Fortbewegung Was unseren Gang ausmacht

Der Wissenschaftshistoriker Andreas Mayer über die bürgerliche Gehkultur, die Vermessung des Gangs und Städte, die zum Spazieren einladen.

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Schritt für Schritt. Bewegungsstudie von 1882 Quelle: Getty Images

WirtschaftsWoche: Herr Mayer, wie geht’s?

Mayer: Danke, deutlich besser, nachdem mein Buch endlich erschienen ist.

Sie haben mehr als zehn Jahre an der "Wissenschaft vom Gehen" gearbeitet.

Ja, eine lange Wegstrecke, ich weiß. Aber das ist vielleicht kein Wunder bei einem Thema, das naturgemäß zu gewissen Reflexionspausen und Stillständen führt.

Wie haben Sie zu Ihrem Thema gefunden?

Andreas Mayer Quelle: Presse

Wie so oft durch einen Zufallsfund. Als ich über die Vorgeschichte der Psychoanalyse arbeitete, stieß ich im Archiv auf zahlreiche Untersuchungen zum hysterischen Gang. Auch bei Freud finden wir dazu noch Bemerkungen. Ich fragte mich, welche Rolle das Gehen für die Geschichte der Psychoanalyse spielt.

Wir dachten immer, die Patienten liegen auf der Couch des Analytikers?

Sicher, die Couch ist nicht zufällig zum Symbol der Psychoanalyse geworden. Doch in seiner Anfangszeit hat Freud viele Patienten beim Spazieren, in "altklassischer Weise", wie er sagte, analysiert. Eine Praxis, die er lang beibehielt, bei seinen Schülern, aber auch bei Patienten wie etwa dem Komponisten Gustav Mahler.

Zur Person

Auch deshalb, weil erst das Gehen die Assoziationstätigkeit in Gang bringt?

Ja, das Gehen löst durch die unterschiedlichsten Dinge, die wir unterwegs sehen, auch unwillkürlich Erinnerungen und Tagträume aus, die in die Kindheit führen und aufgearbeitet werden sollen. Diese Vorstellungen reichen zum Teil in die Zeit der Aufklärung zurück, die das Gehen als pädagogisches Instrument entdeckt.

Im Gegensatz zum Sitzen?

Vor allem im Gegensatz zum Fahren. Die Kritik richtet sich gegen den aristokratischen Verhaltenskodex, gegen die Fahrt in der luxuriös ausgestatteten Kutsche auf der Promenade, aber auch gegen die Ökonomie des Reisens mit der Postkutsche: Die Fahrt in der "Maschine" wird abgewertet, sie gilt den Aufklärern als Käfig, der den Menschen von der Natur trennt. Das Gehen dagegen wird zur natürlichsten und besten Form der Fortbewegung erklärt. Es bringt nicht nur den Körper, sondern auch den Geist in Schwung. Man ist beim Gehen näher an den Phänomenen.

Das erinnert an die sogenannten Spaziergangswissenschaftler, die heute behaupten, dass das Gehen eine Schule der Wahrnehmung sei, dass Stadt und Landschaft sich dem Menschen nur sukzessive, Schritt für Schritt, im Gehen erschließen.

Ja, da ist in den vergangenen Jahren der bewusste Versuch einer Wiederaneignung der Tradition gemacht worden. Jedenfalls können sich die Spaziergangswissenschaftler trotz ihres vielleicht etwas zu hoch tönenden erkenntnistheoretisch-politischen Programms auf die aufklärerische Forderung berufen, sich die Welt zu Fuß, auf unmittelbare Weise neu anzueignen.

Der ökonomische Gang

Die schönsten Plätze Deutschlands
Bamberg: Domplatz Quelle: dpa
Berlin: Gendarmenmarkt Quelle: Reuters
Bremen: Marktplatz mit Roland Quelle: dpa
Coburg: Marktplatz Quelle: dpa
Dresden: Alt- und Neumarkt Quelle: AP
Frankfurt am Main: Opernplatz Quelle: dpa
Hildesheim: Marktplatz Quelle: dpa

Sind das womöglich die legitimen Erben der "bürgerlichen Gehkultur"?

