"Führen, Gestalten, Bewegen" Dalai Lama: Exklusiver Vorabdruck

Wirtschaft muss menschlicher werden, sagt der Dalai Lama.In seinem ersten Buch über Führung beschreibt er, wie Manager bessere Entscheidungen treffen. Die WirtschaftsWoche veröffentlicht Auszüge des Buchs, das am 2. Mai erscheint, exklusiv vorab. Teil eins der zweiteiligen Serie.

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Der Dalai Lama Quelle: AP

Buddhistische Mönche leben im Allgemeinen fern der Gesellschaft in friedlicher Abgeschiedenheit, wo sie für das Wohl aller Lebewesen und des Planeten beten. Zwar bin auch ich einer dieser Mönche, doch zusätzlich trage ich die Verantwortung für die tibetische Exilregierung. Deshalb treffe ich mit Menschen aus aller Welt zusammen und habe einen anderen Horizont gewonnen. Auf meinen Reisen habe ich die unterschiedlichsten Menschen kennengelernt, arme wie reiche, von denen jeder seinen Platz in der Welt einnimmt. Viele Menschen haben mir ihr Vertrauen geschenkt und mir von ihrem Leben und ihren Hoffnungen und Ängsten im Hinblick auf die Zukunft erzählt. Auf diese Weise habe ich viel darüber erfahren, was die verschiedensten Menschen im Leben suchen. Im Grunde wünschen sich die meisten Menschen ein gewisses Maß an Glück.

Warum schreibe ich dieses Buch gerade jetzt? Weil ich der Ansicht bin, dass jeder von uns Sorge für das Funktionieren der Weltwirtschaft tragen und Verantwortung übernehmen sollte und dass jeder von uns ein Interesse daran haben sollte, wie Unternehmen unsere vernetzte Welt gestalten. Die Zeiten haben sich verändert, und ich bin der Überzeugung, dass sich die geistlichen Führer aller religiösen Traditionen, die naturgemäß langfristiger denken, in die Diskussionen um die globale Wirtschaft einbringen sollten. Unsere Welt steht vor schwerwiegenden Problemen. Besonders beschäftigt mich die Frage, wie wir die wirtschaftliche Not in armen Ländern lindern können, die Tatsache, dass die Lebenszufriedenheit selbst in reichen Ländern seit den Fünfzigerjahren stagniert, die Umweltzerstörung durch Vernachlässigung, Bevölkerungswachstum und den steigenden Lebensstandard, und schließlich der fehlende Frieden in vielen Teilen der Welt.

Da der Buddhismus an diese und ähnliche Probleme rational und logisch herangeht, sind seine Antworten für nicht religiöse Menschen oft leichter nachvollziehbar. Auch zu den Fragen der Wirtschaft kann der Buddhismus mit seiner weltlichen Ethik und seinen grundlegenden menschlichen Werten einen wichtigen Teil beitragen. Die buddhistischen Vorstellungen von Wohlstand, Arbeit, Konsum und Glück unterscheiden sich in gewisser Hinsicht von denen des Westens. Für den Buddhismus bedeutet Glück mehr als die Befriedigung materieller und anderer Wünsche – dies ist ein wichtiger Unterschied. Wir finden das Glück nicht in unseren Bedürfnissen oder deren Befriedigung, sondern anderswo. Das Glück entspringt unserer Zufriedenheit, die nicht von dem abhängt, was wir gewinnen oder erreichen. (...)

Niemand kann ohne Freunde und ohne gute Beziehungen zu anderen Menschen glücklich sein. Doch gute Beziehungen beruhen auf Gegenseitigkeit, sie sind unmöglich, wenn es uns nur darum geht, unsere eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Meiner Ansicht nach sind Regierungen und Unternehmen Teil dieser Gleichung, denn sie setzen Menschen zueinander in Beziehung, schaffen Arbeitsplätze und Wohlstand und spielen eine wichtige Rolle in Fragen des Lebensstandards, des Glücks und der Schnittmenge zwischen beiden.

