Psychologie Die rieselnde Angst vor dem eigenen Ungeschick

Der Soziologe und Bestsellerautor Heinz Bude über den neuen Deutschen, der einem Reichtum an Lebenschancen gegenübersteht und allen gefallen will - aber daher auch ständig besorgt ist, etwas falsch zu machen.

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Heinz Budes Buch

WirtschaftsWoche: Deutschland geht es im Großen und Ganzen gut. Das Land ist, wie Sie schreiben, stabil. Trotzdem bringen Sie in Ihrem neuen Buch die deutsche Gesellschaft auf den Begriff der Angst. Wie kommen Sie darauf?

Heinz Bude: Sie haben Recht. Es hat den Anschein, wir bewegten uns in ruhigem Fahrwasser. Aber wenn man genauer hinschaut, sind wir zutiefst verunsichert. Wir sind wohlhabend und reich an Lebenschancen - und haben gerade deshalb Angst davor, unendlich viel falsch zu machen. Mit der Folge, dass wir uns nicht mehr dauerhaft auf etwas einlassen und uns ständig Optionen offen halten. Und das ist ein Problem. 

Warum sollte das ein Problem sein? 

Nehmen sie die heutigen Musterfamilie. In ihr sind nicht die Partner einander verbunden, sondern je beide Elternteile mit ihren Kindern. Allein zu ihren Söhnen und Töchtern gehen Väter und Mütter heute noch unkündbare Beziehungen ein.

Was steckt dahinter?

Dahinter steckt, dass das liberale Paradigma vom selbstbestimmten Ich in die Krise stürzt. Wer heute auf Partnersuche geht, weiß: Ich wähle nicht nur. Sondern ich muss auch gewählt werden. Unsere Angst wächst dadurch ins Enorme: Weil alle anderen auch wählen - und ich vielleicht aussortiert werde. 

Die sieben größten Ängste der Deutschen

Unsere Angst speist sich also nicht aus einem Mangel an individuellen Möglichkeiten, sondern aus einer Vielzahl von Möglichkeiten, die allen offen stehen?  

So ist es. Es ist geht nicht darum, dass den Leuten irgendetwas fehlt. Es mangelt ihnen weder an Geld noch an sozialen Beziehungen. Nein, worunter die Menschen heute leiden, ist eine Art Multioptionsangst. Sie tritt immer dann auf, wenn man von der Frage eingeholt wird: Was will ich eigentlich?

Woher rührt die Unsicherheit dem eigenen Leben gegenüber? 

Ich glaube, dass die Ära des selbstbestimmten, innengeleiteten Menschen sich dem Ende zuneigt. Dieser Mensch hatte noch einen sehr individuellen Lebensplan. Er fragte sich etwa: Soll ich einen guten Bildungsroman lesen, mich mit Gottesfragen beschäftigen oder die Relativitätstheorie zu verstehen suchen? Ein solcher Typ suchte und fand Anerkennung - nicht zuletzt bei sich selbst. 

Und heute?

Heute treffen wir eher den außengeleiteten Menschen an. Er strebt nicht nach Anerkennung, sondern zeichnet sich durch Kontaktsensibilität aus. Für ihn ist die Frage entscheidend: Wie kann ich meine Einfädelungsfähigkeiten verbessern? Wie kann ich mich mit anderen arrangieren? Darunter fallen die Dinge, die in Unternehmen als Soft Competences geschätzt werden und in jedem Assessment-Prozess positiv ins Gewicht fallen: soziale Kompetenz, Teamfähigkeit, Flexibilität - man kann auch sagen: Geschmeidigkeit.

Der amerikanische Soziologe David Riesman hat diesen "außengeleiteten Menschen" bereits 1950 beschrieben: Das Ich setzt sich nicht mehr in Gegensatz zur Welt und reibt sich an ihr, um sich selbst zu gewinnen…

…sondern ist um Einpassung und Anpassung bemüht, genau. Riesmann ist da eine ausgezeichnete Diagnose und Prognose des modernen Menschen gelungen. Der außengeleitete Mensch ist in der vorausahnenden Wirkung auf seine Umwelt hin abgezirkelt und berechnet. Und der neue Deutsche ist der, bei dem diese Fähigkeit besonders exzellent ausgebildet ist. Er ist jederzeit well-adjusted. Hat keinen inneren Kompass mehr. Verfügt aber über ein ausgezeichnetes Radarsystem.  

