Herr Uecker, Sie blicken auf 60 Jahre künstlerisches Schaffen zurück. Sie haben Leinwände beschrieben und Aquarelle gemalt, Bühnenbilder gestaltet, Installationen aus Holz, Schnüren, Sand geschaffen – und doch sind Sie für viele der Nagelkünstler. Ist es ärgerlich, auf dieses Ausdrucksmittel reduziert zu werden?
Es ist unvermeidbar. Flapsig gesagt: Wie Hans ohne Gans, wo bleibt das Glück?
Oder: Den Nagel als Markenzeichen, das hätte sich kein Werber besser ausdenken können.
Gäbe es ein Konzept, einen vorgefertigten Gedanken, wäre meine Arbeit nichts als bloßes Machwerk. Aber der Nagel hat für mich eine zutiefst existenzielle Bedeutung.
Zur Person
Uecker, 84, zählt zu den bedeutendsten Vertretern der Nachkriegskunst. Berühmt wurde er durch seine Nagelbilder. Bis zum 10. Mai sind erstmals in seiner Wahlheimat Düsseldorf seine Werke im Museum K20 zu sehen.
Warum?
Weil ich versucht habe, meine Mutter und meine beiden Schwestern vor der Gewalt der russischen Soldaten zu schützen, die meine Heimat Wustrow ab Anfang 1945 besetzt hatten. Ich ha4be das Haus verbarrikadiert, von innen alle Fenster und Türen mit Holzplatten vernagelt. Mein Vater war damals in Ostpommern stationiert, ich war der einzige Mann im Haus. Und der einzige, der es verlassen konnte, durch ein kleines Kellerfenster. Ein Zustand, der über Wochen anhielt, damals war ich gerade 14 Jahre alt. Das war sicher eine traumatische Erfahrung, die atavistisch im Unterbewusstsein vorhanden ist. Die zur Autotherapie drängt – manische Bestimmungen, gebannt im Bild und befreit. Das ist bis heute in vielen Werken sichtbar.
Wann zum ersten Mal?
Als ich an der Akademie in Düsseldorf meine ersten Aktbilder zeichnete. Mit dem Bleistift stocherte ich in den Pupillen und Hautfalten, um sie in verkleinertem Maßstab auf Papier zu bringen – was mir wie eine Lüge vorkam. Bis ich die Staffelei auf einen Schrank stellte und auf der Rückseite ein Papier befestigt habe, um die Modelle in Lebensgröße zu zeichnen – nachdem ich sie vorher mit Lehm beschmiert, in einen Trichter gestellt und Wasser reingefüllt habe, damit der Lehm auch weich blieb. Zu furchen mit dem Lineal wie in einem Acker und mit dem Bleistift das Papier zu bearbeiten, wie mit einem Stock im Boden zu ritzen: Das war mein Realismus. So wie der russische Dichter Wladimir Majakowski schrieb, dass Poesie mit dem Hammer gemacht wird, habe ich den Bleistift ins Papier getrieben. Die Emotionen in der Hand, die Hand das Werkzeug, die Kunst der Arbeitsplatz. Und der Nagel so als Seismograf meiner inneren Befindlichkeit.
Wie bewusst steuern Sie den Entstehungsprozess dieser Arbeiten?
Gar nicht. Sie sind Ausdruck einer freien Handlung, bei der Arbeit, die ich nie korrigiere, manchmal nicht einmal durchs Auge wahrnehme – abgesehen davon, dass ich darauf achte, mich nicht zu verletzen. Viele dieser Bilder sind ohne Unterbrechung an einem Tag entstanden. Einmal habe ich sogar fünf Tage am Stück nicht geschlafen, danach hatte ich einen Blutsturz. Eine obsessive Handlung, wie ein Schub, eine Not, die mich über Monate bedrängt, bis sie eine solche Last wird, dass ich handeln muss. Durch die Schwere des Bedrängtseins wird es ein Akt der wahrhaftigen Befreiung, das Ergebnis können Sie lesen wie Tagebuchblätter. Diese Felder sind Kernpunkt meiner zeitlichen Entwicklung. Wie eine Chiffre der inneren Befindlichkeit. Und jedes Mal auch für mich erschreckend zu sehen: Was ist da in dir, was findet da statt? Was drängt sich da auf?
Und – was drängt sich da auf?