Ich möchte nicht so tun, als wären die Lösungen einfach und lägen auf der Hand. Bei der Arbeit an diesem Buch habe ich gelernt, wie schwer es für Unternehmer sein kann, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Wenn ein Unternehmensführer einen Entschluss fällt, wirkt sich dieser auf sämtliche Mitarbeiter und zahlreiche andere Menschen wie etwa Kunden und Zulieferer aus. International agierende Konzerne stehen vor besonders komplexen Situationen, weshalb die Qualität der Entscheidungen den Ausschlag gibt. Daher benötigen Entscheider nicht nur unternehmerische Kompetenz, sondern auch die richtige Motivation und geistige Verfassung. Unternehmerische Kompetenz ist eine Frage des Talents sowie des Fachwissens und würde den Rahmen dieses Buches sprengen. Doch die Beobachtung und Korrektur der Motivation ist ein wichtiger Aspekt der buddhistischen Schulung und wird in diesem Buch im Detail erörtert ebenso wie die Entwicklung der richtigen geistigen Verfassung.

Die buddhistische Philosophie gründet auf der Erkenntnis, dass das Leiden ein fester Bestandteil des Lebens ist, und auf der Aufforderung Buddhas, dieses Leiden zu lindern. Genau darum geht es auch mir: Leiden zu lindern und die Lebenszufriedenheit zu steigern. [Ich möchte] Führungskräften helfen, besser zu verstehen, was in ihrem Geist und im Geist anderer Menschen vorgeht, vor allem im Zusammenhang mit Fragen der Führung. Ich hoffe, dass Sie auf diese Weise in die Lage versetzt werden, bessere Entscheidungen zu treffen und mehr Lebensqualität zu schaffen, und zwar für sich selbst, für Ihr Unternehmen und für alle Menschen, die von Ihren Entscheidungen betroffen sind.

(...)

Mein eigenes Interesse an Unternehmen und an der Wirtschaft hat über die vergangenen 50 Jahre hinweg eine Entwicklung erfahren. Meine formelle Ausbildung war ausschließlich religiöser und spiritueller Natur. Von frühester Jugend an habe ich buddhistische Philosophie und Psychologie studiert. Durch Begegnungen mit Mitgliedern der Kommunistischen Parteien Tibets und Chinas lernte ich später auch etwas über die verschiedenen Wirtschaftssysteme. Instinktiv neigte ich eher zum Sozialismus, doch ich beobachtete auch, wie die Volkswirtschaften der sozialistischen Länder stagnierten, während die Länder mit freier Marktwirtschaft eine immer größere Dynamik entwickelten. Ich begann, mich besonders für die Fehlentwicklungen der sozialistischen Wirtschaft und die positiven Aspekte der freien Marktwirtschaft zu interessieren. Dennoch bereitet es mir weiterhin Sorge, dass sich in den freien Marktwirtschaften die Kluft zwischen Arm und Reich tendenziell immer weiter vergrößert.

Im Jahr 1990 erhielt ich einen Brief von Laurens van den Muyzenberg (dessen Anmerkungen Teil des Buches sind und im Folgenden in dieser Schrift gedruckt werden; die Redaktion), einem internationalen Managementberater. Er schrieb mir, statt die Gemeinsamkeiten von Kommunismus und Buddhismus zu suchen, wie ich dies zuvor getan hatte, scheine es ihm produktiver, zu überlegen, wie der Kapitalismus verändert werden könne, um unsere kollektiven Interessen zu befriedigen. Mir gefiel dieser Gedanke, und ich lud Laurens zu einem Gespräch ein. Seither haben wir uns regelmäßig getroffen. Im Jahr 1999 machte mir Laurens schließlich einen Vorschlag: Da einerseits immer mehr Unternehmen Interesse an Fragen der guten Unternehmensführung haben und andererseits der Buddhismus zahlreiche theoretische und praktische Hinweise bietet, die für Unternehmensführer nützlich sein könnten, sollte ich einen Beitrag zu diesem Thema leisten. Wir kamen überein, dass Laurens allgemeine unternehmerische Hintergründe darstellen sollte, während ich erläutere, wie sich die buddhistische Lehre auf das jeweilige Gebiet anwenden lässt. Ich bat Laurens um einen ganzheitlichen Ansatz. Mit „ganzheitlich“ meinte ich, er solle jede Fragestellung aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten, nicht nur aus der des westlichen Managementberaters. Meiner Ansicht nach besteht eines der größten Probleme der heutigen Welt darin, dass wir uns angesichts des exponentiellen Anwachsens der Informationsmenge immer weiter spezialisieren und nicht mehr in der Lage sind zu erkennen, inwieweit die verschiedenen Vorschläge zur Verbesserung der Gesellschaft ineinandergreifen.