"Die permanente Angst des Ungenügens"

Weshalb er nicht nur besonders erfolgreich, sondern auch besonders verletzbar und ängstlich ist?

Das ist der Punkt. Der außengeleitete Mensch muss ständig auf den Anderen schauen, sich vergleichen. Daraus erwächst eine permanente Angst des Ungenügens. Keine spezifische, leicht adressierbare Angst, Sondern eine allgemeine, diffuse Angst im Hinblick auf andere. Nehmen wir das Thema Work-Life-Balance: Wir sehen eine Generation, die nicht mehr Karriere machen will um jeden Preis - aber was will sie stattdessen? Ein Leben der Selbstverwirklichung: Lebensglück, Freundschaft, Geselligkeit. Dahinter steckt die Idee: Wir sitzen mit anderen am Küchentisch und genießen unser gelingendes Leben. Das Problem ist: Irgendwer kann das Genießen immer besser. Irgendeine Freundin kriegt noch lässiger Karriere und Familie unter einen Hut. Und irgendein moderner Papa verbringt noch mehr Zeit mit seinen Kindern.  

Was ist das für eine Angst, die sie da beschreiben?

Diese Angst ist eine Stimmung. Im Unterschied zum Affekt, der plötzlich aufblitzt, bildet sie den atmosphärischen Rahmen für die Art und Weise, in der wir die Welt wahrnehmen. Vielleicht kann man am besten mit einem Bild beschreiben: Die Stimmungsangst hat etwas Rieselndes, sie dringt unmerklich in die Poren der Gesellschaft ein.

Zur Person

Vor allem in die Poren der deutschen Mittelklasse, in das Milieu der sozialen Aufsteiger? 

Ja. Wobei sich die Stimmungslage der Aufsteiger verändert hat. Der klassische Angsttyp unter den Aufsteigern wirkte immer ein bisschen schwitzig und selbstgerecht. Man kennt diese Self-Made-Männer aus kleinen Verhältnissen - Leute wie Carsten Maschmeyer oder Gerhard Schröder - bei denen sich die Angst zuweilen abends meldet, beim Rotwein - die Angst vor der Rache derjenigen, denen sie entkommen sind.

Und diese Aufsteiger sind nicht mehr typisch?

Typisch ist heute die dritte Generation, die Scheidungsanwältin, deren Großvater Industriearbeiter bei Hoesch war und deren Vater Ingenieur mit Fachhochschulabschluss ist. Da geht es nicht mehr um die Angst, abserviert zu werden, da rieselt die Angst feiner. Da verwandelt sich die Angst in ein Gefühl der Unzulänglichkeit, etwa weil man die nötige Mischung aus Disziplin und Zuwendung bei der Erziehung der Kinder nicht hin bekommt. Das ist die neue Angst des Aufsteigers: Die Dinge nicht richtig hinzukriegen, um die verdiente Belohnung gebracht zu werden – aus eigenem Ungeschick. 

Und diese Angst kann sich zu dem Gefühl steigern, das Leben selbst zu verfehlen?

Entscheidend ist das Unbehagen am eigenen Typ. Dass man das Gefühl hat, nicht zu unterliegen im Wettbewerb, sondern zu versagen. Dass man plötzlich merkt: Mir fehlt die nötige Leichtigkeit im Umgang mit anderen. Der außengeleitete Charakter hat das Grundgefühl, dass er in seinem Leben an sich selber schuldig wird. Aber er weiß nicht, in Bezug auf was. Er hat das Gefühl, dass ihm etwas vorenthalten wird, vor allem aber: das Gefühl, dass er selbst es ist, der sich etwas vorenthält. Er entwickelt ein Ressentiment gegenüber seiner eigenen Person.

