WirtschaftsWoche: Zu mir kam früher das Christkind. Mittlerweile habe ich den Eindruck, dass der Weihnachtsmann das Christkind weitgehend verdrängt hat.
Thomas Hauschild: Da ist was dran. Aber es gibt eine hartnäckige Christkind-Fraktion im katholischen Bayern. Ich wurde über mein Buch „Weihnachtsmann. Die wahre Geschichte“ von sehr vielen Radiosendern interviewt, aber von keinem einzigen aus Bayern. Die haben das Gefühl, das geht sie eigentlich nichts an. Ulkig ist das, weil das Christkind ursprünglich eine protestantische Erfindung war, um den katholischen Nikolausbräuchen etwas entgegen zu setzen, das stärker an der Bibel und an der Geburt des Herrn orientiert war. Das Christkind kommt im 16. Jahrhundert in Luthers Umfeld auf.
Aber später im 19. Jahrhundert schlug das um. Das Christkind wurde zum ureigenen Gegenstand der katholischen Weihnachtsbräuche. Das Christkind und der Nikolaus oder Weihnachtsmann sind Konkurrenten. Auf der einen Seite der raue, düstere Gabenbringer und auf der anderen das süße Kind, das das Licht der Welt ist. Aber das Christkind war der Trittbrettfahrer und es ist auch nie in die Pole-Position gekommen.
Die Verdrängung des Christkinds in Deutschlands hat doch sicher mit der kulturellen Übermacht Amerikas und seines „Santa Claus“ zu tun.
Zweifellos. Der deutsche Weihnachtsmann ist verwachsen mit Santa Claus. Aber die Santa-Tradition ist jünger und stark beeinflusst von skandinavischer Folklore, weswegen sein Schlitten von Rentieren gezogen wird. Die Kulte des Santa Claus und des Weihnachtsmanns ballen sich zusammen und breiten sich gemeinsam aus. Auch die Ausbreitung des Weihnachtsmannes innerhalb Deutschlands seit den 1920er Jahren ist mit dem amerikanischen Santa Claus verbunden.
Ist der Weihnachtsmann identisch mit dem Nikolaus?
Der Weihnachtsmann ist aus dem Nikolaus hervorgegangen. Auch das geschah vor allem in protestantischen Gegenden als Gegenfigur zum katholischen St. Nikolaus. Im deutschsprachigen Raum verschmelzen Nikolaus und Knecht Rupprecht zu einer pädagogischen Figur und lachen sich das Christkind an als milderen Counterpart. Dann treffen sie auf Santa Claus, der auch eine Mutation des Nikolaus ist. Man weiß, dass die Schöpfer von Santa Claus in den USA einiges über den deutschen Weihnachtsmann wussten. Und dieser Santa Claus wurde dann, vor allem mit amerikanischen Filmen, reimportiert nach Deutschland, wo es eine rasante Verbindung mit dem heimischen Weihnachtsmann gab.
Wieso kommt der Weihnachtsmann im Winter und nicht im Sommer?
Der christliche Weihnachtstermin entstand erst, als das Christentum Staatsreligion im Römischen Reich wurde und der römische Sonnenwendekult übernommen wurde. So ist überhaupt erst das Kirchenjahr entstanden. Dieser staatliche Kult, der ins Christentum eingebaut wurde , und die Neuinterpretation der Sonnenwende als Geburt des Lichts der Welt, der großen Hoffnung, nämlich Jesus Christus, stehen in einem riesigen Geflecht von Winterbräuchen, die ähnliche Gedanken bewegen. Das sind alles Lichterfeste, bei denen man isst, den anderen vom Proviant etwas abgibt, Geschenke verteilt an die Schwächsten der Gesellschaft, auf den Frühling hofft und auf eine Wiedergeburt.
Der Weihnachtsmann ist ein Asiate
Und wie kommt da der Heilige Nikolaus - ein Bischof, der im 4. Jahrhundert in Myra in Kleinasien lebte - mit ins Spiel?