Für dieses Buch habe ich Themen ausgewählt, die mir wichtig erscheinen, und Laurens hat sie vor seinem eigenen Erfahrungshintergrund in Gesprächen mit Kollegen und in Recherchen weiterverfolgt. Trotz unserer Bemühungen behaupten wir nicht, alle Antworten gefunden zu haben. Außerdem haben wir bei der Arbeit an diesem Buch darauf geachtet, die buddhistische Lehre so darzustellen, dass sie Führungskräften der Wirtschaft zugänglich ist.

(...)

Die Aufgaben der Führung

Ich bin das Oberhaupt der tibetischen Exilregierung, und Tibeter in aller Welt empfangen mich mit großer Herzlichkeit. Eine meiner wichtigsten Aufgaben sehe ich darin, den Tibetern Vertrauen in die Zukunft zu geben. Ich bin überrascht, wie stark dieses Vertrauen ist. Auch wenn viele Tibeter im Exil in Armut leben, sind sie ein treues und fröhliches Volk geblieben.

Führungspersönlichkeiten, die Vertrauen erwecken, müssen sorgfältig darauf achten, dass sie auch das richtige Vertrauen wachrufen. Sie sollten ehrlich sein und keinen blinden Glauben verlangen. In der buddhistischen Tradition halten wir es für unabdingbar, dass Vertrauen mit Weisheit einhergeht. Weisheit bedeutet in diesem Fall rechte Anschauung, das heißt, dass wir die Dinge so sehen, wie sie wirklich sind, und die Prinzipien der Vergänglichkeit, der gegenseitigen Abhängigkeit und des bedingten Entstehens erfassen. Vertrauen braucht Unterstützung, und diese Unterstützung kommt aus der Weisheit.

Weise Führungspersönlichkeiten untersuchen Ursache und Konsequenzen eines bestimmten Ziels oder Ereignisses und erforschen, ob es richtig, angemessen, wahr oder falsch ist. Vertrauen allein führt leicht zu Täuschungen und Fehlurteilen und ist oft durch Emotionen beeinflussbar. Ohne Weisheit glauben wir, was andere uns sagen, egal, ob es richtig oder falsch ist. Vertrauen gibt uns die Kraft, zu handeln und sogar Böses zu tun. Ist das Vertrauen so groß, ermahne ich Menschen, es mithilfe der Weisheit zu kontrollieren und das Gleichgewicht zu halten. Andererseits nützt auch Weisheit ohne Vertrauen wenig, da ihr die nötige Tatkraft fehlt. Weisheit unterstützt Vertrauen, indem sie eine Richtung vorgibt und beharrlich an ihr festhält. Die beiden wirken partnerschaftlich zusammen, um ein Ziel zu erreichen. Doch letztlich ist Vertrauen die Sache jedes Einzelnen.

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Wenn wir Menschen nach dem Sinn und Zweck ihres Lebens fragen, dann haben nur wenige eine Antwort, auch wenn sie sich einen solchen Sinn wünschen würden. Meine Antwort auf diese Frage ist einfach: Der Sinn des Lebens besteht darin, glücklich zu sein. Ein gemeinsames Leitziel – ein gemeinsamer Wunsch nach Glück – ist die Voraussetzung dafür, dass Menschen sich mit einer Organisation identifizieren. Wenn sie nach dem Antritt einer Stelle erkennen, dass das Unternehmen kein klares Leitbild hat, sind sie enttäuscht und demotiviert, und die Aussicht auf Glück schwindet. Sind sich Mitarbeiter dagegen im Klaren über das Leitbild, das von einer starken Führung kommuniziert wird, dann trägt der Eintritt in das Unternehmen zu ihrem Glück bei.

