Neues Buch von Robert Beachy Das schwule Berlin der Kaiserzeit

Zwischen Skandalisierung und Liberalisierung: Ausgerechnet das wilhelminische Pickelhauben-Deutschland war ganz Avantgarde bei der Erfindung der Homosexualität, schreibt der amerikanische Historiker Robert Beachy. Über sein Buch „Das andere Berlin“ und eine Doppelausstellung in der Hauptstadt.

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Cover Beachy Quelle: Presse

Als der Großindustrielle Friedrich Alfred Krupp am 26. November 1902 in Essen beigesetzt wurde, sprach Kaiser Wilhelm II. in seiner Trauerrede von einer „unserm ganzen Volk angetanen Schmach“. Später äußerte er sich in einer Notiz weniger pathetisch: Der „arme Krupp“ sei eben „zu leichtgläubig und naiv“ gewesen – und „daher sehr unvorsichtig“. Was war geschehen? Der sozialdemokratische „Vorwärts“ hatte am 15. November einen Artikel lanciert, in dem Krupp, der seinen Urlaub regelmäßig  auf Capri verbrachte, als „Sodomist“ geoutet wurde: „In seiner verschwenderisch ausgestatteten Villa“, schrieb das Blatt, huldige er „mit den jungen Männern der Insel dem homosexuellen Verkehr.“

Linksgerichtete italienische Zeitungen hatten den „degenerierten Reichen“ aufs Korn genommen, mit weitgehend aus der Luft gegriffenen Behauptungen, jetzt geriet er ins Visier des Zentralorgans der deutschen Linken. Nicht in erster Linie als Homosexueller, wie das Blatt beteuerte, sondern als Repräsentant eines Systems, das es reichen Homosexuellen erlaubt, ihre „unglückliche Veranlagung“ auszuleben – auf Kosten der Armen. Eine Woche nach der Veröffentlichung war Krupp tot. Die offizielle Todesursache: Herzversagen. 

Informationen zum Buch

Noch wenige Tage vorher hatte Krupp durch seinen Privatsekretär beim Berliner Polizeikommissar Hans von Tresckow nachfragen lassen, ob es ratsam sei, wegen Rufmords juristisch gegen den „Vorwärts“ vorzugehen. Die Empfehlung des Kommissars: Krupp möge den Rechtsweg nur beschreiten, wenn sein „Gewissen rein“ sei, weil er andernfalls vor Gericht einen Meineid riskiere. Als Chef des Berliner Dezernats für Homosexuelle und Erpressung war Tresckow über die Vorlieben des Kanonenkönigs bestens unterrichtet. Ein Blick in den polizeilichen Karteikasten genügte: Krupp war aktenkundig durch seine Besuche im Berliner Hotel Bristol, wo er sich von capresischen Burschen bedienen ließ, die - auf Rechnung des Industriellen - vom Hotel angestellt wurden. Die Polizei sah durchaus keinen Grund einzuschreiten, es genügte ihr zu wissen, was sich unter Berliner Dächern tat: Krupps Frau und die Töchter logierten in einem anderen Hotel, wenn sie das Familienoberhaupt nach Berlin begleiteten...

Der US-amerikanische Historiker und Autor des Buchs

Die Krupp-Saga ist nur eine von zahlreichen Anekdoten, die der amerikanische Historiker Robert Beachy in seiner Studie „Das andere Berlin“ zu einem Kaleidoskop der Lebensumstände von Homosexuellen im wilhelminischen Deutschland vereint: Sie waren gefährdet, konnten geoutet und damit gesellschaftlich ruiniert werden, genossen zugleich aber, zumal in Berlin, Freiheiten wie in keinem anderen Land. Zwar habe es, wie Gerichtsakten dokumentieren, auch in Holland, Frankreich oder England schwule Subkulturen gegeben, die „Vorstellung von einer (homo)sexuellen Persönlichkeit“, die „Konstruktion“ eines „schwulen“ Charakters aber, so Beachy, sei im „deutschen Kontext“ entstanden.

Sein zentraler Befund:  Die „Entstehung einer auf einer unverrückbaren sexuellen Orientierung basierenden Identität (war) ursprünglich ein deutsches und insbesondere ein Berliner Phänomen.“ Nur in Deutschland habe sich von Mitte des 19. Jahrhunderts an „durch die Zusammenarbeit von Berliner Medizinwissenschaftlern und sexuellen Minderheiten“ so etwas wie eine homosexuelle „Spezies“ herausgebildet, die Vorbildfunktion gewann für andere Länder.

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