Romantik in Zeiten der Digitalisierung Der Boom der Balzapps schadet dem Flirt

Kuppeltechniken von Singlebörsen und Apps verderben den Flirt. Erinnerungen an eine Umgangsform, die das Leben erst lebenswert macht.

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Ein küssendes Paar Quelle: dpa

Aller Anfang ist leicht, wenn man sich auf Harmlosigkeiten versteht. So wie der Urlauber auf der Promenade von Jalta am Schwarzen Meer, dem die Dame mit dem Hündchen aufgefallen ist, schon seit Tagen: eine mittelgroße Blondine, hinter ihr ein weißer Spitz. Eines Abends nähert sie sich in aller Ruhe dem Café im Stadtgarten, um sich an den Nebentisch zu setzen, drei Schritte entfernt von ihm. Was tun?

Die Dame gefällt ihm. Also lockt er den Spitz, schmeichelt ihm, droht ihm mit dem Finger, sodass er knurrt und die Dame dem Herrn am Nebentisch einen Blick zuwirft, aber gleich wieder die Augen senkt.

„Er beißt nicht“, sagt sie, wohl wissend, dass das ihr Nachbar auch selbst weiß.

„Darf man ihm einen Knochen geben?“, fragt er scheinbar arglos, worauf sie nickt und er liebenswürdig, als wüsste er die Antwort nicht schon längst, die banalste aller banalen Fragen stellt: „Sind Sie schon länger in Jalta?“

Eroberung oder Schwebezustand, alles ist möglich

So beginnt der russische Schriftsteller Anton Tschechow, der Großmeister des Zwischenmenschlichen, seine wunderbar leichte Urlaubserzählung von der „Dame mit dem Hündchen“: Als scherzhaftes Getändel zweier Menschen, denen es vollkommen einerlei ist, worüber sie plaudern – mit einem Flirt, der sich noch nicht entscheiden kann, ob er Ouvertüre bleiben will, dauerndes Spiel, charmanter Unernst. Oder ob er doch schon auf Umwegen ins Herz der Dame zielt. Beides ist möglich. Der Charakter des Flirts ist doppelbödig. Er changiert zwischen Umweg und Ziel. Er kann reiner Schwebezustand sein, ein Genuss um seiner selbst willen – oder aber eine lustvoll-charmante Strategie der Eroberung.

Die zehn erfolgreichsten Flirt-Tipps

Die moderne Ratgeberliteratur kennt im Gegensatz zu Tschechow nur noch die zweite Spielart des Flirts. Damit indessen hat sie ihn zu einer bloßen Technik des Kennenlernens, zur Anleitung des angstfreien Anbaggerns degradiert. Keine Spur mehr von der Dimension des Flirts als „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“, wie es der Philosoph Immanuel Kant einst ausdrückte. Stattdessen versprechen Flirtkurse den „kurzen Weg zum langen Glück“ und raten, dümmer noch, zur „ehrlichen Verführung“: „Sei ganz natürlich und einfach du selbst!“ Ähnlich argumentieren vermeintliche Verführungskünstler, die als Pick-Up Artists durch die Lande ziehen und schüchternen, balzbereiten Männern flotte Anmachsprüche für die abendliche Jagd beibringen.

Lauter Missverständnisse, die allerdings den Zeitgeist auf ihrer Seite wissen – die Heilsversprechen von Authentizität und Effizienz. Kein Wunder, dass die Romantik des Flirts, dieses leichtsinnig-flatterhaften Spiels, wie die Grande Passion und die Liebe auf den ersten Blick aus der Mode gekommen scheint.

Schon seit Längerem. „Sind das nicht die Ekstasen und Frivolitäten von gestern?“, fragte die Literaturwissenschaftlerin Ursula Keller bereits Anfang der Neunzigerjahre.

