WirtschaftsWoche: Der Gehirnforscher Manfred Spitzer schreibt in seinem Buch „digitale Demenz“, dass wir dank Navis, Smartphones und Co. immer mehr verdummen. Sie sagen, dass das nicht stimmt. Warum?
Markus Hofmann: Weil letztendlich die digitalen Medien – ob Sie jetzt Social Media-Kampagnen nehmen, ob Sie das Internet nehmen, ob Sie Wikipedia nehmen, das Handy und so weiter – eine große Chance bieten, weiter an unserem Gehirn zu arbeiten.
Inwiefern?
Da gibt es ja diesen Flynn-Effekt. Der besagt, dass durch die Industrialisierung und die ganzen neuen Medien, die wir bekommen haben, sprich: Radio und Fernseher in den Vierziger- und Fünfzigerjahren, der Intelligenzquotient nachweislich im Schnitt pro Jahr um drei Prozent gestiegen ist. Es ist also sogar andersherum, als es Herr Spitzer geschrieben hat: Je mehr wir uns mit Reizen auseinandersetzen müssen - und das müssen wir durch das Internet ja zwangsläufig - desto mehr Gehirnbahnen bilden wir. Spitzer behauptet, dass sich das Gehirn durch die digitale Revolution verändert hat. Viele Gehirnforscher springen hier in die Bresche und sagen: „Der Spitzer malt den Teufel an die Wand. Nach 15 Jahren kann man Derartiges nachweislich noch gar nicht belegen.“
Was heißt das für unseren Alltag?
Viele Lehrer kommen zu mir und sagen: Ich muss den Schülern nicht zeigen, wie sie etwas im Kopf behalten, sondern wo sie es finden. Also: wie recherchiere ich denn richtig? Wie google ich denn richtig? Dann sage ich: Was brauchst du denn, um richtig googeln zu können?
Und das wäre?
Man braucht richtig gute Stichworte. Mein Credo ist: Ich brauche ein gutes und breites Allgemeinwissen. Denn nur durch ein breites Allgemeinwissen kann ich Transferwissen herstellen, um mich mit Themen auseinanderzusetzen.
Und dieses breite Wissen vermittelt uns das Internet?
Vor kurzem habe ich irgendetwas über Spartakus gehört und fand das so interessant, dass ich spontan ins Internet gegangen bin und mir Zusatzinformationen über diesen Spartakus-Aufstand damals im alten Rom geholt habe. Und somit konnte ich mein Wissensnetz in dem Moment, in dem es gefordert wurde, erweitern. Ich muss also die Motivation mitbringen, dass ich diese Medien auch nutze. Wenn ich natürlich sage: „Die Medien werden mir das schon irgendwann mal zur Verfügung stellen“, ist das ein Irrglaube. Und da muss man aufpassen, dass man sich nicht auf alles verlässt.
Aber auf der anderen Seite haben wir ja auch eine tägliche Informationsflut. Wie sollen wir mit der umgehen, ohne abzustumpfen?
Das kann durchaus passieren, deswegen ist die Eigenverantwortung extrem gefordert. Ich muss selber wissen, was ich brauche. Ich darf nicht planlos im Internet unterwegs sein, sondern muss mir ein Ziel setzen, das ich recherchieren will. Medienkompetenz ist hier das Stichwort.
Aber ist es nicht so, dass ganz viele Sachen, die wir früher mit dem Kopf gemacht haben - Telefonnummern oder Termine merken, ohne Navi in den Urlaub fahren – heute die Technik für uns macht? Wir müssen uns gar nichts mehr merken.
Das ist wirklich die einzige Gefahr, die besteht. Wie viele Telefonnummern können Sie heute noch auswendig? Das ist immer die Frage, die ich bei mir im Seminar stelle. Und wie viele Telefonnummern konnten Sie noch vor zehn Jahren auswendig? Wahrscheinlich ein bisschen mehr, weil sie nicht jede einzelne Telefonnummer in jedem Handy abgespeichert haben. Das ist einer der Bereiche, die uns die neuen Medien abgenommen haben. Aber diese Gefahr kann man umgehen, in dem man ganz konkret Gehirnjogging und Gedächtnistraining betreibt. Das man sagt: Okay, in Zukunft versuche ich einfach wieder, mir Zahlen zu merken.
Das Gehirn braucht immer neue Herausforderungen
Was empfehlen Sie denn, um das Gehirn fit zu halten?
