Thomas Vilgis ist Physiker und beschäftigt sich mit weicher Materie. Der Professor am Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz steht vor zwölf Köchen, die zur Veranstaltung Cooktank 5 ins Frankfurter Gewerbegebiet Fechenheim gekommen sind, um über die Zukunft des Kochens zu sprechen, und wirft eine Reihe von Charts auf die Leinwand. Komplexe Molekülketten sind darauf zu sehen. Vilgis referiert dazu in leisen Tönen über die Unterschiede von Garen und Fermentation bei Gemüse. Wenn man Spargel in Essig einlege, ihn räuchere oder nur kurz blanchiere, erzählt Vilis, reagieren die Stangen darauf ganz unterschiedlich. Gemüse, so sein Fazit, verdiene es, kulinarisch aufs Podest gehoben zu werden.
Die Köche überraschte er mit dem Statement freilich nicht. "Gemüse ist schon lange keine Beilage mehr. Es spielt keine Nebenrolle auf dem Teller", sagt Dirk Hoberg vom Restaurant Ophelia in Konstanz. Bei dem vom Internet-Portal Sternefresser veranstalteten Symposium präsentiert er seine Variationen von Spargel. Unter anderem tischt er fermentierten, mithin deutlich säuerlichen Spargel in sehr dünnen Streifen auf. "Verwegen vegetarisch" hieß eines der Themen, die die Köche anregen sollten, über den eigenen Tellerrand auf den der Kollegen zu schauen. Sellerie, der - zwar in Butter - über acht Stunden gegart wurde, oder eine Reihe von Variationen über die Erbse zeigten: Wer als Gast heutzutage in ein Restaurant der Spitzenklasse geht, kann sicher sein, auch bei den Beilagen Gaumenfreuden zu finden.
"Ich sehe das auch als Herausforderung", sagt Sven Wassmer vom Restaurant Focus im Parkhotel Vitznau in der Schweiz. Die jungen Köche haben die Nachricht von Dozent Vilgis längst verinnerlicht. "Die Vielfalt der Möglichkeiten ist dank der Küchentechniken für Gemüse heute größer als bei Fleisch", ist Vilgis nüchternes Fazit.
Diese wissenschaftliche Einschätzung dürfte einer zunehmenden Zahl von Menschen gefallen, die alles gern essen - mit Ausnahme von Fleisch, Milch und Eiern. Vegane Ernährung ist längst nicht mehr nur etwas für blutleere Sonderlinge.
Fleisch steht bei immer mehr mehr Menschen auf dem persönlichen Index. Sie fürchten sich vor gesundheitlichen Folgen der Fleischeslust, vor hohen Cholesterinwerten, Darmkrebs und anderen Nebenwirkungen. Sie verabscheuen die Massentierhaltung, sind durch Fleischskandale aufgeschreckt oder möchten ganz einfach kein Schlachtvieh auf dem Gewissen haben. So wächst in Deutschland eine Gesellschaft heran, die auf der einen Seite immer teurere Spezialitäten in die wie Schaufenster inszenierten Kühlkammern der Steakrestaurants hängt, um sie dort zu Dry-Aged-Delikatessen reifen zu lassen. Daneben gibt es Menschen, für die Fleisch vor allem eine billige Form der Kalorienzufuhr ist. Nach einer Studie der Universität Göttingen ist der Ruf der Fleischbranche noch schlechter als der von Banken. Und je höher die Bildung der Menschen, desto geringer ihre Lust auf Fleisch. Fleisch drohe zum Produkt für Angehörige der Unterschicht zu werden, warnt ein Autor der Studie.