Nein, damit ist etwas anderes gemeint. Das Gehen wird vom Bürger – und vom aufgeklärten Adel – im 18. Jahrhundert nicht nur als physiologischer, sondern auch als moralisch-seelischer Vorgang verstanden. Daher das Plädoyer für den demonstrativ aufrechten Gang. "Halt dich gerade!" – das ist eine typisch bürgerliche Parole. Und die gilt ja heute noch. Der ordentliche Fußgänger geht nicht mit seitwärts oder nach unten geneigtem Kopf, wie ein Modegeck, der eitel seine Kleider mustert, sondern mit erhobenem Haupt. Er geht gleichmäßig ausschreitend, mit leicht auswärts gerichteten Füßen, immer in gerader Richtung, einer klaren Linie folgend.

Klingt ziemlich rational und ökonomisch.

Ja, im Gegensatz zu den von Rousseau inspirierten Romantikern, die das umherschweifende, wilde Gehen favorisieren, suchen viele nun den kürzesten Weg zwischen zwei Punkten. Erst recht zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Der Gang wird zunehmend bezogen auf das Ideal der ökonomischen, also möglichst reibungslosen und kraftsparenden Fortbewegung.

Aber gilt das auch für das Gehen in der Natur? Ist das Schöne am Spazieren nicht gerade das Zweckfern-Vergnügliche, das keiner Begründung bedarf?

Sicher, aber es wird im 19. Jahrhundert immer mehr in Regie genommen. Der "Turnvater Jahn" empfiehlt das Wandern als kollektive Leibesertüchtigung im Dienste des Vaterlands. Sein Erziehungsprogramm trägt deutlich militaristische Züge, es ist gegen die napoleonische Besatzung gerichtet – und findet heute noch sein fernes Echo in Wanderführern mit dem Titel "Du musst wandern".

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Gehen als organisiertes Exerzitium?

Durchaus. Das Gehen wird im 19. Jahrhundert von der Psychologie in Deutschland vor allem deshalb so aufwendig erforscht, weil es in der Variante des Marschierens kriegswichtig und sogar -entscheidend erscheint. Die ersten Erforscher des menschlichen Ganges wie die Brüder Wilhelm und Eduard Weber entwickeln die Vorstellung eines idealen Mechanismus, eines reibungslosen Gangs, der wie die Schwingungen eines Pendels bis ins kleinste Detail auszurechnen sei.

Das Pendel als Taktgeber der Truppen?

Genau, es soll Ordnung ins Gehen gebracht werden. Auf dem Schlachtfeld, aber auch in der Stadt, wo der Fußgänger zunehmend in Konkurrenz tritt zu Pferdewagen und Transportmaschinen aller Art. Das daraus resultierende Chaos wird nirgendwo anschaulicher und drastischer beschrieben als in den Paris-Romanen von Honoré de Balzac. Sein Typ des Flaneurs ist eine Antwort auf die Anarchie der Straße.

Er setzt ihr eine betont langsame Gangart entgegen?

Ja, die Gangart des Aristokraten. Balzac entfaltet ein ganzes Panorama von städtischen Physiognomien. Der frisch in den Adelsstand erhobene Bürger, der über den Boulevard stolziert, verrät seine soziale Herkunft ebenso wie die Hüften schwingende Kokotte. Sie alle bilden das Bewegungsinventar des Schriftstellers, mit dem er das soziale Leben zu erfassen sucht.

Ein überholtes Programm?

Durchaus nicht, aber zeitraubend! Ich habe eine Zeit lang mit einem befreundeten Ethnografen ein ähnliches Forschungsprojekt verfolgt: Wir wollten auf verschiedenen Pariser Plätzen Passanten filmen, daraus ein Inventar erstellen und mit Balzacs Texten konfrontieren. Das hätte manchmal wunderbar funktioniert. Gerade bei weiblichen Passanten – für den wechselseitigen Zusammenhang zwischen Gang und Mode hatte Balzac ja einen untrüglichen Blick. Die Balanceleistungen der heutigen Frauen beim Catwalk hätten ihn wahrscheinlich begeistert.