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Einige der Werte, die in ethischen Leitbildern von Unternehmen zum Ausdruck kommen — wie zum Beispiel im Folgenden —, sind Beispiele für das rechte Handeln im Sinne des Buddhismus:

- Wir erwarten, dass unsere Mitarbeiter nach den Grundsätzen der Ehrlichkeit, Integrität und Fairness handeln.

- Wir wollen durch verantwortungsvolles Handeln für Gesellschaft und Umwelt dazu beizutragen, dass alle Menschen ein besseres Leben führen können.

- Wir nehmen unsere gesellschaftliche Verantwortung ernst und investieren unter effizientem Einsatz unserer Mittel in soziale Einrichtungen.

- Wir verpflichten uns zu nachhaltigen Geschäftspraktiken und Umweltschutz.

- Unsere Kunden haben uns ihr Vertrauen geschenkt. Im Gegenzug müssen wir uns bemühen, ihre Bedürfnisse zu verstehen und ihnen mit unseren Dienstleistungen entgegenzukommen.

Die Führungspersönlichkeit

Die Hauptaufgaben der Führungskraft bestehen (...) darin, Leitbilder vorzugeben, Werte zu definieren, Vertrauen zu schaffen und die richtigen Entscheidungen zu treffen. Die meisten Menschen würden vermutlich zustimmen, dass die Qualität des Top-Managements einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren für ein Unternehmen ist. Doch wer eignet sich am besten für diese Position? (...)

Führen erfordert Risikobereitschaft. Wenn sich eine Entscheidung als falsch erweist, trägt der Manager die Verantwortung. Eine neue Führungskraft stellt sehr schnell fest, dass alle strittigen Entscheidungen auf ihrem Schreibtisch landen und sie sehr viel Mut benötigt.

Wenn Sie nach den Prinzipien der rechten Anschauung und des rechten Handelns vorgehen, betrachten Sie eine Frage von unterschiedlichen Seiten und bedenken die Konsequenzen jeder möglichen Entscheidung für das Unternehmen und seine Stakeholder. So verringern Sie das Risiko, denn Sie wissen, dass Sie den richtigen Entschluss treffen.

Bei einem äußerst erfolgreichen niederländischen Unternehmen erörterten die Mitglieder des Vorstands jede wichtige Entscheidung aus unterschiedlichen Perspektiven und diskutierten dabei gelegentlich heftig. Doch sie machten es sich zur Regel, den Entschluss selbst erst am darauffolgenden Tag zu treffen, wenn sich die Gemüter wieder beruhigt hatten. (...)

Ein nützlicher Leitfaden des Buddhismus sind die „sieben Eigenschaften eines idealen Menschen“. Wie der Dalai-Lama zeigt, treffen diese Eigenschaften auch auf die ideale Führungspersönlichkeit zu:

1. Kenntnis der Prinzipien und Ursachen: Führungspersönlichkeiten sind sich bewusst, welche Aufgaben und Verantwortungen ihre Rolle beinhaltet und vor welchen Herausforderungen sie stehen. Sie sollten in der Lage sein, die Ursachen von Problemen zu erkennen und zu wissen, welche Prinzipien zu deren Lösung angewendet werden sollten. Beispielsweise könnte die Ursache eines Problems in der mangelnden Selbstdisziplin liegen. In diesem Fall sollten Führungspersönlichkeiten wissen, was sie tun können, um das Problem zu beheben.