Veganer-Metropole Berlin
Auf der anderen Seite der Gesellschaft genügt vielen Menschen der Verzicht auf das Fleisch von toten Tieren längst nicht mehr. Vegetarismus ist für sie nur der halbe Weg zur Glückseligkeit. Sie wollen auch keine Milch, keine Eier oder Gelatine mehr verzehren und schütteln sich vor Produkten, die auch nur eines dieser Dinge enthält. Das Zentrum dieser Bewegung hin zu einer veganen Ernährung liegt in den Großstädten. Berlins Stadtteil Prenzlauer Berg ist für die Mütter mit Hipsterknoten und dem Wunsch nach Sojamilch als Basis für den Schaum auf dem Cappuccino ein Schlaraffenland. "In Deutschland leben aktuell rund sieben Millionen Vegetarier, das sind acht bis neun Prozent der Bevölkerung, Tendenz steigend. Davon leben etwa 800.000 Menschen vegan", schätzt der Geschäftsführer des Vegetarierbundes Vebu Sebastian Zösch.
Wer isst was? - Vegetarismus
Neben pflanzlichen Produkten ergänzen sie den Speiseplan durch Milchprodukte.
Zusätzlich zu pflanzlichen Produkten verzehren sie auch Eier.
Milch und Eier sind ebenfalls erlaubt.
Ihre Devise heißt: Keine toten Tiere, solange es keine Fische sind - die werden verzehrt.
Fleisch und Fisch werden gemieden, die Ernährung besteht größtenteils aus Fertiggerichten und diversen Süßigkeiten.
Zusätzlich zum Verzicht auf Fleisch und Fisch verzehren Frutarier lediglich pflanzliche Produkte, deren Konsum der Pflanze nicht schadet (ein Apfel, der von selbst vom Baum fällt, darf verzehrt werden, eine Karotte hingegen nicht).
Alle Produkte tierischen Ursprungs werden gemieden. Diese Art von Vegetarismus grenzt an den Veganismus, jedoch wird hier nur auf die Ernährung geachtet, Mäntel oder Schuhe aus Leder werden getragen.
Viele Menschen verzichten bewusst gelegentlich auf Fleisch, sie heißen auch "Teilzeitvegetarier".
Die Buchverlage haben längst reagiert. "La Veganista - Lust auf vegane Küche": So schmissig lebensfroh betitelt Autorin Nicole Just ihren Leitfaden, der "100 leckere Rezepte von Frühstück bis Abendessen" verspricht. Der Autor und Sportler Attila Hildman hat mit Büchern wie "Vegan for fit" dazu beigetragen, der veganen Ernährung ein besseres Image zu verschaffen. Blass und dünn - das war einmal. Muskulös und ausdauernd - das sind die Protagonisten der sogenannten neuen Sportveganer.
Wer isst was? - Veganismus
Sie kaufen nur dort ein, wo parallel keine Tiere gehalten werden, der Bauernhof muss ohne Tierhaltung auskommen.
Sie essen Früchte von solchen Pflanzen, deren Verzicht nicht die Zerstörung der Pflanze bedeutet.
Um die Vitamine der Nahrung zu erhalten, werden die Lebensmittel nicht oder kaum mit Hitze behandelt.
Beim sogenannten "Containern" werden Lebensmittel aus Containern verzehrt, um damit die Lebensmittelverschwendung zu verringern, es wird jedoch nicht immer streng auf die vegane Lebensweise geachtet.
Nicht nur die Ernährung ist vegan, tabu sind zudem Leder, Wolle, Daunen und bestimmte Kosmetika. Ebenso verboten: Zoobesuche oder Haustierhaltung. Auch Zirkusveranstaltungen, bei denen Tiere auftreten, werden gemieden. Eine Welt ohne Jagd und Tierversuche stellt das Ideal dar.