Dass der Nagel auch meiner obsessiven Neigung entspricht. Wenn ich eine Axt sehe, muss ich mich bremsen, ich könnte auch ein Mörder sein. Arbeit ist für mich wie Psychotherapie. Könnte ich es nicht abarbeiten, würden sich diese Energien gegen mich selbst richten. In diesem Befriedungsprozess befinde ich mich, seit ich vier Jahre alt bin. Schon damals habe ich wie manisch zu zeichnen begonnen. Zum Missfallen meines Vaters, der dafür kein Verständnis hatte und mich fast täglich verprügelte.
Haben Sie deshalb Kunst studiert – aus Rebellion gegen den Vater?
Nein, ich wurde ausgewählt und gefördert, als Bauernkind, auf dem zweiten Bildungsweg, das war 1949, damals war ich 19 Jahre alt. Bis dahin hatte ich vor allem körperlich gearbeitet: Fische gefangen, Kühe gemolken, Tiere gehütet und auf den Acker geführt. Und gerade begonnen, Kinder im Zeichnen zu unterrichten. Mein Talent hatte sich wohl rumgesprochen. Jedenfalls fuhr eines Tages ein schwarzes Auto vor. Zwei Männer mit schwarzen Mänteln haben mir dann einen Platz in einer der neuen Kaderschulen angeboten. Dort wurden wir im dialektischen Materialismus unterrichtet. Ich habe den Facharbeiterbrief gemacht und wurde Delegierter des Volkes und zum Studium zugelassen.
Privilegiertes Leben in Ostberlin
1951 kamen Sie dann an die Kunstschule nach Wismar. Wie frei lebten Sie als Kunststudent in der DDR?
Wir waren sehr privilegiert, bekamen 2000 Mark im Monat, hatten eine Intelligenz-Lebensmittelkarte, die uns anderthalb Kilo Fleisch pro Woche garantierte – so viel wie den Schwerstarbeitern in den Uranbergwerken. Ich hatte sogar ein Auto mit Fahrer, um in den Badeorten die Polit-Propagandatafeln zu installieren, die wir gemalt hatten. Und um den Menschen auf dem Land die Parteitagsbeschlüsse vor Augen zu führen. Finanziert hat das ein Kombinat, dem ich danach Rechenschaft ablegen musste, weil sie mein Studium unterstützten.
Sie haben 1951 auch an den Weltjugendspielen in Ostberlin teilgenommen und hatten so erstmals die Gelegenheit, Westberlin zu besuchen. Ein Kulturschock?
Nein, wir fühlten uns sehr gefestigt in unseren Vorurteilen. Der Kapitalismus war für uns wie ein Futtertrog, mit dem man Schweine lockt.
Und dem Sie widerstehen konnten?
Wir haben uns Klamotten in Westberlin gekauft – elegante Mäntel, Ringelsocken, Kreppschuhe. An manchen Tagen gingen wir fünf Mal ins Kino.
Ein feines Leben...
...das mir aber zunehmend unheimlich wurde, vor allem nach dem Tod Stalins und dem Aufstand im Juni 1953.
Weil Sie um Ihre Privilegien fürchteten?
Nein, weil ich merkte, dass mir die Fähigkeit abhanden zu kommen drohte, meine von Staatsseite anerzogene Lügenfähigkeit weiter als solche zu erkennen. Die Propaganda, die ich den Bauern aufsagte, nicht mehr als Lüge wahrzunehmen, das machte mir Angst – und ich bin gegangen.
Nach wochenlangen Verhören auf dem Gelände eines ehemaligen KZs...
...man dachte, ich sei von der DDR eingeschleust...
...kamen Sie 1955 schließlich in Düsseldorf an. Warum landeten Sie dort?
Weil dort mit Otto Pankok ein Antifaschist unterrichtete, den ich sehr bewunderte. Der mich erst wieder zurückschicken wollte, mich dann aber einschrieb, als ich in meiner Verzweiflung losheulte. Und der mir eine Matratze ins Klassenzimmer legte, damit ich nicht mehr in den ausgebombten Häusern der Stadt schlafen musste. Seine Frau Hulda hat mich sonntags manchmal zum Kuchen eingeladen.
Wie haben Sie Ihre neue Heimat erlebt?