2. Kenntnis der Ziele und Ergebnisse: Führungspersönlichkeiten kennen die Bedeutung und den Zweck der Prinzipien, nach denen sie handeln, sie verstehen die Aufgaben, die sie angehen, und sie kennen den Grund für ihr Handeln. Sie wissen, welche Konsequenzen ihre Handlung in der Zukunft hat und ob sie gute oder schlechte Ergebnisse erbringt. Diese Art der Voraussicht ist wichtig, wenn sie Entscheidungen treffen wollen, die erst in der Zukunft Ergebnisse zeitigen, oder wenn sie unpopuläre Maßnahmen ergreifen wollen.

3. Selbsterkenntnis: Führungspersönlichkeiten wissen um ihre Stärken, Talente, Fähigkeiten, Tugenden und um ihre Kenntnisse, und sie sind in der Lage, sich selbst zu korrigieren und zu verbessern. Sie wissen auch, wie begrenzt ihr Wissen über die Abläufe des Unternehmens ist und wie sich die Handlungen des Unternehmens auf die zahlreichen Stakeholder auswirken. Sie müssen bereit sein, viel zu lernen.

4. Kenntnis der Zurückhaltung: Führungspersönlichkeiten verstehen, sich in Worten und Taten zurückzuhalten. Sie handeln im Wissen um den Zweck und den zu erwartenden tatsächlichen Nutzen. Sie handeln nicht im Eigeninteresse, sondern im Interesse des Unternehmens, für das sie Verantwortung tragen.

5. Kenntnis des effektiven Umgangs mit der Zeit: Führungspersönlichkeiten wissen, wann der rechte Zeitpunkt für eine Handlung gekommen ist und wie viel Zeit sie darauf verwenden sollten. Sie wissen, was wie zu tun ist, sie tun es rechtzeitig und pünktlich. Dazu gehört die richtige Zeitplanung und -einteilung. Außerdem benötigen sie Urteilsfähigkeit, um die wichtigsten Fragen zu erkennen und sich auf sie zu konzentrieren. Es ist äußerst wichtig, keine Zeit mit Banalitäten zu verschwenden.

6. Unternehmenskenntnis: Führungspersönlichkeiten wissen, dass die Mitarbeiter eines Unternehmens Regeln und Vorschriften haben, dass sie eine Kultur und Traditionen haben und dass sie Bedürfnisse haben, auf die das Unternehmen in geeignetem Maße eingehen muss. Sie müssen den Charakter des Unternehmens verstehen und erkennen, dass sie dafür verantwortlich sind, diesen Charakter zu entwickeln und, wenn nötig, in einigen Aspekten zu verändern.

7. Menschenkenntnis: Führungspersönlichkeiten wissen, dass jeder Mensch anders ist. Sie können effektiv Beziehungen zu Menschen herstellen, wissen, was sie von anderen lernen können und wie sie Mitarbeiter loben, kritisieren, beraten oder anleiten sollten.

In Hunderten von Büchern wird beschrieben, welche Eigenschaften eine Führungskraft haben sollte und wie wir lernen können, eine „große“ Führungspersönlichkeit zu werden. Jedes dieser Bücher bietet andere Rezepte. Tatsache ist jedoch, dass jeder anders führt und dass es keine Patentrezepte gibt, nach denen sich Führung erlernen lässt. Der Dalai- Lama ist aber überzeugt, dass Menschen, die über das richtige Potenzial verfügen und vor allem lernen, mit geschultem Geist zu denken und zu handeln, ihre Führungsqualitäten erheblich steigern können. (...)

In der buddhistischen Lehre gibt es zahllose Listen, die beim Umgang mit verschiedenen Problemen helfen sollen. Wir haben eine ausgewählt, die für Führungskräfte besonders hilfreich ist, die sogenannten Acht Weltlichen Belange. In dieser Liste geht es um Zustände oder Ereignisse, die jeder von uns kennt: Lob und Kritik, Erfolg und Misserfolg, Gewinn und Verlust, guter Ruf und schlechtes Renommee.

Die Acht Weltlichen Belange werden in scheinbar verwirrender Form dargestellt, doch das ist Absicht. Sie bestehen aus vier Paaren, die einander zu widersprechen scheinen:

- Wir fühlen uns verletzt, wenn uns jemand beleidigt oder herabsetzt. Wir freuen uns, wenn uns jemand lobt.

