Der Kiefer von Joel B. Payne bewegt sich langsam auf und ab. Minutenlang. Er spitzt für ein paar Sekunden den Mund, beugt sich über einen Kübel und spuckt rote Flüssigkeit hinein. Dann nimmt er das nächste Glas. Kurz darauf bewegt sich der Kiefer erneut: auf und ab und auf und ab. Schließlich hackt er etwas in seinen Laptop.
Payne ist Chef des Weinführers „Gault Millau“; ein Mann, der die großen deutschen Weine auf ihre Qualität testet, bewertet und so deren Ruf maßgeblich mitbestimmt. Deswegen sitzt er an diesem Tag von morgens bis abends in der Wiesbadener Kurhalle. Vor sich sechs Gläser – fünf für Wein, eins für Wasser – und eben der Laptop.
Eingeladen hat die Verband der Prädikatsweingüter (VDP), ein Zusammenschluss von etwa 200 deutschen Weingütern aus den 13 deutschen Anbaugebieten. Sie stellen hier ihre besten Tropfen vor, die ausschließlich von sogenannten Großen Lagen stammen, den laut VDP besten Parzellen Deutschlands. 120 Weinjournalisten und -kritiker, Sommeliers und Einkäufer großer Handelshäuser sitzen an Tischen aufgereiht. Die Szenerie erinnert an die Klausur in einem Hörsaal, mit einem kleinen Unterschied: Geprüft werden nicht die anwesenden Personen, sondern 395 Weine.
Die Bewertung entscheidet zwischen Erfolg und Misserfolg
Doch da selbst der geschulteste Gaumen nicht mehr als fünf Tropfen unmittelbar hintereinander verträgt, erhalten alle Anwesenden zu Beginn einen Zettel. Darauf notieren sie, welche Weine sie gerne probieren wollen. Einige gehen nach Weinbergslagen vor, andere interessieren sich nur für bestimmte Produzenten. Helfer sammeln die Wunschlisten ein und kehren mit den geforderten Tropfen zurück. Die schütten sie nun in jeweils fünf Gläser vor den Testern, aber immer nur eine homöopathische Dosis.
Wo die Deutschen ihren Wein kaufen
Tankstellen, Restaurants, etc.
2012: 5%
2013: 5%
Absatzmengen von Wein in Deutschland nach Einkaufsstätten für die Jahre 2012 und 2013.
Fachhandel
2012: 7%
2013: 7%
Lebensmitteleinzelhandel (bis 1500 qm Ladenfläche)
2012: 12%
2013: 13%
Selbstbedienungswarenhäuser und Verbrauchermärkte
2012: 13%
2013: 13%
Winzer
2012: 15%
2013: 14%
Aldi
2012: 27%
2013: 26%
Discounter (mit Ausnahme Aldi)
2012: 27%
2013: 26%
Absatzmengen von Wein in Deutschland nach Einkaufsstätten für die Jahre 2012 und 2013
Quelle: GfK Consumer Scan
Payne lehnt sich entspannt zurück, schaut zur Seite und beginnt ein Gespräch mit seinen Nachbarn. Die Ruhe hat einen Grund: Er kennt sämtliche Weine bereits: „Wir sind heute nur hier, um unsere Benotungen ein weiteres Mal zu überprüfen“, sagt er.
Was so routiniert klingt, ist für die Winzer zwischen Bad Neuenahr und Birsfelden lebenswichtig. Die Meinung der Weinkritiker ist essenziell für Erfolg und Misserfolg der Tropfen. Denn am Ende der Verkostung vergeben sie eine Punktzahl. Und die entscheidet darüber, ob ein Wein sich gut verkauft oder im Regal verstaubt.
Am Ende zählen nur die Punkte
Gegründet wurde das Magazin „Gault Millau“ 1969 von den beiden französischen Journalisten Henri Gault und Christian Millau. 1983 erschien die erste deutsche Ausgabe für Restaurants, 1993 folgte der „WeinGuide Deutschland“. Beide erscheinen in Deutschland im Münchner Christian Verlag. Ist der „Gault Millau Weinguide“ die Fibel für den deutschen Markt, hat sich international noch eine weitere Bibel des guten Geschmacks etabliert: der „Wine Advocate“.
Wie man einen guten Tropfen benennt, ist Geschmackssache. Die einen sagen „nobel“ und „dicht fruchtig verwoben“, andere loben das „griffige Tannin“. Doch am Ende zählen meist doch nur die Punkte. Keine Debatte unter Weinliebhabern, keine Weinführer und keine Fachhändler kommen ohne die Erwähnung dieser einen Zahl aus.