Angst und Schrecken in deutschen Büros
Immer mehr Deutsche beklagen eine Kultur der Angst am Arbeitsplatz. Fehler werden nicht verziehen und Mitarbeiter leiden unter Despotismus und Überforderung ihrer Vorgesetzten. Das ist das Ergebnis einer Umfrage der Personalberatung Rochus Mummert unter 1057 Deutschen. Was die Mitarbeiter im Büro erdulden müssen. Quelle: dpa
Ängste im BerufslebenPsychoterror ist offenbar weit verbreitet. 28 Prozent aller Berufstätigen fürchten sich laut Umfrage vor Mobbing durch Arbeitskollegen. Die Angst vor Konflikten mit Vorgesetzten wiegt schwerer. Knapp 34 Prozent der Befragten fürchten sich vor Konflikten mit dem Vorgesetzten. Quelle: dpa
Auch die Angst vor dem Verlust des eigenen Arbeitsplatzes beschäftigt die Deutschen. Knapp 36 Prozent der Berufstätigen befürchten den Gang zum Arbeitsamt in naher Zukunft. Die größte Sorge der Deutschen in ihrem Berufsleben ist aber die Angst vor dem Versagen. Fast die Hälfe der deutschen Arbeitnehmer haben Angst einen Fehler zu machen. Quelle: dpa
Angst macht krankImmer mehr Deutsche werden psychisch und körperlich krank. Durch die Belastungen am Arbeitsplatz flüchten viele Arbeitnehmer in den Alkohol. Auch der Medikamenten- und Drogenkonsum nimmt zu. Knapp 17 Prozent der Berufstätigen beobachten eine steigende Zahl von Alkohol- und Drogenabhängigen im eigenen Unternehmen. Dadurch steigt auch die Zahl der Krankschreibungen. 22 Prozent der Deutschen regristieren „angstbedingte Fehlzeiten“ am Arbeitsplatz. Quelle: dpa
Angsterfüllte Mitarbeiter arbeiten deutlich unproduktiver. Das glauben zumindest knapp 35 Prozent der Deutschen. Für Unternehmen sind die Folgen gravierend. Schließlich sorgt die schlechtere Leistung der eigenen Mitarbeiter am Ende auch für weniger Gewinn des Unternehmens. Doch auch das Arbeitsklima leidet unter dem Einfluss von angsterfüllten Mitarbeitern. Knapp 60 Prozent der Arbeitnehmer gaben an, als Folge von Ängsten am eigenen Arbeitsplatz an Stresssymptome wie Reizbarkeit und Nervosität zu leiden. Quelle: dpa
Die Gründe für ÜberstundenKollegen sind krank, einige Mitarbeiter sind im Urlaub: Für 41 Prozent der deutschen Arbeitnehmer sorgen regelmäßige Urlaubs- und Krankheitsvertretungen für einen besonders langen Arbeitstag. Die Vorgesetzten schauen selten auf die Uhr: Knapp die Hälfte aller Berufstätigen gaben an, dass Aufgaben zur späten Stunde oftmals für einen längeren Arbeitstag sorgen. Quelle: dpa
Immer mehr Deutsche schaffen es regelmäßig nicht mehr pünktlich nach Hause. Der Grund: Mitarbeiter sind knapp, dass Arbeitsaufkommen aber allgemein hoch. Für knapp 60 Prozent aller deutschen Arbeitnehmer ist dies der triftigste Grund für einen besonders langen Arbeitstag. Quelle: AP

Sie meinen, der Vergleich mit Anderen führt geradewegs zur Selbstbezichtigung?

Das ist das Schicksal des außengeleiteten Menschen. Dass die Resonanz seiner sozialen Umwelt für ihn entscheidend ist. Das Dumme daran: Der Andere ist, nach Jean-Paul Sartre, immer auch die Hölle. Er ist derjenige, der mir mein Lebensrecht gibt und von dem ich gleichzeitig weiß: Er ist höllisch unzuverlässig. Ich brauche nur ein falsches Wort zu sagen, eine Kleinigkeit zu verpatzen ­- und schon sagen die Leute: Was ist das denn für einer?

Der typische Deutsche, der Vertreter der Mittelschicht, leidet demnach nicht an Statusängsten, sondern vor allem an sich selbst? 

Die Diagnosen über die Abstiegsängste und das Schrumpfen der Mittelschicht halte ich für überzogen. Was es gibt, ist ein Gefühl der Kränkung, ein untergründiger Groll angesichts schwindender Aufstiegsmöglichkeiten. Leistung führt nicht mehr automatisch zum Erfolg. Es ist enger geworden an der Spitze unserer Gesellschaft. Die Leute haben das Gefühl, immer ein Extra bieten zu müssen, eine kleine Zusatzkompetenz, um im Rennen um die besten Plätze mithalten zu können. Das kann zermürbend sein.