Die populärsten Irrtümer über die Liebe
Eine Frau zerreißt ihr Hochzeitsfoto Quelle: dpa
Liebe auf den ersten BlickGerade im Frühling spannt Amor seinen Bogen und zielt auf Männlein und Weiblein. Trifft er, entflammen die Herzen der Getroffenen und sie leben ab da glücklich bis an ihr Lebensende. So zumindest der Volksmund. Alles Blödsinn, sagt dagegen die Wissenschaft. Die Liebe auf den ersten Blick ist eine Erfindung Hollywoods, schreibt Christian Thiel, Autor des Buches „Wieso Frauen immer Sex wollen und Männer immer Kopfschmerzen haben “. Das, was wir für Liebe auf den ersten Blick halten, ist nur eine Mischung aus erotischer Anziehung und dem schönen Gefühl, begehrt zu werden. Es handelt sich also um Erotik auf den ersten Blick. Quelle: obs
Sozialer aufstieg durch Heirat Quelle: dpa
Immer mehr Singles Quelle: dpa
Rollenverteilung beim FlirtenBeim Flirten oder der Partnersuche ist der Mann der Jäger und die Frau das Wild, das es zu erlegen gilt, so zumindest die landläufige Meinung. Dabei wählen Männer ihre Beute nicht aus, sie werden ausgewählt, wie Paarberater und Buchautor Christian Thiel schreibt. Frauen werben um Männer mit nonverbalen Signalen und machen so den ersten Schritt: Sie schauen ihn an, lächeln ihm zu und signalisieren ihm somit, dass er sie ansprechen darf beziehungsweise soll. Folgt er der Aufforderung, macht er damit den zweiten Schritt. Quelle: dpa
Schönheit ist Trumpf Quelle: dpa
Beziehungen sind harte ArbeitHat man sich dann endlich gefunden, bleibt die Beziehung nur bestehen, wenn man viel harte Arbeit investiert. Beziehungsarbeit eben. Sie besteht aus quälend langen Beziehungsgesprächen, die der Partnerschaft gut tun sollen. Single- und Partnerschaftsberater Thiel hält davon gar nichts. Statt stundenlang darüber zu diskutieren, wie die Partnerschaft besser zu machen ist, sollten sich Partner lieber miteinander beschäftigen und die gemeinsame Zeit miteinander genießen. Eine Stunde kuscheln macht nämlich glücklicher als vier Stunden diskutieren. Und glückliche Partner bleiben auch länger zusammen. Quelle: Fotolia

Die Generation, die zur Sache kommt

Spielen wir noch das „immer-gleiche Spiel“ von „Versprechen und Verweigern“, nur anders, seit es in die Hände der „Therapeuten und Sozialtechniker“ geraten ist? Verhalten wir uns aufgeklärter, kontrollierter, direkter, ohne die „Lust an den durchschauten Maskeraden des Begehrens“, am „Vor und Zurück von Verbergen und Enthüllen“?

In die „Geschichte der erotischen Kultur“, so Kellers niederschmetternder Befund, werden wir eingehen als die „Generation, die zur Sache kommt“; die an die Stelle der verschämten Avancen das „forsche, schnörkellose ‚geradezu‘ “ setzt – die Anmache, das „freimütige Beischlafangebot“.

Als Verführungstaktiken, schrieb Keller, stünden uns heute eine Reihe von Waffen zur Verfügung: „Das kurze Abchecken persönlicher Daten; die offenherzige Führung durch die eigene Problemlandschaft; die kleine Inventur der Neurosen; und als virtuose Krönung des Flirts die knappe Frage: Zu dir oder zu mir?“

"It's a match"

Was würde unsere Kulturkritikerin, die den Flirt hier so wortreich beerdigt, wohl zum Boom der elektronischen Partnerbörsen sagen oder zum Siegeszug von Tinder? Die Dating-App, die inzwischen weltweit angeblich rund 30 Millionen mutmaßlich paarungswillige Nutzer zählt – davon allein zwei Millionen in Deutschland –, zaubert via Facebook die wichtigsten Daten aufs Display: Alter, Geschlecht und vor allem Fotos.

Eine Großgalerie von Gesichtern, ein Supermenü von potenziellen Partnern. Der Suchradius: zwischen 2 und 160 Kilometern. Der Auswahlmodus: Nach links gewischt heißt „Tschüss“, nach rechts gewischt „Willkommen“.

Hurra!

„Wir haben die Angst vor Zurückweisung abgeschafft“, frohlockte Tinder-Gründer Sean Rad vor wenigen Monaten. Der Mutterkonzern Match.com, zu dem auch das US-Dating-Portal OKCupid und die deutschen Pendants Neu.de, Friendscout und Partner.de gehören, bereitet mittlerweile einen Börsengang vor.

So funkt es auch im Netz
Foto facebook-Startseite Quelle: REUTERS
Foto "Wer bin ich?"
Foto screenshot Log-in
Foto Modelleisenbahnen Quelle: dpa/dpaweb
Foto Duden Quelle: obs
Foto lachender Mann, lachende Frau Quelle: obs
Foto einer Statue der Justitia Quelle: dpa

Der Flirt freilich bleibt als Kollateralschaden auf der Strecke. Bei Tinder gibt es nur Sieger. Vorerst zumindest: Treffen sich zwei Nutzer in ihren Vorlieben, leuchtet die Frohbotschaft „It’s a match“. Die muss dann freilich noch in der analogen Wirklichkeit bestätigt werden, durch ein Treffen in der Kneipe oder gleich zu Hause, inklusive der Möglichkeit einer nachträglichen Abfuhr.