Er ist ein Heiliger, der für die Schwachen eintritt. Das Leben des Nikolaus wurde in den Städten des Mittelalters oft nachgespielt. Man nutzte diese Figur in Form von Imitationsbräuchen, um die Rechte der armen Kinder einzufordern, an den Wintervorräten teil zu haben. Der Nikolaus hatte also eine ökonomische und politische Funktion zur Eindämmung von sozialen Unruhen. Das kommt uns heute sehr fremd vor. Aber wir sollten nicht vergessen, dass noch die DDR nach einem harten Winter unter großen Versorgungsengpässen litt. Das trug entscheidend zu ihrem Niedergang bei. Versorgungskrisen sind auch heute möglich. Schauen Sie sich die schwache Energieversorgung in den USA an.
Geschenke brachte der Nikolaus alias Weihnachtsmann oder Santa Claus also von Anfang an. Das heißt, er wurde nicht von der Konsumgesellschaft vergewaltigt?
Im Gegenteil. Diese Rituale haben die Konsumindustrie mit angeregt. Santa Claus ist auch nicht 1931 von Coca-Cola-Werbeleuten erfunden worden, um das mal klipp und klar zu sagen, sondern viel früher in den 1820er Jahren. In den frühen USA gab es, angetrieben von dem Nikolaus-Gedanken, unter den nicht-protestantischen Zuwanderern, die sehr arm waren, häufig Unruhen. Sie rotteten sich zusammen und belästigten die protestantischen Oberschichten, indem sie maskiert in deren Häuser eindrangen, die Frauen belästigten, tranken. Um das einzudämmen, hat man einen verinnerlichten Brauch erfunden. Eine Figur, die nur noch imaginär durch den Schornstein ins Haus eindringt, aber nichts klaut, sondern etwas mitbringt. Die milde Gabe an die Unterschichten ist ersetzt worden durch das Geschenk an die eigenen Kinder. Santa Claus ist also eine paradoxe Figur, die Geschenke bringt aus freien Stücken. Diese Paradoxie muss man ganz ernst nehmen. Man darf die Wohltätigkeitsökonomie nicht unterschätzen. Der Kapitalismus ist ja noch ganz jung. 200 Jahre, welthistorisch ein Scherz. Die Gabenökonomie war ursprünglich viel mächtiger: Man gibt einfach und kann damit rechnen, dass man etwas zurückbekommt. Das Gegenteil von Markt.
Die zehn Städte mit den meisten Weihnachtsmarktbesuchern
Hamburg
1,8 Millionen Besucher
Nürnberg
2,0 Millionen Besucher
Erfurt
2,0 Millionen Besucher
Leipzig
2,2 Millionen Besucher
Dresden
2,5 Millionen Besucher
München
2,8 Millionen Besucher
Stuttgart
3,0 Millionen Besucher
Frankfurt am Main
3,0 Millionen Besucher
Dortmund
3,6 Millionen Besucher
Köln
4,0 Millionen Besucher
Warum werden Weihnachtsbräuche auch in nichtchristlichen Kulturen, zum Beispiel in Japan, so problemlos übernommen?
Zwei Dinge sind zu beachten. Erstens hat sich der christliche Kalender weltweit als Kalender der Geschäfte durchgesetzt. Dieser Kalender hat ein Ende und das liegt ganz nahe bei Weihnachten und den Winterfesten anderer Kulturen. Zum Beispiel das buddhistische Neujahrsfest. Die Ausbreitung dieses Jahresendtermins, seine Karnevalisierung und seine Vermischung mit dem Gabentausch und weihnachtlichen Ideen aus dem Westen laufen parallel zu den Kulten um den chinesischen Gott des langen Lebens oder den Weißen Alten in der Mongolei, den ich in meinem Buch erwähne. Winterfiguren, Eisfiguren mit weißen Bärten und hohen Köpfen. Eremiten, die aus ihrer Einsiedelei herabsteigen zu den Menschen wie Nietzsches Zarathustra.
Der Weihnachtsmann stammt also eigentlich aus Asien.
All die Weihnachtsbräuche kommen ursprünglich aus dem Osten, aus Asien zu uns. Da gab es früher den Staat und den Bedarf an pädagogischen und Winterbräuchen, in denen der Staat dafür haftbar gemacht wird, wie das Volk durch den Winter kommt. Es gibt ein asiatisches Grundelement, das irgendwann einmal auf den Nikolaus übergesprungen ist. Die ursprüngliche Traditionslinie ist also genau umgekehrt zur heutigen Ausbreitung des Santa Claus.