Wenn ich unterwegs bin und Vorträge halte, mache ich vor jedem Vortrag ein bisschen Gehirnjogging. Dazu gehört all das, was mich aus der Normalität herausreißt. Zum Beispiel mit der linken Hand Zähne putzen, wenn ich das sonst mit der rechten Hand mache. Oder ohne Navigationsgerät fahren, kleine Knobelaufgaben lösen...
Das berühmte Kreuzworträtsel oder das Zahlenrätsel Sudoku…
Wenn ich bis dato immer Sudoku gemacht habe, dann ist es keine Gehirnaktivierung, weil mein Gehirn weiß, um was es geht. Wenn ich es noch nie gemacht habe, ist Sudoku gut. Oder ein Kreuzworträtsel. Ich muss mir immer wieder neue Aufgaben suchen. Ich gehe dann zum Beispiel ins Internet auf Knobelseiten und suche mir eine passende neue Gehirnjoggingaufgabe. Oder ich nehme mir einen Zeitungsartikel und unterstreiche alle „e“s – so schnell wie es geht. Fokussierung auf ein Thema. Oder ich drehe die Zeitung auf den Kopf und lese spiegelverkehrt. Oder ich mache kombinatorische Aufgaben mit meinen Händen und Füßen.
Die da wären?
Berühren Sie mit beiden Daumen beide Zeigefinger. Und jetzt wandern Sie mit dem Daumen über den mittleren, zum Ring- bis zum kleinen Finger runter. Dann wieder zurück bis zum Zeigefinger. Danach beginnen Sie bei der rechten Hand mit dem Zeigefinger und bei der linken Hand mit dem kleinen Finger und machen das gegenläufig. Wahrscheinlich werden Sie es am Anfang nicht schaffen. Sie werden immer mal wieder parallel beginnen, also mit beiden Daumen bei den Zeigefingern landen. Das können Sie so lange machen, bis Sie es können. Wenn Sie es können, brauchen Sie eine neue Aufgabe.
Das heißt, alles, was ich beherrsche, ist zwar ein netter Zeitvertreib, fordert aber mein Gehirn nicht mehr?
Genau. Deshalb ziehe ich meinen Hut vor Journalisten oder Politikern. Die müssen sich jeden Tag mit neuen Themen auseinandersetzen. Die haben jetzt zwar kein tiefes, aber ein extrem breites Wissen. Und das hilft mir, ein Wissensnetz auszuspannen. Wenn ich dann wieder etwas zu dem Thema höre, bleibt das in diesem Netz hängen. Das ist wie ein Schneeball, der immer größer wird. Das find ich schon sehr spannend. Sie können sich mit einem Hans-Dietrich Genscher oder einem Helmut Schmidt noch bis ins hohe Alter über hochtrabende Themen unterhalten, weil die jeden Tag ihr Gehirn gefordert haben und sich jeden Tag mit neuen Themen auseinander setzen mussten. An diesen Menschen kann man sehen, dass man sein Gehirn bis ins hohe Alter auf Hochtouren laufen lassen kann – wenn man keine Demenz, also keine Krankheit hat.
Gibt es dagegen auch Jobs, die richtig schlecht fürs Gedächtnis sind?
Fließbandarbeit ist natürlich das Schlimmste. Wenn Sie alle fünf Sekunden die gleiche Bewegung machen müssen, ist das das Schlimmste, was es gibt.
Also sollten Menschen mit monotonen Jobs ihr Gehirn in der Freizeit besonders stark trainieren?
Absolut.
Gibt es denn grundsätzliche Techniken, die jeder anwenden kann, um das Gedächtnis zu trainieren und das Gehirn fit zu halten?
Denken Sie mal bitte nicht an eine gelbe Zitrone.
Und schon denke ich an eine gelbe Zitrone.
Und Sie haben wahrscheinlich ein Bild vor Augen. Sobald Sie es schaffen, ein Bild vor ihrem geistigen Auge zu erzeugen, dieses innere Kino ablaufen zu lassen, können Sie mit diesen Techniken hervorragend arbeiten und haben dadurch die Chance, Ihr Gedächtnis zu verzigfachen.
"Die bildliche Vorstellungskraft ist Grundvoraussetzung"
Das heißt, ich muss mir Dinge nur bildlich vorstellen können, um mein Gedächtnis zu schulen und muss keine Kreuzworträtsel machen oder Instrumente lernen?