Erst ab 70 Punkten ist ein Wein "trinkbar"
100 Punkte sind das Maximum, das nur wenigen Flaschen in der Welt vorbehalten ist – meist französischen Rotweinen von Gütern wie der Domaine Romanée-Conti oder Chateau Lafite-Rothschild. Als jüngst das deutsche Weingut Markus Molitor gleich für drei Weine des Jahrgangs 2013 die volle Punktzahl erhielt, herrschte Aufregung in den Internetforen und Facebook-Gruppen. Immerhin verlieh sie der „Wine Advocate“. Jene Publikation, die wie keine andere den Wert von Weinen in der Welt bestimmt.
Bei einem Frankreich-Aufenthalt entdeckte sein Gründer Robert M. Parker die Liebe zum Wein. Seit 1975 betreibt er die Weinkritik professionell. Parker revolutionierte das System. Vor seiner Zeit konnte ein Wein maximal 20 Punkte bekommen. Er entschied sich jedoch, bis zu 100 Punkte zu vergeben. Warum? Die Zahl 100 entfalte eine besondere Wirkung, selbst diejenigen, die keine Ahnung von Wein haben, erkennen: Mehr geht nicht.
Kostenlose Wein-Apps
Für wen? Für ratlose Weintrinker vor dem Supermarktregal
Für welche Geräte? iPhone/iPad, Android-Geräte
Für wen? Für Menschen, die den passenden Wein zum Essen (oder andersherum) suchen
Für welche Geräte? iPhone/iPad, Android-Geräte
Für wen? Für alle, die ein umfangreiches Nachschlagewerk auf dem Smartphone haben möchten
Geräte: iPhone/iPad
Für wen? Ehrgeizige Weintrinker, die ihr Wissen festigen möchten
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Für wen? Hobby-Weintrinker, die ihre Geschmackseindrücke festhalten möchten
Geräte: iPhone/iPad, Android-Geräte
Für wen? Menschen, die sich mit Freunden und anderen Weintrinkern austauschen wollen
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Für wen? Sammler, die den Überblick über ihren Weinkeller behalten wollen
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Für wen? Weintrinker, die sich nach biodynamischen Grundsätzen orientieren – oder einfach einen passenden Grund für einen Wein tagsüber suchen
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Verwendet werden allerdings auch von ihm nur die oberen 50 der Skala. Doch selbst Weine mit einer Punktzahl zwischen 50 und 59, so erklärt Parker auf seiner Homepage, seien „inakzeptabel“, die bis 69 „fehlerhaft“ und erst mit 70 Punkten und mehr ist ein Wein zumindest trinkbar. Ende 2012 verkaufte Parker die Mehrheit seines Unternehmens für einen unbekannten Preis an Investoren aus Singapur und beschränkt sich auf die Bewertung weniger Weine. Seitdem liegt die Verantwortung in den Händen und Gaumen von acht internationalen Testern, die sich die einzelnen Weinregionen untereinander aufteilen und in Videokonferenzen die Tests planen.
Einer von ihnen ist Stephan Reinhardt. Er scheut Massenverkostungen wie in Wiesbaden, sondern ist bei Bewertungen am liebsten allein. Dann sitzt er in seinem Büro an einem Tisch, vor sich eine Armada an Flaschen, ein Weinglas, Spucknapf und ein Notebook, in das er Notizen eintippt. Seit Juli 2014 degustiert, bewertet und beschreibt er für den „Wine Advocate“. Die interessantesten Weine testet er ein zweites Mal sieben bis acht Wochen später, um die ersten Eindrücke zu überprüfen.
In den USA ist Wein ohne Parkerpunkte unverkäuflich
Reinhardt verantwortet die Gebiete Deutschland, Schweiz, Österreich, Elsass, Champagne und Loire – zusammen eine Fläche von mehr als 300.000 Hektar. Mindestens 3500 Weine im Jahr verkostet er für den „Wine Advocate“. Wichtig sei, dass die Tester sich in den jeweiligen Gebieten auskennen. Manchmal bitten ihn Winzer, nicht getestete Jahrgänge nachzubewerten – weil sie vor allem in den USA ohne Parker-Punkte nahezu unverkäuflich sind. Frankreich hingegen hege noch immer Ressentiments gegenüber den Testmethoden des Amerikaners Parker.
