Als Henrik Hanstein vor knapp 30 Jahren gefragt wurde, was er davon halte, dass ein Bild von Vincent van Gogh für sagenhafte 37 Millionen D-Mark versteigert worden sei, antwortete der Chef des Kölner Auktionshauses Lempertz: „Ist es nicht wunderbar, dass ein Stück bemalte Leinwand vielleicht bald so viel wert ist wie ein paar Starfighter?“ Inzwischen hat der Wunschtraum von der wundersamen Wertvermehrung die Wirklichkeit überboten. Die Branchenriesen Christie’s und Sotheby’s melden von Saison zu Saison neue Weltrekorde: Der „teuerste lebende Künstler“, das „teuerste Kunstwerk“ – Superlative, die vom Nimbus der Kunst und von der Macht des Geldes zeugen.
Das Publikum soll staunen über ehrfurchtgebietende Preise, die in einem Akt demonstrativer Verausgabung für seltene Meisterwerke bezahlt werden. Das jüngste Beispiel: der Ende des Ersten Weltkriegs entstandene „Liegende Akt“ von Amedeo Modigliani. Das einstige Skandalbild, das eine lässig hingestreckte Schönheit zeigt, kam Anfang November auf der New Yorker Versteigerung von Christie’s für umgerechnet 158,5 Millionen Euro unter den Hammer und ist damit nach Picassos „Les Femmes d’Alger“ (167 Millionen Euro, Christie’s, 2015) das zweitteuerste Gemälde „aller Zeiten“.
Dass die Picasso-Marke geknackt wird, scheint angesichts der andauernden Preisexplosionen nur eine Frage der Zeit. 51 Milliarden Euro sind im vergangenen Jahr auf dem globalen Kunstmarkt umgesetzt worden. Sieben Prozent mehr als im Vorjahr, 150 Prozent mehr als vor zehn Jahren, 600 Prozent mehr als Anfang der Neunzigerjahre.
Die Hälfte des Umsatzes geht auf das Konto der Auktionshäuser. Allein Christie’s und Sotheby’s erzielen Umsätze von fast 15 Milliarden Euro; mehr als die Hälfte stammt aus der Versteigerung von Werken, die teurer als zwei Millionen Dollar sind.
Wie schlagen sich im Vergleich dazu die deutschen Auktionshäuser? In welcher Liga spielen Grisebach, Ketterer und Lempertz, die drei ähnlich großen Häuser aus Berlin, München und Köln?
Ach, was heißt schon Liga? Die deutschen Mittelständler werden nicht von den paar Hundert Superreichen angesteuert, die in Zeiten hoher Goldpreise und niedriger Zinsen an einer Diversifizierung ihres Portfolios interessiert sind und den Markt gezielt nach Blue Chips der Klassischen Moderne und den renditeträchtigsten Gegenwartskünstlern (Jeff Koons, Gerhard Richter, Damien Hirst) absuchen lassen.
Die Museumsgeheimtipps der Wiwo-Korrespondenten
Der Geheimtipp: Wer dem englischen Humor näher kommen will, sollte das Londoner Cartoon Museum besuchen, das in drei Räumen rund 230 historische und moderne Karikaturen und Comic Strips zeigt. Jedes Jahr prämiert das Museum die besten Karikaturisten unter 18 und 30 Jahre. Es befindet sich in der Nachbarschaft des British Museums, erhält keine öffentlichen Mittel und kostet Eintritt.
The Cartoon Museum, 35 Little Russell Street, London WC1A 2HH
Beim Museum Neue Galerie, das auf New Yorks Museums-Meile in der Fifth Avenue liegt, ist der Name Programm. Hier geht es deutsch zu, in der Kunst wie beim Kuchen. Besucher finden eine eindrucksvolle Sammlung deutscher und österreichischer Kunst des 20. Jahrhunderts. Nicht minder eindrucksvoll ist – zumindest für amerikanische Verhältnisse – die Auswahl an deutschen und österreichischen Kuchen in den beiden Museumscafés. Wer in New York Sachertorte in edler Wiener Kaffeehausatmosphäre speisen will, geht in die Neue Galerie. Nicht selten scheint die Anziehungskraft des Kuchens höher als die der Kunst. Dann herrscht Leere vor den Klimts, Klees und Kirchners, während die Schlange der Café-Gäste bis auf die Straße reicht.
Neue Galerie, 1048 5th Avenue, New York, NY 10028
Auf einen Tee mit George Sand.