- Wir sind niedergeschlagen, wenn wir einen Misserfolg erleben. Wir sind glücklich, wenn wir einen Erfolg erleben.

- Wir fühlen uns mutlos, wenn wir arm werden. Wir freuen uns, wenn wir reich werden.

- Wir ärgern uns, wenn man uns die Anerkennung verweigert. Wir sind zufrieden, wenn wir Berühmtheit erlangen.

Sehen wir uns das erste Paar an. Es erscheint uns völlig selbstverständlich, dass wir uns durch eine Beleidigung verletzt fühlen und uns über ein Lob freuen. Doch so natürlich diese Reaktion auch erscheinen mag, für einen Menschen mit geschultem Geist ist sie falsch. Wenn ein Mensch mit einem ungeschulten Geist herabgesetzt wird, empfindet er Schmerz oder Ärger. Ein Mensch mit einem geschulten Geist reagiert anders. Er fragt sich: „Was sind die Motive des Menschen, der mich herabsetzt? Ist er in der Lage, ein kompetentes Urteil zu fällen? Ist seine Meinung gerechtfertigt?“ Ist die Meinung tatsächlich gerechtfertigt, kann der Angesprochene etwas lernen und sollte einräumen, dass er bedauerlicherweise einen Fehler gemacht hat. Ist die Meinung nicht gerechtfertigt, sollte er dies begründen. Handelt der andere aus Boshaftigkeit, erkennt der Mensch mit dem geschulten Geist dies als Gelegenheit, zu überprüfen, inwieweit er in der Lage ist, ruhig zu bleiben und keine negativen Emotionen wie Ärger zu empfinden. Seine Reaktion sollte in jedem Fall davon abhängen, zu welchem Schluss er mit seinen Überlegungen kommt.

Dasselbe gilt für seine Reaktion auf Lob: Welche Motive hat der Mensch, der das Lob ausspricht? Kann er die Leistung tatsächlich beurteilen? Ist sein Urteil wertvoll, oder geht es ihm nur darum, eine Freude zu machen, oder schlimmer, sich einzuschmeicheln, um eine Gegenleistung zu erhalten? Lob und Kritik müssen leidenschaftslos nach ihrem tatsächlichen Wert beurteilt werden. Wir sollten nicht aus der Motivation heraus handeln, Kritik zu vermeiden oder Lob zu ernten, sondern um das Richtige zu tun.

Dieselben Überlegungen sollten im Falle der übrigen Paare angestellt werden. Es erscheint uns völlig selbstverständlich, dass wir uns niedergeschlagen fühlen, wenn wir einen Misserfolg erleben, oder dass wir glücklich sind, wenn wir einen Erfolg erleben. Doch Niedergeschlagenheit ist eine negative Emotion und hat keinerlei positiven Wert. Sie gibt uns keine zusätzliche Energie, um ein Problem zu lösen, sondern im Gegenteil, sie nimmt uns Energie. Ein Mensch mit geschultem Geist analysiert deshalb, ob der Misserfolg auf einen Fehler zurückgeht, den er selbst begangen hat, oder auf äußere Umstände. Wenn es sich um einen Fehler handelt, was lässt sich daraus lernen, um in Zukunft ähnliche Fehler zu vermeiden? Wenn wir uns über einen Erfolg freuen, dämpft dies unsere Energie nicht, sondern es steigert sie. Es besteht jedoch die Gefahr, dass wir meinen, der Erfolg sei allein unserer eigenen Genialität geschuldet, weshalb auch sämtliche zukünftigen Handlungen von Erfolg gekrönt sein müssten. Jeder Erfolg ist das Resultat eines Zusammenspiels verschiedener Ursachen. Unsere Entscheidung war möglicherweise nur einer von vielen Faktoren. Wir müssen den Beitrag anerkennen, den andere Menschen und verschiedene Umstände zu unserem Erfolg geleistet haben. Zudem wäre es gefährlich, zu glauben, dass wir mit allem Erfolg haben, was wir angehen, denn auf diese Weise entwickeln wir leicht Arroganz und falschen Stolz.

