Persönlichkeitsforschung Jetzt lasst doch mal die Geschwister da raus!

Erstgeborene sind klug, aber egoistisch. Sandwich-Kinder sind fügsam und leise und Nesthäkchen sind rebellisch, aber ein bisschen doof. Dass das nur Kaffeesatz-Leserei ist, ist belegt. Also hört auf mit dem Quatsch.

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Ein achtjähriges Mädchen und ein fünfjähriger Junge

Angefangen hat alles irgendwann im 19. Jahrhundert. Seitdem überlegen Forscher, ob die Persönlichkeit eines Menschen etwas damit zu tun hat, ob und wie viele Geschwister er hat, beziehungsweise welches dieser Kinder man ist. Man kennt das ja: Das verwöhnte Einzelkind ohne Sozialkompetenz. Der Erstgeborene, der sich alles erkämpfen musste, was den nachfolgenden Geschwistern nur so in den Schoß fiel. Und dann das arme Sandwich-Kind, das zwischen dem erstgeborenen Stammhalter - erbt Vaters Hof und Unternehmen - und dem Abschluss der Familienplanung (kurz: Nesthäkchen) irgendwie unter geht.

So richtig frei machen kann man sich vom dem Klischee ja auch nicht. Und da der Mensch zur Vermeidung kognitiver Dissonanzen neigt - wir hören nicht gerne, dass wir uns irren - werden wir immer wieder sehen, hören, erleben, was uns bestätigt. Der Kollege, der immer das letzte Stück Schokolade nimmt? Einzelkind, klarer Fall. All die anderen Einzelkinder, die weniger verfressen sind, fallen uns gar nicht auf.

Nicht jede Theorie taugt zur Handlungsempfehlung

1996 veröffentlichte dann auch noch der amerikanische Psychologe Frank Sulloway ein Buch mit dem Titel „Born to Rebel“. Damit gab er all den Küchenpsychologen und unserer eigenen Klischee-Schublade im Kopf Recht. Er war nämlich überzeugt, dass Erstgeborene perfektionistisch sind, Sandwich-Kinder besonders sozial und Nesthäkchen rebellisch. Jetzt kann man natürlich auf die Meinung der Laienpsychologen pfeifen, aber die sitzen eben leider auch in Personalabteilungen und erkennen dank Sulloways These ganz schnell, was für einer der Bewerber denn so ist.

Dieses Schicksal erleiden übrigens auch viele Erkenntnisse, Theorien und Gedankenspielereien aus der Hirnforschung. Die Synapsen von Probanden im Hirnscanner reagieren stärker auf die Farbe Rot als auf Grau? Dann sollte man also besser keine graue Krawatte bei der Gehaltsverhandlung tragen, sondern liebe die dominante, rote - um zu signalisieren, wie Ernst es einem ist.

Zu allem Überfluss erscheint seit Sulloways Veröffentlichung in regelmäßigen Abständen von jeder möglichen und unmöglichen Universität eine entsprechende Untersuchung: Erstgeborene haben den höheren Intellekt, Zweitgeborene mögen überdurchschnittlich häufig keinen Spinat, Nesthäkchen sind zu 80 Prozent brünett.

Selbst wenn man diese Ergebnisse klaglos hinnimmt, sollte man sich natürlich fragen: Wie verhält es sich bei Patchwork-Familien? Ist ein Kind, dessen Vater schon zwei Kinder aus einer früheren Beziehung hat, nun das Nesthäkchen (des Vaters) oder das Erstgeborene (der Mutter)? Und was ist mit Kindern, die Geschwister haben, aber nicht mit ihnen gemeinsam aufwachsen? Es hat übrigens bis Juli dieses Jahres gedauert bis US-Forscher zweifelsfrei belegt haben, dass es kein Naturgesetz ist, dass Erstgeborene klüger sind als ihre Geschwister. Jetzt dürfen die großen Geschwister also offiziell doof sein.

Genauso unsinnig wie ein Horoskop

Letztlich lassen sich zahlreiche Ergebnisse dieser Geschwisterkinder-Studien auf den Erziehungsstil der Eltern zurückführen: Wo Paare beim ersten Kind noch besonders vorsichtig sind und immer alles richtig machen wollen, steigt mit weiteren Kindern die Gelassenheit und Eltern lassen auch mal Fünfe gerade sein. Und natürlich prägt es die Persönlichkeit, wenn Kinder wahlweise ständig in Watte gepackt werden oder sich auch einmal ausprobieren und schlimmstenfalls vom Baum oder dem Klettergerüst fallen dürfen. Aber daraus abzuleiten, welchen Charakter ein erwachsener Mensch hat, ist genauso esoterisch wie die Annahme, dass das Sternzeichen, der Aszendent oder der Geburtsort Aussagekraft hätte.

Dankenswerterweise haben Psychologen der Universitäten Leipzig und Mainz eindeutig nachgewiesen, dass die Geburtsreihenfolge keinerlei Einfluss darauf hat, wie emotional, extrovertiert oder gewissenhaft ein Mensch ist. Die entsprechende Studie, die unter anderem auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels erstellt wurde, ist jetzt in der renommierten Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America“ (PNAS) veröffentlicht worden.

Lediglich „winzig kleine Unterschiede beim Intellekt“ habe sie zusammen mit Kollegen in einer Studie festgestellt, sagte die Psychologin Julia Rohrer von der Universität Leipzig. Mit ihren Kollegen wertete sie Daten dreier fundierter Untersuchungen mit insgesamt mehr als 20.000 Teilnehmern in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Deutschland aus. Und es zeigte sich: Angaben über das Geschwistergefüge sind wenig belastbar, wenn sie lediglich von einem Kind pro Familie abgefragt wurden. Auch müsse man zwischen Familien mit gleich vielen Kindern vergleichen.

Mit Blick auf die - nach Angaben der Forscher - vier „zentralen“ Eigenschaften Extraversion, emotionale Stabilität, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit zeigte sich bei der neuen Studie keinerlei Zusammenhang mit der Reihenfolge der Geburt.

Beim Intellekt schnitten Erstgeborene sowohl in IQ-Tests als auch bei der Selbsteinschätzung etwas besser ab als die jüngeren Geschwister. Die müssen sich allerdings nun nicht sorgen: Der Effekt lasse sich zwar in großen Stichproben finden, „wenn man zwei Geschwister vergleicht, wird dennoch in über 40 Prozent der Fälle das später geborene den höheren IQ haben“, so Rohrers Kollege Stefan Schmukle in einer Mitteilung. Zudem seien die Effekte so klein, dass es zweifelhaft sei, ob sie für den Lebensweg bedeutsam sind. Was die Autorin - rebellisches Nesthäkchen - enorm beruhigt.

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