Das Musée de la vie romantique liegt versteckt am Ende einer kleinen Seitenstraße unweit der lauten Place Pigalle. Eben noch von schreiender Leuchtreklame für sehr viel unromantisch bloß gelegte Haut umgeben, trifft der Besucher beim Betreten des Gartens mit nur wenig gebändigten Rosenbüschen und Fliederbäumen auf das Paris des 19. Jahrhunderts. In dem Pavillon im italienischen Stil, der heute das Museum beherbergt, traf sich das künstlerische "Who is who" der Epoche bei dem damaligen Mieter, dem Maler Ary Scheffer. Rossini, Dickens, Delacroix, Chopin und auch George Sand. Der Schriftstellerin, die eigentlich Amantine Aurore Lucile Dupin de Francueil hieß und unter dem Männernamen George Sand Romane und gesellschaftspolitische Beiträge verfasste, ist das gesamte Erdgeschoss des Museums gewidmet. An sonnigen Tagen sollte man unbedingt noch auf einen Tee im Garten verweilen.
Musée de la vie romantique, 16 rue de Chaptal, 75009 Paris
Während Sotheby’s und Christie’s den Charakter von Finanz-Kunst-Instituten mit angeschlossenem Versteigerungsraum angenommen haben, versammelt der deutsche Auktionsmarkt eine bunte Kundschaft aus Besitz-, Bildungs- und Konsumbürgertum. Hier bieten etablierte Sammler für Wolkenstudien aus dem 19. Jahrhundert und junge Erben für ein exklusives Blatt von Adolph Menzel. Hier interessiert sich ein anonymer ausländischer Käufer für ein Großformat von Günther Förg, ein stadtbekannter Orthopäde für eine Mappe mit Skizzen von Georg Baselitz oder auch ein Kunststudent für eine Grisaille von Bernard Schultze. Rund ein Drittel der Käufer kommt aus dem Ausland, sie geben zwischen 1000 und 1.000.000 Euro für ein Kunstwerk aus, gelegentlich auch mehr. Ein Nischenmarkt, gewiss, doch nach den USA, Großbritannien, China und Frankreich immerhin der fünftgrößte der Welt.
Um die Dimensionen noch einmal zu verdeutlichen: Der Umsatz von Sotheby’s und Christie’s allein in Europa übertrifft den der drei deutschen Mittelständler um das 30-Fache. Der chinesische Geschäftsmann, der Modiglianis Schöne nach langem Bieterstreit ersteigerte, hätte für sein Geld auch fünf Jahressortimente der Klassischen Moderne von Grisebach, Ketterer und Lempertz abräumen können – eine veritable Sammlung mit 500 Gemälden von Emil Nolde, Egon Schiele, August Macke, Lovis Corinth, Karl Hofer, Gabriele Münter.
Gute Geschäfte
Was soll’s. Die deutschen Mittelständler fühlen sich wohl in ihrer Nische, die Geschäfte gehen gut. Das Auktionsvolumen von Grisebach hat sich von 26,4 Millionen (2000) über 47,8 Millionen (2007) auf rund 56 Millionen Euro (2015) dynamisch entwickelt, auch über die schwierigen Krisenjahre hinweg. Analog zum Umsatz, sagt Geschäftsführerin Micaela Kapitzky, hat sich „auch die Zahl der Bieter seit 2000 mehr als verdoppelt“.
Das gleiche Bild bei Lempertz: Seit 30 Jahren, berichtet Henrik Hanstein, habe es „ständig steigende Umsätze“ gegeben, „allenfalls mal Stagnation“. Auf gut 26 Millionen Euro beziffert Hanstein die Erlöse des ersten Halbjahrs 2015 – ohne die Schmuckauktion Ende Juli in Monte Carlo, die noch einmal 9,1 Millionen Euro erbrachte. Auch Robert Ketterer, Inhaber des Münchner Auktionshauses, spricht von einer „stabilen Wertentwicklung“. Ketterer hat eine „Delle“ wahrgenommen Anfang der Neunzigerjahre, als er das Haus mitten in der Kuwaitkrise von seinem Vater übernahm. „Seitdem sind wir kontinuierlich besser geworden“, so Ketterer – vor allem durch eine Konzentration des Angebots auf klassische Moderne und Gegenwartskunst.
Auch in der Dotcom-Krise 2001, als die Objektakquise „extrem schwierig“ wurde, weil sich die Sammler mangels alternativer Wertanlage nicht von ihren Stücken trennen wollten, habe Ketterer „einen starken Aufschwung genommen“. Und in der Finanzkrise seien die Preise „durch die Decke gegangen“. Ketterer verbuchte mit Bildern von Emil Nolde und Max Pechstein Rekordzuschläge von 2,5 und 3,5 Millionen Euro. Grisebach erlöste für die Rüstungsphantasien von Adolph Menzel 3,3 Millionen.