Auch das dritte Paar erscheint uns völlig natürlich: Wir fühlen uns mutlos, wenn wir arm werden, und freuen uns, wenn wir reich werden. Niemand tut etwas mit dem Vorsatz, arm zu werden. Oder aus unternehmerischer Sicht gesprochen, kein Unternehmen nimmt sich vor, Verluste zu erwirtschaften. Doch in der Realität kommt es natürlich gelegentlich vor, dass Unternehmen rote Zahlen schreiben. Die richtige Reaktion besteht darin, herauszufinden, wie sich diese Verluste wieder in Gewinne verwandeln lassen. Mutlosigkeit ist eine negative Emotion. Auch Freude über finanzielle und andere Erfolge eines Unternehmens ist natürlich. Doch es besteht das Risiko, zu meinen, der Erfolg müsse von Dauer sein. Wenn nicht die richtigen Entscheidungen getroffen werden, kann das Unternehmen in einigen Jahren Verluste machen. Es ist in Ordnung, sich über Gewinne zu freuen, solange wir nicht annehmen, dass unser Unternehmen weiterhin erfolgreich sein kann, wenn es sich nicht verändert.

Menschen, die sich freuen, wenn sie berühmt werden, haben diese Berühmtheit vermutlich gesucht. Berühmtheit ist wie Reichtum: Sie weckt leicht ein unersättliches Verlangen nach mehr. Dieses Verlangen hat zwei Probleme. Zum einen wird jemand mit einem unstillbaren Verlangen nach Prominenz nie glücklich werden, denn Bekanntheit hat ihre Grenzen. Es wird immer Menschen geben, die noch berühmter sind. Zum anderen ist Berühmtheit nur dann gut, wenn sie das Resultat rechten Handelns ist. Wird sie nur um ihrer selbst willen und ohne Rücksicht auf das Prinzip des rechten Handelns gesucht, ist sie schlecht. Ein ambitionierter Mensch benötigt einen starken Willen, um nicht der Ruhmsucht zu erliegen.

Aus diesen vier Paaren ergibt sich ein Muster: Wir können uns über positive Ereignisse freuen, doch wir sollten uns nicht von ihnen abhängig machen oder meinen, dass sie etwas über die Zukunft aussagen.

(...)

Was Unternehmen tun können

Im Buddhismus ist oft die Rede davon, dass Menschen sich von ihren Begierden freimachen sollen. Mit Begierden sind Bedürfnisse gemeint, die sich nicht befriedigen lassen. Buddha sagte: „Sei zufrieden mit dem, was du hast, aber nie mit dem, was du an Gutem getan hast.“

Buddhisten erkennen, dass der Erwerb von Wohlstand eine der grundlegenden Tätigkeiten des Lebens ist. Konsum und der Aufbau von Wohlstand sind natürlich, doch wenn sie auf verfehlte Art und Weise verfolgt werden, verursachen sie Leid. Jemand, der ohne Grenzen und nur um des Konsumierens willen konsumiert, wird kein Glück finden. Wenn der Wohlstand nicht ehrlich erworben wird, geht er mit Diebstahl oder anderen Formen des Leids einher. Wenn der Wohlstand nicht zum Nutzen anderer eingesetzt wird, macht er weder den Eigentümer noch andere Menschen glücklich. Wenn Wohlstand glücklich machen soll, muss er ehrlich erworben und gut eingesetzt werden.

Ich habe bei zahllosen Gesprächen zugehört und teilgenommen, in denen es um die Frage ging, ob der einzige Sinn eines Unternehmens in der Gewinnmaximierung besteht. Für mich ist die Antwort einfach: Gewinn ist eine überlebensnotwendige Voraussetzung, doch der Sinn eines Unternehmens besteht darin, zum Wohl der Gesellschaft als Ganzes beizutragen.

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