Keine Romantik, nur zielführende Suche

Nun ist dieses Verfahren schon ziemlich straff organisiert. Dating-Portalen wie Unverblümt.de mit Hauptsitz im beschaulichen München ist es trotzdem noch viel zu vage. Vor allem: zu zeitraubend.

Die „optimale Plattform zum Verlieben“ will „ernsthaft Suchende, besonders Frauen im Kinderwunsch-Alter mit schrumpfendem Zeitkonto“ an den Mann bringen. Es gibt keine sexy Fotos zum „hin und her wischen“, keine romantischen Tagträumereien, sondern „echte, ehrliche, tiefgründige und zielführende Partnersuche“.

Das Motto setzt auf Beschleunigung: „Mit der unverblümten Wahrheit als Turbo schneller zum Ziel.“ Im Sinne der Kosten-Nutzen-Balance ein durchaus effizientes Verfahren, auch wenn Nieten damit nicht ausgeschlossen sind.

Die israelische Soziologin Eva Illouz spricht angesichts solcher ausgeklügelten Techniken der digitalen Partnersuche treffend von einer „Rationalisierung der Liebe“: Das Internet arrangiere die Auswahl „wie auf einem Büffet“, es lade zu einer „Form der Wahl ein, die aus der ökonomischen Sphäre abgeleitet ist“.

Nach dieser Zeit erwarten Singles eine Antwort beim Mobile-Dating

Was traditionell zur Sprache der Liebe gehöre – Mehrdeutigkeit, Verspieltheit, Ungewissheit, verschleierter Sprachgebrauch und Transzendenz – werde durch die digitalen „Technologien der Wahl untergraben“. Der „Geist der Berechnung“ macht sich breit: Man vergleicht zwischen alternativen Angeboten und entscheidet sich für das „beste Angebot“.

Menschen flirten immer

Schlechte Zeiten also für den klassischen Flirt? Natürlich war früher alles vermeintlich viel besser. Zum Beispiel im galanten Zeitalter Mitte des 18. Jahrhunderts, als der Komödiendichter Pierre Carlet de Marivaux die schlaue Flirtdevise ausgab: „Halte die Menschen stets im Ungewissen, wiege sie nie in Sicherheit.“ Das, glaubte der Poet, steigere garantiert die Attraktivität.

Oder im klassischen Hollywood-Film in den Vierzigerjahren, als Lauren Bacall in Howard Hawks’ Hemingway-Verfilmung „Haben und Nichthaben“ lässig im Türrahmen lehnte. Im „spitzesten aller Winkel von schräg unten nach oben links“ (Ursula Keller) blickte sie direkt in die Augen von Humphrey Bogart, mit einem relativ banalen Ansinnen: Sie wollte um Feuer bitten.

Oder in den Filmen des französischen Regisseurs Eric Rohmer, etwa in „Claires Knie“ (1970), „Pauline am Strand“ (1980) oder „Das grüne Leuchten“ (1986), in denen die Sommerferien nie enden wollen; das Dauer-Parlando des Flirts geht ewig weiter.

Trotzdem, sind Nachrufe auf den Flirt verfrüht? Auch heute noch kann kein Ratgeber und keine Partnerbörse sein Geheimnis tatsächlich entzaubern. Fragt man die Verhaltensforscher, so heißt die Antwort: Menschen flirten immer, ihr evolutionäres Erbe programmiert sie auf Paarungsbereitschaft.

Es muss eine harmonische Spannung bleiben

Der Wiener Evolutionsbiologe Karl Grammer ist dem Phänomen mit akademischer Akkuratesse auf den Grund gegangen, durch Beobachtungen im Experiment. „Signale der Liebe“ heißt sein Hauptwerk, in dem er mit einem verbreiteten Vorurteil aufräumt: Es sind in der Regel nicht die Männer, sondern die Frauen, die beim Flirt den ersten Schritt machen.

Da genügt es oft schon, dass sie sich in der Nähe der „Zielperson“ aufhalten, am Kaffeeautomaten oder am Nebentisch – siehe Tschechow –, um beim Mann erotische Unternehmungslust und „Sprache“ zu „produzieren“.