Andenhirse statt Nudeln
Der Amerikaner Scott Jurek ist einer der erfolgreichsten Ultramarathonläufer der Welt und Veganer. Sein Buch "Eat & Run" ist vielen Hobbyathleten Anreiz, es selber zu versuchen. Jurek, der unter anderem den Spartathlon über 246 Kilometer dreimal gewann, kocht ausschließlich pflanzlich. Seinen Energiebedarf deckt er dennoch. Wie das geht, darüber tauschen sich die Hobbyathleten über das Internet aus. Zahlreiche Blogs und Twitter-Accounts beschäftigen sich mit der Frage, wie sie die Proteine oder das Eisen, das Sportler in höherem Maße benötigen, durch Nahrung aufnehmen können. Die Hobbysportlerin Nadin Eule-Mau aus Berlin beschreibt unter eiswuerfelimschuh.wordpress.com ihre Ernährung. "Die Sportbegeisterung ist älter als die Entscheidung, erst vegetarisch und nun vegan zu leben", sagt Eule-Mau. Sie sei früher "Puddingvegetarierin" gewesen, also ein Mensch, der den Verzicht auf Fleisch und Fisch mit Süßigkeiten kompensiert und reichlich Kohlehydrate zu sich nimmt. Das Idealgewicht lässt sich so natürlich nicht halten. Der letzte Schritt zur Veganerin ist ihr aber noch nicht ganz geglückt: "Ich liebe Käse einfach zu sehr." Doch die Umstellung ihrer Ernährung ist ansonsten gelungen: Quinoa, eine Art Reis, ersetzt die für Ausdauersportler oft so wichtigen Nudeln. Auch Weizen hat Eule-Mau vom Speiseplan weitgehend gestrichen, sie verträgt ihn nicht so gut.
Tierisches Tabu
UN-Generalsekretär Ban Ki Moon erklärte 2013 zum "Jahr der Quinoa". Für Eule-Mau ist die Andenhirse sättigende Basis ihrer Ernährung, die sie anfangs mit Bedacht zusammenstellen musste. Mangelernährung ist für Veganer noch immer eine Gefahr. Denn eine Ernährung, die Fleisch und Seefisch oder Milchprodukte beinhaltet, enthält auch Mineralstoffe und wertvolle Eiweiße - Veganer müssen dafür nach Alternativen suchen. Für Eule-Mau, die inzwischen flüssig über glykämischen Index und die Zubereitung von Nussmilch referieren kann, ist Soja hingegen kaum noch von Interesse.
Tofu, das in Würstchenform gepresst den Eindruck vermitteln sollte, irgendwie dazuzugehören oder den Abschied vom Fleisch zu erleichtern, ist für Eule-Mau überflüssig. Ersatz für Ei (Apfelmus oder reife Banane), Ersatz für Gelatine (Agar-Agar aus Rotalgen), Ersatz für Sahne (Sahne aus Kokos, Reis oder Soja) - für all die Zutaten, die beim herkömmlichen Backen für Aroma, aber auch für Stabilität und Lockerheit des Teiges sorgen, hat sie inzwischen Ersatz gefunden.
An ihre Grenzen stoßen überzeugte Veganer dennoch an ganz anderen Stellen. Ledersofas sind im Prinzip nämlich ebenso tabu wie Wein - denn der wird oftmals mit tierischen Produkten geklärt. Noch ist der gesichert tierfrei produzierte Wein ein Ausnahmeprodukt. Dafür, dass keine Insekten mit vinifiziert wurden, kann eh kein Winzer geradestehen. Bierbrauer haben es da leichter. Die Köche beim Cooktank sehen etwaigen Reservierungen von Veganern deswegen gelassen entgegen. "Bei spontanen Restaurantbesuchen könnten Veganer allerdings Probleme bekommen", sagt Eric Werner von dem mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichneten Restaurant Residence in Essen.
Dirk Hoberg ist beim Cooktank mit seinem Teller mit Spargelvariationen auch noch nicht recht glücklich: "Ich selber würde mir noch etwas dazu wünschen. Ein Stück Fisch würde das Gericht vervollkommnen." Wissenschaftler Vilgis hat zumindest nichts einzuwenden. Er hat vor vielen Jahren versucht, vegetarisch zu leben. Ohne Erfolg: "Es ist mir gesundheitlich nicht bekommen."