut und was schlecht ist. Wer glaubt, ohne humanistische Bildung ein guter Ökonom zu sein, der irrt.

Was bedeutet das für die Ausbildung an den Universitäten?
Leider bin ich da wenig optimistisch. Schon als ich studierte, strich man die Vorlesung zur Geschichte des ökonomischen Denkens aus dem Pflichtkanon. Später eliminierte man auch noch die Pflicht zum Besuch der Vorlesungen in Wirtschaftsgeschichte. Heute rennen Ökonomen durch die Welt, die keine Ahnung von der Ideenentwicklung ihres eigenen Faches oder Wirtschaftsgeschichte, geschweige denn von Philosophie haben. An den Unis werden Kulturbarbaren ausgebildet.

Dafür können die Ökonomen allgemeine Gleichgewichtsmodelle berechnen ...
... die nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben. Viele Ökonomen begreifen sich mehr als Physiker denn als Philosophen. Das ist lächerlich. Theoretische Physiker lesen regelmäßig die Studien der anwendungsorientierten Physik, um zu verstehen, wie die Welt funktioniert.

Aber heute kommt doch kein Ökonom mehr ohne die Kenntnis statistischer Testverfahren aus.
Bei all diesen Verfahren geht es darum, festzustellen, ob eine ökonomische Größe einen signifikanten Einfluss auf eine andere hat. Aber Signifikanztests sind Unsinn. Sie leiten die Größe des Einflusses allein aus einer Zahl ab, ohne den Bezug zur Umwelt zu berücksichtigen.

Können Sie das genauer erklären?
Wenn ich sage, die Temperatur beträgt zehn Grad, dann ist damit nicht klar, ob das kalt oder warm ist. Für das menschliche Empfinden sind zehn Grad ziemlich kalt, verglichen mit der Oberfläche der Sonne sind zehn Grad extrem kalt, gemessen an einer interstellaren Gaswolke aber sind zehn Grad eine Hitzewelle. Dinge können nur signifikant sein, wenn es einen Bezugsrahmen gibt.

Warum wenden Ökonomen die Testverfahren trotzdem an?
Weil die Wirtschaftswissenschaften zu einer Publikationsmaschinerie verkommen sind. Es geht darum, quantitative Ergebnisse zu produzieren, um diese karrieresteigernd in Fachzeitschriften zu veröffentlichen. Es ist höchste Zeit, dass wir die Studenten methodisch breiter ausbilden, statt sie drei Semester mit Ökonometrie vollzupumpen. Wir laufen Gefahr, damit Sozialingenieure auszubilden, die zwar rechnen, aber nicht mehr ökonomisch denken können. Statt staatliche Maßnahmen kritisch zu hinterfragen, beschränken sie sich darauf, der Regierung als Ratgeber zu dienen, wie diese am besten in die Wirtschaft eingreift.

Christliche Nächstenliebe statt staatlicher Zwang

McCloskeys eigene Werke lesen sich denn auch wie eine Saga. Im vergangenen Jahr entstand der letzte Teil einer Trilogie über das Bürgertum. Es ist eine extensive Hommage an den Liberalismus, der vor mehr als 250 Jahren die Menschheit vom Feudalismus befreite. Anders als andere Ökonomen, die die Initialzündung für die große Wohlstandsmehrung in der Kapitalbildung und dem Aufbau funktionsfähiger Institutionen sehen, stellt McCloskey die Idee von der (unternehmerischen) Freiheit in den Mittelpunkt der Betrachtung. Privateigentum entfalte nur dann segensreiche Wirkungen, wenn Erfolg, Gewinn, Leistung und Unternehmertum gesellschaftlich positiv konnotiert sind, wenn nicht der Neid, sondern die Hochachtung vor dem wirtschaftlichen Erfolg der anderen die Köpfe der Menschen beherrscht. Der Liberalismus lieferte dieses Narrativ, machte den Mentalitätswandel möglich, sagt McCloskey.

Dem zuweilen kalten Image des Liberalismus will sie durch Empathie entgegenwirken: freiwillige Spenden statt Steuern, christliche Nächstenliebe statt staatlicher Zwang.

Diese Ökonomen haben unsere Welt geprägt
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Derzeit arbeitet sie an einem Essayband mit dem programmatischen Titel „Was es bedeutet, eine humane Libertäre zu sein“. Mindestens zehn Jahre, hofft McCloskey, könne sie noch intensiv forschen. Wird sie in dieser Zeit den Nobelpreis gewinnen?

Sie selbst sagt: „In den vergangenen Jahren haben zunehmend Ökonomen aus der Kategorie B+ den Preis erhalten. Diese Kategorie, zu der ich mich auch zähle, umfasst etwa 150 Personen. Berücksichtigt man die durchschnittliche Lebenserwartung, haben von ihnen aber nur 40 die Chance, den Preis tatsächlich zu erhalten. Sie können sich also vorstellen, wie jedes Jahr im Oktober ein Haufen älterer Menschen vor dem Telefon sitzt und hofft, einen Anruf aus Stockholm zu erhalten.“

Verdient hat sie den Nobelpreis nach Ansicht vieler Ökonomen allemal. „Ich bin überzeugt, dass McCloskey jedes Jahr unter den Top-Ten-Kandidaten für den Nobelpreis ist“, sagt Walter Block von der Loyola-Universität in New Orleans. „Doch ihre Liebe für den freien Markt könnte dem Preiskomitee ein Dorn im Auge sein.“

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