Ansonsten sind Mimik und Gestik, also nicht sprachliche Signale, bewährte Lockmittel und Instrumente weiblicher Wahl: Ein freundlicher, interessierter Blick, ein Heben der Brauen, ein verstohlenes Lächeln, ein Schräglegen des Kopfs, ein freundliches Nicken signalisieren Aufmerksamkeit. Zugleich aber, und darin besteht der subtile Charme, lassen sie offen, ob mehr daraus wird – und wenn ja, was.

Flirten lässt immer Rückzugsmöglichkeiten

Das bedeutet aber auch, dass die harmonische Spannung zwischen Spiel und Ernst unaufgelöst bleibt, ja bleiben muss. Zwar ist der Fluchtpunkt jedes Flirts das Interesse an Sex, genauer: an sexueller Reproduktion. Doch das heißt noch lange nicht, dass Sex in jedem Fall beabsichtigt ist. Es kann auch Spaß machen, bloß so zu tun – auch bei Menschen, an denen wir gar kein sexuelles Interesse haben. Ein geschickter Spielzug kann selbstbelohnend wirken, auch wenn das Ziel im Dunkeln bleibt.

Flirtforscher Grammer spricht treffend von „Grauzonen unseres Verhaltens“: Der Flirter verschleiert systematisch seine Absichten. Mehr noch: Er zeigt ein Verhalten, das für sich genommen gar nicht als Flirt identifizierbar ist. Deshalb kann die Flirtabsicht auch jederzeit dementiert werden. Damit verbleiben wenigstens Rückzugsmöglichkeiten, falls es die Situation erfordert.

Wie bei der Ironie sagt der Flirter dann das Gegenteil davon, was er eigentlich sagen will. Er wendet sich „zufällig“ einer anderen Frau zu als der, auf die er es tatsächlich abgesehen hat. Darin, so Grammer, liegt die Essenz des Flirts: Er changiert zwischen Zufall und zielgerichteter Handlung, ist zweideutig bis zur Selbstverneinung, bis in die Feinheiten der Mimik hinein. Ähnlich ist es beim Lächeln, das mit gleichzeitiger Blickvermeidung einhergeht. Stets lenkt der Flirt von seinen Absichten ab, kommuniziert indirekt, spielt mit verdeckten Karten, tut so, als sei er gar nicht das, wofür man ihn hält.

Ein Machtspiel mit ungewissem Ausgang

Es ist daher kein Zufall, dass der Flirt, so flüchtig, beiläufig und unverfänglich er daherkommt, besonders in Situationen des Unterwegsseins gelingt, zum Beispiel im Zugabteil. Der Soziologe Tilman Allert spricht von der „Logik der Reisebekanntschaft“. Entscheidend für die Kontaktanbahnung sei das „gegenseitige Interesse bei gleichzeitiger Unverbindlichkeit“, die „antizipierte Folgenlosigkeit“. Sie beflügelt die Fantasie, auch die Selbstdarstellungsbereitschaft. Weil wir unseren Gesprächspartner, anders als im Büro, mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht wiedersehen werden, können wir uns gefahrlos auf ein Geplauder einlassen, das womöglich zum Flirt wird. Seine Voraussetzung ist Fluidität.

Gerade das „In-Between“ der Passage, die wir, wie Allert sagt, als eine „Auszeit des Lebens wahrnehmen“, weckt unsere Unternehmungslust. „Beim Flirt“, so Allert, „spielen beide Seiten mit Selbstdarstellungsoptionen, aber diese Optionen sind nicht grenzenlos. Der Flirt impliziert wenigstens die Möglichkeit, die Eventualität des Ernstfalls“ – das kleine Vielleicht.

Genau das hat der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel gemeint. Der große Erforscher des modernen Lebens beschrieb den Flirt als die Gleichzeitigkeit von Ja und Nein, von Haben und Nichthaben, von Zuwendung und Wegwendung, von Sich-Geben und Sich-Zurücknehmen. Am Beispiel weiblicher Koketterie zeigte er, dass man sich dem Reiz dieses Spiels überlassen kann, ohne wünschen oder fürchten zu müssen, dass der „einmal begonnene Weg“ auch zum definitiven Ziel führt.

Aber Simmel entdeckte gleichzeitig noch etwas anderes. Hinter dem Flirt verbirgt sich in Wahrheit gleichzeitig ein Machtspiel mit offenem Ausgang. Man könnte auch sagen: eine Provokation. „Vielleicht kannst du mich erobern“, will die Flirtende uns sagen, „vielleicht nicht – versuche es!“

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