Weihnachten gehört die Zukunft
Unsere heutigen Weihnachtsbräuche, zum Beispiel der Christbaum, gehen meist auf das 19. Jahrhundert zurück.
Vereinzelt gibt es Weihnachtsbäume schon im 16. Jahrhundert. Aber in der Biedermeier-Zeit im frühen 19. Jahrhundert breiten sie sich sehr stark aus.
Wie feierte man vorher Weihnachten in Deutschland?
Sehr unterschiedlich. Es gab Gegenden, da war es ein rein kirchliches Fest. In anderen Gegenden kreisten die Bräuche vor allem um den Proviant. Fress-Bräuche aller Art, manchmal öffentlich, manchmal im Familienkreis. Diese regional verschiedenen Bräuche kreisen stets um dieselben Fragen: Was ist grün im Winter, was wird hell und warm im Winter, was kriegen wir zu essen, wem schenken wir etwas? In Asien war das genauso.
Welchen Bezug hat der Tannenbaum zum Weihnachtsmann oder Christkind?
Weihnachtsmärkte in Zahlen
85 Millionen Besuche verzeichnen die 1.457 Weihnachtsmärkte im Jahr 70 Prozent mehr als 2000.
90 Prozent der fast 5.000 Schaustellerunternehmen beschickten neben Volksfesten auch Weihnachtsmärkte.
150 Millionen Menschen besuchen die mehr als 10.000 Volksfeste. 2000 waren es noch 170 Millionen.
2,45 Milliarden Euro setzen die Schausteller 2012 auf Volksfesten um, eine Milliarde weniger als 2000.
980 Millionen Euro erzielen sie zusätzlich auf Weihnachtsmärkten.
Der Tannenbaum ist vor allem in der deutschen Tradition wichtig. Manche vermuteten daher einen Zusammenhang mit germanischen Baumkulten. Das konnte aber bisher nicht bewiesen werden. Der beleuchtete Tannenbaum ist jedenfalls ein Sinnbild des Wiederauflebens Christi oder des Lichts der Welt. Das wird in allen möglichen lokalen Varianten durchgespielt. Um 1830 herum kommt dann diese Figur des „Herrn Winter“ auf. So ein knorziger Alter: „Von drauß‘ vom Walde komm ich her“, dichtet Theodor Storm. Der Herr Winter verkörpert die eisigen Mächte der Natur, die sich ins Gute gewendet haben. Er bringt den grünen Baum mit.
Wie sehen Sie die Zukunft des Weihnachtsfestes und der dazugehörigen Bräuche?
Die winterliche Fürsorglichkeit ist nicht nur eine rührselige Idee, sondern hat mit der konkreten Not des Winters zu tun. Und da liegt auch die Zukunft dieser Feste und ihrer Figuren. Letztlich gibt es zwei große Zukunftsszenarien. Entweder wir schaffen jetzt eine Energiewende, so dass es egal ist, ob die fossilen Brennstoffe noch länger halten. Dann wird vielleicht wirklich eine allgemeine Wohlstandszivilisation die ganze Welt ergreifen. Dann stellt sich aber die Frage, wie die Weltkulturen zusammenfließen. Welche Chancen haben die für eine weitere gemeinsame Zukunft? Dann wird es wichtig sein, den Gedanken an die früheren Winterzeiten, einschließlich der Eiszeit, aufrecht zu erhalten. Da wird Weihnachten eine eigene klimageschichtlich fundierte Rolle spielen. Das andere Szenario: Die fossilen Brennstoffe gehen allmählich aus und die alternativen Quellen kommen nicht richtig in Gang. Das könnte einen graduellen Rückgang auf niedrigere technische Niveaus bedeuten, in die Biedermeier-Zeit vielleicht oder gar ins Mittelalter. Und dann werden die Weihnachtsbräuche erst recht eine große Rolle spielen. Denn für die dann entstehenden Gesellschaften wird es wieder schwierig sein, durch die Versorgungskrise des Winters zu kommen.
In jedem Fall gute Zukunftsaussichten für Weihnachten.
Absolut. Denn es könnte ein Keim sein für eine Religion der Zukunft, die vielleicht ein altes Problem lösen wird: Das Überzeitliche der Religionen zusammenzubringen mit den konkreten Lebensbedingungen der Menschen im Hier und Jetzt, wo es kalt ist und man sehen muss, wie man durch den Winter kommt.