Die Gründe für die anhaltende Hausse des Kunstmarkts sind komplex. Neben den individualpsychologischen Motiven – Distinktionsbedürfnis und Wunsch nach Selbstauszeichnung – spielt eine ganze Reihe von neuen Aspekten eine Rolle, die soziologisch noch nicht aufgeschlüsselt sind, sich aber wechselseitig bedingen und verstärken: erstens die schiere Ubiquität von zeitgenössischer Kunst im öffentlichen Raum, auf Messen und Kunstbiennalen, in Galerien und immer neuen (Privat-)Museen.
Zweitens die scheinbare Transparenz des Kunsthandels, die Sichtbarkeit und Vergleichbarkeit von Künstlern, Werken und Preisen im Internet. Drittens die Objektivität von Auktionsergebnissen: Sie sind der „öffentliche Beweis“, sagt Grisebach-Geschäftsführer Florian Illies, „dass ein bestimmtes Kunstwerk einen bestimmten Marktpreis hat“. Viertens schließlich die „Demokratisierung“ des Auktionsgeschäfts durch den gezielten Abbau von Schwellenängsten sowie durch laufend neue Angebote für Inhaber schmalerer Portemonnaies (Lithografien, Editionen) und verbreiteter Spezialinteressen (Fotografie).
Die Museen mit den meisten Besuchern weltweit (in Millionen)
Louvre (Paris)
Quelle: AECOM, The Art Newspaper; Zahlen für 2013
National Museum of Natural History (Washington)
Quelle: AECOM, The Art Newspaper; Zahlen für 2013
National Museum of China (Peking)
Quelle: AECOM, The Art Newspaper; Zahlen für 2013
National Air and Space Museum (Washington)
Quelle: AECOM, The Art Newspaper; Zahlen für 2013
British Museum (London)
Quelle: AECOM, The Art Newspaper; Zahlen für 2013
Metropolitan Museum of Art (New York)
Quelle: AECOM, The Art Newspaper; Zahlen für 2013
National Gallery (London)
Quelle: AECOM, The Art Newspaper; Zahlen für 2013
Vatikan Museen (Rom)
Quelle: AECOM, The Art Newspaper; Zahlen für 2013
Natural History Museum (London)
Quelle: AECOM, The Art Newspaper; Zahlen für 2013
Deutsches Museum (München)
Quelle: AECOM, The Art Newspaper; Zahlen für 2013
Pergamon Museum (Berlin)
Quelle: AECOM, The Art Newspaper; Zahlen für 2013
Christiane Lange, Direktorin der Stuttgarter Staatsgalerie, rechnete zuletzt der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vor, dass seit 1990 allein in Deutschland 700 neue Kunstmuseen eröffnet und weltweit 105 Biennalen gegründet wurden. Die großen Stelldicheins der Branche von Kassel bis Venedig und die etablierten Sammlermessen in Basel oder Köln werden in Berlin, München und Hamburg rund ums Jahr ergänzt von „Gallery-Weekends“, „Stroke“-Tagen und „Affordable Art Fairs“, die das Geschäft sprichwörtlich auf die Straße bringen.
Sei es die Hoffnung des Entdeckers auf den nächsten Jeff Koons, sei es das Interesse des Narziss am Unikat, sei es das Gefühl, zur gesellschaftlichen Avantgarde zu gehören, oder auch nur der Wunsch, eine Weißwandlücke hinter dem Esstisch zu schließen – der norwegische Anwalt, Abenteurer und Sammler Erling Kagge hat im Frühjahr mit „A Poor Collector’s Guide to Buying Great Art“ das Buch zum Trend geschrieben.
Ein wichtiger Treiber der Entwicklung (auch im eigenen Interesse) sind kaufkräftige Sammler, die wortwörtlich zeigen, wie es geht. Sie haben Deutschland mit einem engmaschigen Netz aus Privatmuseen überzogen: Christian Boros (Berlin) und Viktor Langen (Neuss), Hans Grothe und Ulrich Ströher (Duisburg), Reinhold Würth (Künzelsau) und Frieder Burda (Baden-Baden). Die Werke vieler Künstler, die dort ausgestellt sind, waren noch vor wenigen Jahrzehnten preiswert-exklusive Einrichtungsgegenstände für eine hippe Vor-Ort-Szene; sie haben erst durch Wiedererkennbarkeit und Variation, Verbreitung und Zirkulation an Marktwert gewonnen.
