Lernferien Schachakademie statt Freibadbesuch

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Fortbildungsfetisch der Eltern

Kein Wunder, passen die Kurse in eine Zeit, in der frühkindliche Förderung angeblich schon im Mutterleib beginnt. Wer während der Schwangerschaft klassische Musik hört, darf guter Hoffnung sein auf einen kleinen Mozart, heißt es. Wer regelmäßig Lebertran trinkt, treibt den Intelligenzquotienten des ungeborenen Kindes in die Höhe. Und wer sein Baby neun Monate lang mit guter Laune herumträgt, bekommt zur Belohnung ein ebenso entspanntes Kind. Und damit nicht genug. Die Konkurrenz schläft nicht, vor allem nicht in Asien, wie man hört, das Kind muss gewappnet sein, aber wie? Schach? Hockey? Geige? Chinesisch? Welcher Kindergarten ist der richtige? Möglichst zweisprachig? Und danach? Eine internationale Schule? Oder ein Gymnasium mit Schwerpunkt MINT-Fächer? Bloß keine Langeweile aufkommen lassen!

Und so erfasst der Fortbildungsfetisch auch noch die vormals schönste Zeit des Lebens. Weil die Eltern fürchten, dass ihre Kinder den Anforderungen der digitalisierten und globalisierten Welt nicht gewachsen sind, können sie nicht einfach die Seele baumeln lassen, sondern müssen auch noch in den Sommerferien büffeln. Die Lernplattform Scoyo fand in einer Umfrage unter fast 1000 Schülern zwischen 6 und 14 Jahren heraus, dass der Anteil der Ferien-Lerner bei mittlerweile fast 70 Prozent liegt.

Während der Ferien wird vieles vergessen

Und das ist auch gut so, meinen Forscher. Sechs Wochen sind viel Zeit – viel Zeit zum Vergessen. Eine Studie des US-Wissenschaftlers Harris Cooper aus den Neunzigerjahren zeigte, dass sich die Kinder nach den Ferien an vieles nicht mehr erinnern. Besonders groß waren die Lücken in Mathematik. Ältere Kinder waren häufiger von der Urlaubsamnesie betroffen als jüngere. In manchen Fällen ist es also gar nicht so schlecht, in der Freizeit mal einen Blick in die Bücher zu werfen. Oder sich dem Schachyoga auf Schloss Elmau zu widmen.

Diese Sprachen werden am häufigsten in bilingualen Kitas angeboten

Dijana Dengler stellt sich vor die kleine Truppe und streckt die Arme in die Höhe: „Wir sind Türme. Wir bewegen uns nur nach vorne, nach hinten, nach links und nach rechts.“ Sie beugt ihren Oberkörper dazu passend hin und her. Drei Übungen später ist es vorbei mit der Entspannung, der nächste Punkt auf der Tagesordnung wartet – vorausschauendes Denken.

Dengler klebt die beiden Könige und Türme auf das Übungsschachbrett, das hinter ihr auf einem Flipchart befestigt ist. Die Kinder haben drei Minuten Zeit, um sich die einzelnen Positionen der Figuren einzuprägen. Amalia und Sophia starren still auf das Brett, leise murmeln sie die Felder vor sich hin. Als die Zeit abgelaufen ist, wirft Dengler ein rotes Tuch über das Brett: „Wo steht der weiße König?“ Alle Ärmchen schnellen in die Höhe, die Kinder schnipsen aufgeregt mit den Fingern. Als alle Figuren abgefragt sind, wird es knifflig.

Das Schachbrett ist immer noch unter dem roten Tuch verborgen. „Kann der weiße Turm den schwarzen König schlagen?“, fragt Dengler. Die Kleinen denken angestrengt nach. Amalia kaut auf ihrer Unterlippe, Martin reibt sich die Stirn. „Schachspieler müssen in die Zukunft schauen können“, sagt Dengler. „Und sich die folgenden Schritte vor dem inneren Auge vorstellen können.“

Eine halbe Stunde vor Ende der Schachakademie schleicht sich Amalias Mutter in die Bibliothek. Die frühere Anwältin ist heute im Management tätig, ihr Mann Unternehmensberater. Beide sind beruflich extrem eingespannt. Sie verbringen fünf Tage auf Schloss Elmau, ihre einzigen Sommerferien. Wenn Amalia das Schachspielen gefällt, wird der nächste Urlaub auf die Akademie abgestimmt. So viel Plan muss sein.

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