Der gebürtige US-Amerikaner Joel Payne hat es da bei seiner Aufgabe für den „Gault Millau“ in Deutschland leichter. Der Verlag fordert jährlich mehr als 1000 Weingüter dazu auf, ihre Flaschen einzusenden. Darunter sind einfache Gutsweine in der Ein-Liter-Flasche ebenso wie süße Edelauslesen. Bis zu fünf Mal werden einzelne Weine binnen einiger Monate verkostet. Der Feinschliff folgt bei der Präsentation in Wiesbaden. Insgesamt bewerten in diesem Jahr 15 Tester die Qualität von 11 475 Weinen – und geben damit häufig ungewollt Kaufempfehlungen. Denn klar ist: Was im „Gault Millau“ empfohlen wird, verkauft sich deutlich besser. Kein Wunder, dass die Macht der Punkte als Marketinginstrument es längst bis in die Regale deutscher Discounter geschafft hat.
Auch bei Lidl regieren die Punkte
Lidl bietet seit 2014 neben seinem Standardprogramm auch gehobene Weine an. Im Onlineshop gibt es sogar Flaschen, die mehr als 100 Euro das Stück kosten. Wer eine Filiale betritt, stößt bei den Weinflaschen zwangsläufig auf das freundliche Gesicht von Richard Bampfield.
Der Brite ist einer von 340 Masters of Wine weltweit – und damit Mitglied einer illustren Runde von Weinexperten, die sich jahrelang auf die Prüfungen vorbereiten. Bampfield arbeitete zunächst für Lidl Irland, später auch für Großbritannien. Dann wurde er gefragt, ob er auch die Weine für den deutschen Markt bewerten wolle. Er wollte. Nun erhält er regelmäßig Pakete nach Hause geliefert, denn dort testet er die Weine am liebsten. In einem hellen Raum mit Tageslicht und Frischluft sitzt er dann, das Notizbuch in der Hand: „Nur wenn es sehr viele auf einen Schlag sind, reise ich dafür nach Deutschland.“
800 bis 1000 Weine pro Jahr bewertet Bampfield für Lidl. Nicht immer gefällt seinem Auftraggeber sein Urteil. Denn die Weine, die Bampfield verkostet, wurden vom Discounter bereits gekauft: „Wenn ein Wein fehlerhaft oder an der Grenze dazu ist, dann geht Lidl zum Produzenten und verhandelt neu. Wenn ein Wein nur einfach eine nicht so tolle Punktzahl erreicht – dann ist das Pech“, sagt Bampfield.
Guter Wein beginnt für Bampfield bei 80 Punkten: „Das sind Weine, an denen nichts schlecht ist, und ich empfehle sie gern.“ Erst ab 85 Punkten aber wird es für ihn interessant: „Das sind die Weine, die ein wenig mehr bieten, als ich erwarte, die einen Aspekt mitbringen, der sie aus der Masse heraushebt.“ Die Punktzahl jedoch ist allein nur bedingt hilfreich, das weiß auch Bampfield: „Wenn ein Wein 80 Punkte hat und sehr teuer ist, dann sieht das nicht gut aus.“
"Es wird insgesamt viel zu hoch bewertet"
Es gilt: Augen auf beim Punktekauf – findet auch Marcus Hofschuster. Er ist Cheftester des Onlineportals wein-plus.eu. Die Abonnenten bekommen laufend neue Bewertungen von Hofschuster zu Weinen aus aller Welt. Der Onlinetester ist zurückhaltend mit der Vergabe der Punkte: „Es wird insgesamt viel zu hoch bewertet.“ Schuld daran seien die Publikationen, die mit hohen Punkten großzügig sind, damit sie wahrgenommen werden. Und die Käufer, die Weine nur nach Punkten auswählen, weil sie ihrem Geschmack nicht trauen.
„Man verarscht die Leute“, sagt Hofschuster. Einfache Allerweltsweine würden mit 90 und mehr Punkten versehen. Hofschuster bemüht sich daher umso mehr um Objektivität und genaue Beschreibungen. „Ich bewerte auch Weine hoch, die mir gar nicht schmecken, oder Weine niedrig, die ich gerne trinke“, sagt Hofschuster.
Dabei kann die Sache mit dem Wein für den Kunden ganz einfach sein: Er sieht Punkte als Orientierungshilfe und nicht als Gesetz, denn gut ist, was ihm schmeckt.