Heute sind Anselm Kiefer, Markus Lüpertz, Gerhard Richter, Arnulf Rainer oder Georg Baselitz schwindelerregend teure Klassiker, die jeder haben will. Schlüsselwerke der besonders nachgefragten Zero-Künstler Günther Uecker, Otto Piene und Heinz Mack sind nicht mehr unter 200.000 Euro zu haben.
Künstler-Weltrangliste
Auf der Internetseite artfacts.net können sich Kunst-Nerds vom phänomenalen Vormarsch ihrer Lieblinge in der Künstler-Weltrangliste überzeugen: Piene zum Beispiel ist von Platz 1330 im Jahre 2005 auf Platz 254 geklettert. Wem das nicht reicht, kann sich auf dem artverwandten Portal artnet.de die Ergebnisse ansehen, die seine Rauch- und Rußbilder auf den Auktionen der vergangenen zehn Jahre erzielt haben.
Kann das ewig so weitergehen? Zweifel sind angebracht. Die großen Auktionshäuser verdienen zu wenig. So betrug der Gewinn des US-Versteigerers Sotheby’s im Jahr 2014 bei Auktionserlösen von 5,2 Milliarden nur 226 Millionen Dollar, ein bescheidenes Plus von 1,6 Prozent. Und im ersten Halbjahr 2015 setzten die vier führenden Auktionshäuser der Welt in China mit 1,6 Milliarden Dollar 2,6 Prozent weniger um als im gleichen Zeitraum 2014. Umsatzrückgänge von fünf Prozent vermeldeten auch die Kunstmärkte in England, Frankreich und Deutschland.
Vielleicht bricht sich auch die Zero-Welle: Die Herbstauktionen von Grisebach und Lempertz in der vergangenen Woche zeigten, dass mit Spitzenkunst immer noch Spitzenpreise erzielt werden, aber nicht jeder Mack oder Piene, auch nicht jeder Nolde ein Selbstläufer ist. So langsam scheint es einigen Kunstbegeisterten zu dämmern, dass Kunst als materielle Investition eine Anlageform wie jede andere ist, „dass ihre Preise“, so Illies, „auch fallen können“. Hinzu kommt: „Wenn die Zinsen wieder hochgehen“, sagt Ketterer, „wird es mehr Waren auf dem Markt geben, aber weniger Interessenten“. Schon heute wird die Hälfte aller Kunstwerke auf dem Auktionsmarkt teurer erworben als verkauft.
Dem gegenüber steht der Trend, dass man mit Kunst heute immer noch Sozialprestige einkaufen kann. „Plakativ gesagt: Was früher der Porsche war“, so Robert Ketterer, „ist heute die Kunst.“ Auch machen die Auktionshäuser inzwischen bis zu 50 Prozent ihres Umsatzes mit Neukunden, die erst zwei Jahre dabei sind. Sie „kaufen für die Wände“, auf zwei, drei Auktionen, mit variabler Preisgrenze, für etwa 30 000 Euro, je nach Intensität des Haben-Wollens. Das ist die Klientel, die die Auktionshäuser umwerben, mit aufwendigen Katalogen, die kunstgeschichtliche Einordnungen und Marktanalysen bieten, mit Vorbesichtigungen in den wichtigsten Städten, in Zürich, Frankfurt, Düsseldorf, Hamburg und Berlin, mit Partystimmung an den Auktionstagen.
Die Zeiten, da der Auktionsmarkt ein „closed shop“ war, der vor allem die Kunsthändler belieferte, sind vorbei. Die Kataloge stehen heute online, bei der Versteigerung eines kolumbianischen Meisters bieten „nicht nur ein paar Eingeweihte“, so Hanstein, „sondern Interessenten weltweit per Live-Auktion mit“. Schließlich der Wegfall der EU-Binnengrenzen: Früher fielen jedes Jahr Zehntausende D-Mark für Zollpapiere an. Heute kann man die Sachen in Europa hin- und herschicken. Die Kunstwelt sei „kleiner geworden“, sagt Hanstein, „auch schneller“. Gerade bei der modernen und zeitgenössischen Kunst, mit der die Auktionshäuser mehr Umsatz machen als mit den „400 Jahren davor“.
Vor allem aber wird die Auktion als Thrill ihre Faszination behalten. Eine Versteigerung ist für den Kunstfreund, was für den Börsenhändler die riskante Wette ist. Die Auktion, so fasst es Ketterer zusammen, ist ein „permanenter Wettstreit zwischen dem Wunsch zu gewinnen und der Angst zu verlieren. Zum Ersten, zum Zweiten und ... zum Dritten.“