Je älter wir werden, desto mehr manifestiert sich unser soziales Wesen. Ihm ist es wichtig, wie es von anderen wahrgenommen wird. Psychologisch betrachtet ist die Angst vor Auftritten schlichtweg die Furcht vor einer negativen Beurteilung durch andere. Solche Ängste haben vor allem diejenigen, die sich persönlich stark von ihrem Auftritt abhängig machen. Menschen, die berufsbedingt ständig Präsentationen halten müssen: Manager, Politiker, Moderatoren, aber auch Musiker oder Sportler.
Einer amerikanischen Studie zufolge geben 74 Prozent der Menschen „Sprechen in der Öffentlichkeit“ als eine ihrer größten Ängste an. Selbst Cicero, der berühmteste Redner Roms, soll unter Lampenfieber gelitten haben. Und der große Schriftsteller Mark Twain hat es auf den Punkt gebracht: „Das menschliche Gehirn ist eine großartige Sache. Es funktioniert vom Augenblick der Geburt bis zu dem Zeitpunkt, wo du aufstehst, um eine Rede zu halten.“
Ängstliche und Perfektionisten sind besonders häufig betroffen
Herzrasen, Schwitzen, Kreislaufprobleme, Magenverstimmungen und Konzentrationsschwierigkeiten: Die Symptome des Lampenfiebers sind unterschiedlich und basieren alle auf einer erhöhten Cortisol-Ausschüttung. Das Stresshormon bewirkt einen Zustand, den manche Verhaltensforscher „Flüchten oder Kämpfen“ nennen. Was angesichts einer Gefahrensituation sicher hilfreich sein kann, hat im Alltag allerdings weder Sinn noch Platz – und erst recht nicht auf einer öffentlichen Bühne. Doch gerade dort grassiert das Lampenfieber besonders gerne.
So tricksen Sie Ihren Schweinehund aus
Geben Sie Ihrer linken Gehirnhälfte nach, die Stress vermeiden will. Sie ist der Sitz der Kritik, des Null Bock. Überlisten Sie diese Blockade, indem Sie ihr zuflüstern: "Ich muss nichts. Völlig okay, wenn ich das jetzt nicht tue." Dann legen Sie eine CD ein, die Sie in heitere Stimmung bringt. Gehen Sie kurz an die frische Luft, um den Energietreiber Sauerstoff in Ihren Körper zu locken. Und dann tasten Sie sich locker und unverkrampft an die Materie heran.
(Quelle: Lothar Seiwert, Zeit ist Leben, Leben ist Zeit)
Gehen Sie den Ablauf der lästigen Pflicht im Kopf durch. Spüren Sie kurz nach, wie Sie sich dabei fühlen. Mies, stimmt's? Und dann machen Sie in Gedanken einen Sprint nach vorn. Und führen geistig die letzten Handgriffe aus: Die letzte Mail wegklicken. Den letzten Kragen bügeln. Die Laufschuhe aufschnüren. Dann gehen Sie im Zeitraffer noch einmal durch die gesamte Aufgabe, inklusive Belohnung. Jetzt haben Sie richtig Lust drauf, oder?
Stellen Sie sich vor, wie es Ihnen nach vollbrachter Leistung gehen wird, und genießen Sie dabei die positiven Gefühle: wie wohl Sie sich in Ihrem Körper fühlen, wie stolz Sie auf sich sein werden, wie zufrieden Sie mit sich sind, wenn Sie Ihren Plan einhalten, wie Ihr gutes Gewissen Sie ruhig schlafen lassen wird.
Aktivieren Sie alle Sinne. Riechen, schmecken, sehen, fühlen Sie, was Sie danach tun werden. Und wie gut es Ihnen geht, wenn Sie diesen Berg Alltagsmist hinter sich gebracht haben. Mit der Emotion namens Vorfreude holen Sie sich einen wunderbaren Aktivator gegen Widerstände in den Körper.
Statt sich durch die Spanischlektion zu quälen, spielen Sie mit Ihrem Vorhaben nur ein wenig herum. Schmökern Sie ziellos in Ihrem Lehrbuch, lesen Sie nur die Texte unter den Fotos. Statt den ganzen neuen Vorgang auf dem Schreibtisch durchzuackern, lesen Sie einfach mal da und mal dort. Vielleicht erwachen nach einer Weile Ihre Neugier und Lust, die Sache anzupacken, von allein.
Unter Musikern sei es ein bekannter und verhasster Zustand, der oft „ängstliche Menschen trifft“, sagt Déirdre Mahkorn, Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie. Sie hat vor fünf Jahren eine Lampenfieber-Ambulanz an der Universität in Bonn gegründet, die sie gemeinsam mit einem Kollegen führt.
Dort lassen sich aus beinahe allen deutschen Theatern und Rundfunkorchestern Musiker behandeln, genauso wie Politiker aus Landesregierungen oder Führungskräfte großer Unternehmen. Die Auftrittsangst, sagt die Expertin, treffe fast ausnahmslos Perfektionisten: „Sie sind oft die Besten. Absurderweise wissen die Besten aber oft nicht, dass sie die Besten sind.“
Ein Persönlichkeitsmerkmal, das vor allem Manager und Politiker eint: „Viele von ihnen sind süchtig nach positivem Feedback, streben nach Bedeutung und verlieren leicht das Maß ihrer Arbeit aus den Augen.“ Kann man Lampenfieber also als eine Art narzisstische Zwangsstörung verstehen? Nicht unbedingt. Eher ist sie eine soziale Phobie, die viele betrifft und sogar bis zur Todesangst steigerungsfähig ist. „In den vergangenen Monaten kommen sogar Köche zu uns in die Ambulanz“, sagt Mahkorn, „weil sie Kochkurse anbieten wollen, aber Panik beim Gedanken daran bekommen, vor mehr als drei Teilnehmern zu sprechen.“
Vollständig Heilung ausgeschlossen
Die schlechte Nachricht: Es fällt auch der Fachärztin nicht leicht, ihnen zu helfen. Vollständige Heilung ist bei Lampenfieber nämlich ausgeschlossen. Aber: „Je öfter Sie sich einer Situation aussetzen, vor der Sie Angst haben, desto eher können Sie damit umgehen.“ Wichtig sei es, dass sich die Betroffenen an echte Experten wenden und nicht an selbst ernannte Coaches: „Ängste und Panikattacken gehören grundsätzlich in die Hände von Ärzten.“
Liest man die unzähligen Ratgeber zum Thema, sollen Rollenspiele, positive Autosuggestion und Übungen zur Muskelentspannung helfen. Weil sich das aber so unbefriedigend anhört, wie es wahrscheinlich auch ist, suchen Betroffene die Hilfe längst nicht allein bei anerkannten Fachleuten. Es ist ein offenes Geheimnis, dass manche Profimusiker sich vor Auftritten Betablocker einschmeißen, weil die Bluthochdrucksenker die körperlichen Folgen der Adrenalinausschüttung unterdrücken. Und trinken die ehrgeizigen Figuren in der Fernsehserie „Mad Men“ nicht auch andauernd Alkohol vor wichtigen Kundenpräsentationen? Es scheint, als würde sich der Gedanke ans Scheitern beinahe zur Existenzbedrohung entwickeln – erst recht in einer Gesellschaft, die viel Wert auf Erfolg legt.