Als reaktionäre, fremde Welt. Die Leute hier dachten ganz anders als dort, von wo ich kam. Ich war ein Fremder, gelandet in einer Gegenwelt, ohne Gesprächspartner. Ich war nicht ganz da und nicht ganz hier, aber immerhin bei mir selbst. Heinz Mack...
...mit dem Sie ab 1961 gemeinsam mit Otto Piene die Künstlergruppe Zero bildeten...
...lud mich zur Abendausstellung „Das rote Bild“ ein. Gleichzeitig wollte ich hier sein, dem Ruhrgebiet hingewandt, wo sich das dichteste Arbeitspotenzial befindet.
Was die Kreativität fördert
Der Psychologe Travis Proulx von der Universität von Kalifornien ließ Probanden sinnfreie Passagen aus Kafkas "Landarzt" lesen. In anschließenden Tests fanden sie mehr Lösungswege und schnitten besser ab als diejenigen, die eine redigierte Version gelesen hatten.
Frank Fischer von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität analysierte die Gruppenarbeiten von 300 Studenten. Vorher hatte er den Raum mit höhenverstellbaren Tischen ausgestattet. Siehe da: Teilnehmer, die zwischen Sitzen und Stehen wechselten, kamen häufiger zu richtigen Ergebnissen als nur im Sitzen - und hatten 24 Prozent mehr Ideen.
Im Schlaf findet kombinatorisches Denken statt, wie Denise Cai von der Universität von Kalifornien in San Diego 2009 bestätigen konnte. Sie ließ 77 Teilnehmer verschiedene verbale Aufgaben lösen, einige Probanden konnten zuvor ein Nickerchen halten - die lösten die Aufgaben am besten.
Der Sozialpsychologe Jens Förster von der Jacobs-Universität Bremen fand in einer Studie heraus, dass die Teilnehmer eine kniffelige Aufgabe eher lösten, wenn sie zuvor an ihren Partner gedacht hatten. Der Gedanke an Liebe lässt in die Zukunft blicken - was dabei hilft, Dinge miteinander in Beziehung zu stellen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben.
In blauer Umgebung steigt der Einfallsreichtum. Ravi Mehta und Rui Zhu von der Universität von British Columbia in Vancouver ließen Freiwillige im Jahr 2009 verschiedene Aufgaben lösen - roter Hintergrund verbesserte zwar die Leistung bei der Detailaufgabe, blau jedoch die Kreativität.
Wovon haben Sie gelebt?
Ich habe von den Feldern Lauch gesammelt, in der Akademie das Fenster angelehnt gelassen, um nachts Koks aus dem Keller zu holen. Ich habe Schicht gearbeitet in einer Glasfabrik, für 400 Mark im Monat, morgens um fünf ging es los. Vom ersten Lohn habe ich mir ein Fahrrad gekauft, mit dem bin ich nach Amsterdam und Paris gefahren – geschlafen habe ich draußen.
Sie hatten damals schon zwei kleine Kinder – wie hat das zum Leben gereicht?
Über Geld habe ich mir nie Gedanken gemacht. Ich hatte in allen Geschäften Schulden, habe anschreiben lassen, vom Bäcker bis zum Heizölhändler. Es gab dann eben mal ein Bild, um den Betrag zu begleichen.
Hat Sie diese materielle Not bedrückt?
Nie. Wenn ich Geld brauchte, habe ich schon mal ein Fest veranstaltet in meiner Scheune, die Atelier und Wohnraum zugleich war. 200 Gäste, 5 Mark Eintritt, da blieb was übrig. Die Scheune hatte ich von der Stadt gemietet, für 50 Mark im Monat.
Sind Sie an ökonomischen Zusammenhängen nicht interessiert?
Doch, ich war immer ein ökonomisch denkender Mensch. Aber so war das bei mir immer mit dem Geld – ich habe es auf mich zukommen lassen, immer im Vertrauen, dass es sich schon regeln wird. Wenn man Geld braucht, kommt es auf einen zu. So war das mein ganzes Leben lang, sonst könnte ich gar nicht solche Werkstätten unterhalten.
Viele Künstler stehen im Alter vor der Armut, weil sie nicht rechtzeitig vorgesorgt haben – wie steht es bei Ihnen?
Ansparen ist jedenfalls Quatsch. Es geht darum, den Kreislauf des Geldes in Bewegung zu halten. Wer über Jahre Vertrauen zu anderen Menschen hergestellt hat, bekommt auch was, wenn er es wirklich braucht.