Die bildliche Vorstellungskraft ist die Grundvoraussetzung, diese Kreativität. Dann kommt die Technik noch hinzu: Man verbindet die Kreativität mit einer Struktur, damit ich die Bilder ablegen und wiederfinden kann.
Zum Beispiel?
Sagen Sie mir sieben Dinge, die man im Supermarkt kaufen kann und ich zeige Ihnen, was bei mir passiert, damit ich sie mir merke.
Butter...
Butter, okay. Wenn ich mir Butter merken möchte, dann brauche ich einen mentalen Briefkasten im Kopf, wo ich das ablegen kann. Dafür nehme ich meinen Körper zur Hilfe und teile den in zehn markante Briefkästen ein. Unten ist Briefkasten Nummer eins: die Zehen. Dann geht’s nach oben: Zwei sind dann die Knie, drei die Oberschenkel, vier das Gesäß, fünf die Taille und das mache ich bis zu den Haaren hoch. Und jetzt verknüpfe ich die Information, in dem Fall Butter, auf übertriebene, groteske, schmerzhafte, lustige, abnorme Art und Weise. Je übertriebener, erotischer oder schmerzhafter diese Bilder sind, desto „merk-würdiger“ ist es fürs Gehirn. Jetzt schmiere ich also gedanklich meine Zehen und die Zwischenräume komplett mit Butter ein. Und wenn ich das nächste Mal auf meine Zehen gucke, denke ich an Butter. Was soll ich noch einkaufen?
Waschmittel...
Ich nehme meine Kniescheibe, den zweiten Briefkasten, öffne meine Kniescheibe mit einer Brechstange - das ist ein schmerzhaftes Bild – und weil mein Knie jetzt aussieht wie eine Waschtrommel, schütte ich ein wenig Waschmittel hinein, und das schäumt dann aus dem Knie heraus. Waschpulver auf der Nummer zwei. Was noch?
Dann nehmen wir noch Paprika...
Paprika auf meinen Oberschenkeln, dritter Briefkasten. Da schneide ich auf meinen Oberschenkeln mit einem scharfen Messer Paprika. Und ich schneide so fest, dass ich sogar in meinen Oberschenkel reinschneide.
Dann kaufen wir doch auch noch Toast...
Der vierte Briefkasten ist das Gesäß. Zwischen meinen Pobacken röste ich eine Scheibe Toast. Und wenn die fertig ist, schießt sie hinten raus. Noch eins?
Eier...
Eier: In meinen Bauchnabel lege ich ein Ei hinein. Das balanciere ich in meinem Bauchnabel und drehe es ein, zwei Mal rum. Noch zwei.
Nehmen wir noch eine Glühbirne...
Eine Glühbirne auf meiner Brust, das ist der Briefkasten Nummer sechs. Da sehe ich zwei schöne Glühbirnen von meiner Nachbarin. Die glühen mir richtig entgegen. Also ein erotisches Bild. Eins noch.
Eine Flasche Sekt.
Auf meinen Schultern balanciere ich eine Flasche Sekt und deren Korken schießt nach oben. Gucken wir mal, was wir uns jetzt gemerkt haben. Unten zwischen meinen Zehen ist Butter, in meinen Knien ist das Waschmittel, auf meinen Oberschenkeln schneide ich Paprika, zwischen die Pobacken klemme ich den Toast, in meinen Bauchnabel stecke ich ein Ei, in die Brust schraube ich zwei Glühbirnen und oben auf der Schulter habe ich den Sekt. Und ob Sie mir jetzt sieben oder 70 oder 700 Einkaufsgegenstände genannt hätten, ich hätte Ihnen alle 700 Einkaufsgegenstände wiedergeben können.
Und jetzt kommt der entscheidende Punkt. Sie müssen den Transfer herstellen. Diese sieben Einkaufsgegenstände sind nur beispielhaft. Auf die Gleiche Art und Weisefunktioniert das mit Wirtschaftsbegriffen wie Cashflow, Kundenattraktivität, Kundenzufriedenheit, Wirtschaftswachstum und so weiter.
Markus Hofmann ist Gedächtnistrainer und Buchautor. Er ist unter anderem Direktor des Steinbeis-Transfer-Instituts sowie Vorstand der German Speakers Association. Bekannt wurde er in der ZDF-Show "Wetten, dass..?", in der er 2005 als Gedächtnistrainer einer Kandidatin auftrat.