Entzauberte Mythen

Lernen ist gut, verstehen besser

Das Silicon Valley feiert Deep-Learning-Algorithmen. Dabei geht es im Prinzip ums Auswendig lernen durch ständige Wiederholung. Dabei sollte es beim Lernen eigentlich um etwas anderes gehen.

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Was wirklich hinter Lernmythen steckt
Bloß nicht mit den Fingern rechnen Quelle: Fotolia
Eine Lehrerin schreibt mit Kreide an die Tafel Quelle: dpa
Schüler mit dem Smartphone auf dem Schulhof Quelle: dpa
Fehler helfen beim LernenWer sich beim Lernen häufig verhaspelt und die Lösung raten muss, lernt trotzdem was. Eine kanadische Studie hat gezeigt, dass die Gedächtnisleistung sogar von den Fehlern profitiert. Dies gilt allerdings nur, wenn die Raterei nicht völlig ins Kraut schießt, sondern nur knapp an der richtigen Lösung vorbei ist. Wer häufig fast richtige Vermutungen anstellt, dem helfen diese wie kleine Brücken beim Erinnern an die korrekte Information. Diesen Vorteil konnten die Forscher sowohl bei jüngeren als auch bei älteren Probanden feststellen. Wer sich selbst herantastet, profitiert davon also mehr, als wenn ihm die richtige Antwort vorgesagt wird. Quelle: Fotolia
Texte wiederholt zu lesen, heißt viel zu lernen Quelle: dpa
Gelerntes erzählen, hilft es sich zu merken Quelle: AP
Hochbegabte sind LernüberfliegerWer einen ungewöhnlich hohen IQ hat, ist in der Schule noch lange kein Überflieger. Weil viele Hochbegabte in der Schule unterfordert sind, markieren sie den Klassenclown und bekommen entsprechend schlechte Noten. Quelle: Fotolia

Neulich spielte ich mit meinem zweieinhalbjährigen Nachbarn im Garten Fußball. Als ich mich im Tornetz verhedderte, eilte er mir zu Hilfe und rief: „Warte, ich hol den Spreizer!“ Dahinter verbirgt sich ein hydraulisches Schneidegerät, mit dem die Feuerwehr festgeklemmte Personen aus eingequetschten Fahrzeugen befreit. In diesem Moment schossen drei Dinge durch meinen Kopf.

  • Erstens: Was zum Teufel ist ein Spreizer?
  • Zweitens: Wird er mich damit wirklich befreien können?
  • Und drittens: Was hat der Kleine nur für Eltern?

Nun gut, sie sind bei der Berufsfeuerwehr. Aber haben sie ihm wirklich tagelang Bilder von Spreizern, Rettungsscheren und Löschzügen gezeigt, bis er sie schließlich gelernt hatte? Wohl kaum.

Lernen mit Bildern

Dabei feiert das Silicon Valley derzeit diese Form des Lernens. Selbstständig sollen sich sogenannte Deep-Learning-Netzwerke beibringen, wie ein Auto auszusehen hat, solange man ihnen nur genügend Bilder von Autos zeigt. Das Prinzip scheint plausibel: Sie sollen die Daten immer und immer wieder durchkauen, bis Gemeinsamkeiten und Korrelationen auftauchen.

Wenn auf einem Bild dann vier Reifen und ein Lenkrad erscheinen, ist es mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit ein Auto. Übung macht den Meister. Kennen wir das nicht aus unserem eigenen Leben? Ganze Schulsysteme und Mitarbeiterfortbildungen scheinen auf diesem Lernprinzip aufzubauen. Als wäre das ständige Einpauken von Informationen der beste Weg des Lernens – eben so, wie es die neuesten Algorithmen von Google und Facebook schon machen, wenn sie Gesichter oder Katzenvideos erkennen.

Schneller schlau: So lernen Maschinen das Denken

Wenn sich die IT-Industrie da mal nicht täuscht! Denn Lernen ist schön und gut – doch verstehen ist besser. Wenn wir etwas gelernt haben, dann können wir es auch verlernen. Doch einmal verstanden, können wir es nicht ent-verstehen. Und wir verstehen eben nicht, indem wir ständig das Gleiche wiederholen – sondern indem wir einmal den zugrunde liegenden Sinn begriffen haben.

Mein kleiner Nachbar hat sicherlich nur ein-, zweimal den Begriff Spreizer gehört. Doch das hat gereicht, um ihn nicht mehr zu vergessen (und auch ich weiß jetzt Bescheid). Wir machen das ständig und verstehen auf den ersten Blick, was die Wörter Selfie, Flexitarier oder Teuro bedeuten könnten.

Wer verstehen will, braucht Ruhe

Wer die Welt nicht nur auswendig lernen, sondern sie auch verstehen will, sollte sich nicht auf das Niveau von Computeralgorithmen begeben. Denn diese rechnen permanent vor sich hin, ohne Sinn und Verstand.

Unsere Lern-Tipps

Wir hingegen machen Pause, wenn wir etwas Neues gesehen haben – und aktivieren dabei jene Hirnregionen, die den Sinn neuer Informationen erfassen. So wissen wir aus zahlreichen Studien, dass diese Momente der Ruhe für Verständnis unbedingt notwendig sind. Dann reicht es bisweilen, einmal genau hinzuschauen, ohne langes Pauken. Statt sich ständig mit aktuellen News und Meldungen zuzuschütten, darf man also durchaus ab und zu Abstand von der Nachrichtenflut nehmen, um diese zu verstehen. Wenn das mal kein schöner Vorsatz ist.

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