"Champion muss schon sein"

Weil gut sein heute immer auch heißt: Vielleicht nicht gut genug?

Richtig. Trotz relativ komfortabler Positionen breitet sich in der Mitte eine Stimmung der Verbitterung aus. Man hat - im Vergleich mit anderen - ständig den Eindruck, sich mit einem der hinteren Plätze zufrieden geben zu müssen, also zu den Verlierern zu gehören. Daher auch der nagende Neid gegenüber denen, die im Rampenlicht stehen. Selbst beim deutschen Mittelstand sprechen wir heute von „hidden champions“. Mit anderen Worten: Champion muss schon sein. Unter "Nummer eins" will es in Deutschland keiner mehr machen.

Die Angst vor dem eigenen Ungenügen ist das eine. Was aber ist mit dem Unbehagen an Big-Data und am Bankenkapitalismus? Handelt es sich auch hier um eine rieselnde Angst?

Unbedingt. Die Angst vor dem Kapitalismus und den Aktivitäten der NSA haben sich in etwas rein Atmosphärisches, in vollendete Stimmung verwandelt. Andernfalls hätten sie zu Verhaltenskonsequenzen geführt. Fakt aber ist: Wir schreiben weder weniger Mails noch haben wir unsere Bank gewechselt. Die meisten haben das Gefühl: „Da ist was faul, aber ich will mich nicht damit beschäftigen, es ist mir alles zu kompliziert.“ Dabei ist es gar nicht so kompliziert. Man könnte das alles schon verstehen - wenn man denn wollte.  

Statt dessen richtet man sich lieber in seiner Angst ein und schimpft aufs System? 

Die Angst vor dem Daten- und Finanzsystem ist die Angst, von einem System verschlungen zu werden, dem man sich freiwillig ausgeliefert hat. Diese Situation bezeichne ich als Niemandsherrschaft, deren Paradox darin besteht, dass alle sich ihr unterwerfen. Die Stimmung des Anti-Kapitalismus führt zu nichts - und soll es auch nicht. Warum wird Sahra Wagenknecht in alle möglichen Talk-Runden geladen? Doch nicht, weil sie besonders schlaue Sachen sagen würde. Sondern weil sie dieser Stimmung Ausdruck verleiht.

Wie kann die Politik, ohne Ressentiments zu schüren, auf diese Stimmung der Angst reagieren?

Wir kennen zwei Varianten. Für die erste, die staatsmännische, steht Franklin D. Roosevelt, der in der Zeit der Großen Depression die Angst zum Thema der Politik gemacht hat. Er sagte den Amerikanern: „Ich wende mich an Euch, weil ich weiß, dass ihr Angst habt. Und schaut mich an: Ich bin jemand, der mit eurer Angst umgeht, das ist mein Delegat, mein Versprechen.“ Mit Roosevelt hat sich die moderne Politik in die Hand der Angst begeben: „The only thing we have to fear is fear itself.“

Und die zweite Variante?

Das ist die Politik der Amtsinhaberin. Angela Merkel würde nie über Ängste sprechen. Sie beschäftigt sich lieber mit den anstehenden Problemen und ihrer politischen Steuerung. Erfahrungen, die Angst auslösen könnten, werden von ihr systematisch ausgeklammert.

Immerhin, das wirkt beruhigend auf das Publikum.

Sicher, Angela Merkel ist eine hervorragende Politikerin für den Augenblick. Sie fährt „auf Sicht“, das heißt, sie verfolgt eine Politik, die es erlaubt, den Affekten Raum zu geben und sie beherrschbar zu machen. Damit punktet sie. Aber ein bisschen mehr staatsmännischer Mut wäre vielleicht angesagt. 

Finden Sie?

Denken Sie etwa an die hohen Erwartungen, die neuerdings an Deutschland gestellt werden. Da stelle ich fest: Die Deutschen haben Einflussangst. Es bereitet uns Unbehagen, dass unsere Nachbarn deutsche Antworten auf die Frage erwarten, wohin sich Europa und die Welt in den nächsten 20, 30 Jahren entwickeln sollen. Wir sind nicht darauf vorbereitet, dass wir uns politisch anders als reaktiv verhalten können. Denn wer Türen aufstoßen soll, muss von der Angst sprechen. Es gibt kein Jenseits der Angst. Nur wer Angst hat, hat auch Hoffnung. 

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