Gehen als unlösbares Rätsel

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Balzac war, wie Sie schreiben, zugleich ein Skeptiker der Analyse des Gehens.

Ja, er hielt das Gehen für ein unlösbares Rätsel, das in seiner Komplexität das Denken verwirrt. Ein spätes Echo auf diese Skepsis findet sich beim italienischen Romancier Italo Svevo in seinem Roman "Zeno Cosini" von 1923: Ein Freund erzählt dem Romanhelden Zeno, dass sich beim schnellen Schritt in einer halben Sekunde 54 Muskeln in Bewegung setzen. Die Folge ist, dass Zeno für den Rest des Romans hindurch hinkt. Die Reflexion wirft so den Geist aus der Bahn.

Hätte die Wissenschaft lieber die Finger lassen sollen vom Gehen?

Nein, da sind durchaus menschendienliche Resultate hervorgebracht worden, auch im Hinblick auf die Verbesserung des Schuhwerks. Nur, die wissenschaftliche Forschung tendiert fatal zur Standardisierung. Das geht vom gesunden Normschuh über den Normschritt bis zum normierten Gang, wie ihn die Psychiater Ende des 19. Jahrhunderts aus der Beobachtung des kranken Gangs entwickeln. Doch dieser normierte Gang ist ein Idealtypus, eine Form des Gehens, die in der Wirklichkeit nicht vorkommt. Jeder von uns geht anders. Die Vielfalt ist grenzenlos.

Zitate zum Gehen

Ist das einer der Gründe, weshalb viele Leute den berühmten Sketch von Monty Python über "silly walks" so lustig finden?

Ja, aber der Sketch bezieht natürlich viel von seiner Komik aus den nationalen Stereotypen, die mit bestimmten Gangarten im Militär verbunden sind – wie etwa dem preußischen Paradeschritt. Sie erinnern sich vielleicht an die Episode "The Germans" in "Fawlty Towers", wo John Cleese als irrer Hotelbesitzer vor seinen deutschen Gästen Hitler imitiert und in den Stechschritt verfällt. Der „silly walks“-Sketch geht darüber aber noch weit hinaus: Er erfindet ein Ministerium, das lächerliches und somit "unnützes" Gehen zum Gegenstand von aufwendig finanzierten Forschungsprojekten macht.

Was passiert eigentlich mit einer Gesellschaft, die das Gehen verlernt?

Das können wir in den USA studieren, wo wir beide Extreme haben: den durchtrainierten kalifornischen Idealkörper und den Couch-Potato. Aber es kommt noch etwas hinzu. In Paris können Sie jederzeit von Montmartre nach Montparnasse gehen. In einer Stadt wie Chicago kann es schon gefährlich werden, wenn man kleine Strecken zu Fuß geht. Die amerikanischen Großstädte sind, von Ausnahmen abgesehen, fußgängerfeindlich.

Was müsste eine Stadt haben, die zum Gehen einlädt?

Weniger Autos. Und weniger Menschen. Das macht London und Paris ja so anstrengend: das Gedränge, der enge Raum, auf dem viele Menschen in verschiedenen Geschwindigkeiten zu gehen versuchen. Und was eine Stadt noch bieten müsste: gut gebaute Straßen und Plätze, die mehr sind als Vorbeifahrräume. Der Potsdamer Platz ist in diesem Sinn kein Platz.

Sie leben in Berlin. Haben Sie da Lieblingswege?

Ja, von meiner Wohnung in Charlottenburg zum Brandenburger Tor und wieder zurück, gern allein und im Stadtkostüm, wie der Spaziergänger-Schriftsteller Robert Walser gesagt hätte. Das kann man in eineinhalb Stunden gut bewältigen.

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