Die Anrufe begannen vor mehr als einem Jahr. Seitdem klingelt das Telefon von Peter-Josef Schütz im rheinland-pfälzischen Lantershofen öfter. Am anderen Ende der Leitung: Hipster aus Köln, Düsseldorf oder einer anderen deutschen Stadt, die aufgeregt auf den Brennmeister einreden. Sie hätten da eine abgefahrene Idee, die sie gerne mal mit ihm besprechen würden. Schütz, der mit seiner Halbglatze, der randlosen Brille und dem korrekt gebügelten Hemd wie ein CDU-Lokalpolitiker aussieht, ist aber nicht so der Typ fürs Abgefahrene. Deshalb legt er meist nach wenigen Augenblicken einfach auf.
Doch einmal machte er eine Ausnahme. Als sich einer der Hipster als besonders hartnäckig herausstellte. Er belästigte Schütz nicht nur am Telefon, sondern auch per E-Mail mit seiner Schnapsidee. Das beeindruckte Schütz, der seit 23 Jahren die Brennerei seines Großvaters führt und zu den besten Destillateuren Deutschlands zählt. Deshalb lud er Raphael Vollmar und seinen Kumpel Gerald Koenen ein, ihn zu besuchen. Kurz darauf, an einem Mittwochmorgen um acht Uhr, bretterten der Geschäftsführer eines Bonner Luxuskaufhauses Vollmar und der Café-Betreiber Koenen mit ihrem weißen Smart in die mit historischem Kopfsteinpflaster bestückte Einfahrt der Eifel-Destillerie Schütz. Obwohl die beiden mit ihren großen Brillen, Bärten und goldfarbenen Turnschuhen so gar nicht nach Lantershofen passten, mochten sich die drei sofort.
Bester Gin Deutschlands
Seit diesem Treffen ist viel passiert. Aus Peter-Josef ist für Vollmar und Koenen „Pi-Jay“ geworden. Und aus der Schnapsidee ein einträgliches Geschäft. Mittlerweile steht der Gin des Trios in den Regalen bei Kaufhof und Edeka, in hippen Bars und alteingesessenen Fachgeschäften. 6000 Flaschen Siegfried Gin füllt Schütz jeden Monat ab, Tendenz steigend. Der bisherige Höhepunkt: Ihr Schnaps wurde Anfang des Jahres bei dem „World Spirits Award“ zum besten Gin Deutschlands gewählt. Siegfried aus Bonn räumte 95,7 Punkte ab – Rekord.
Deutschlands beliebteste Spirituosen
Kräuterliköre (zum Beispiel Jägermeister)
2013: 12,2 Prozent
2014: 11,7 Prozent
Quelle: VuMA / Statista
Diese Statistik zeigt das Ergebnis einer Umfrage in Deutschland zu den beliebtesten Spirituosen in den Jahren 2013 und 2014. Die Zahl gibt an, wieviel Prozent der deutschsprachigen Bevölkerung ab 14 Jahre mindestens einmal pro Monat eine bestimmte Spirituosenart tranken.
Cream-, Sahnelikör
2013: 9,9 Prozent
2014: 9,7 Prozent
Magenbitter (zum Beispiel Underberg, Fernet)
2013: 9,6 Prozent
2014: 9,9 Prozent
Wodka
2013: 9 Prozent
2014: 9 Prozent
Halbbitter (zum Beispiel Ramazotti, Averna)
2013: 8,8 Prozent
2014: 9,3 Prozent
Obstbrände
2013: 8,5 Prozent
2014: 8,4 Prozent
Eierlikör
2013: 7,7 Prozent
2014: 7,3 Prozent
Korn, Doppelkorn
2013: 7,4 Prozent
2014: 7,3 Prozent
Whiskey
2013: 7 Prozent
2014: 7 Prozent
Weinbrand
2013: 6,7 Prozent
2014: 6,8 Prozent
Trinker, die etwas auf sich halten, greifen schon lange nicht mehr zum industriegefertigten Wodka von Absolut oder Gorbatschow. Für sie muss es schon mindestens polnischer Roggen-Wodka sein. Neuerdings darf es auch gerne ein deutsches Destillat sein. Ob Gin aus Bonn, München oder Hamburg, Whisky aus dem oberbayrischen Schliersee oder Wodka aus Berlin: Die heimischen Brennereien haben längst mehr zu bieten als lauwarmen Underberg oder scharfen Nordhäuser Doppelkorn. Ganz im Gegenteil – entdecken sie doch gerade die große weite Welt für sich. Dabei setzen sie, politisch korrekt, auf regionale Zutaten, kurze Lieferketten und vor allem: Handwerk.
„Das Selbstgemachte erlebt gerade eine Renaissance“, sagt Cathrin Brandes, die mit ihrer Agentur Händler, Gastronomen und Produzenten zu Trends in der Nahrungsmittelindustrie berät. Das begann bei Bäckern und Metzgern – und greift nun auch auf den Markt für alkoholische Getränke über. Die Menschen interessieren sich wieder mehr dafür, wo ihr Essen, wo ihre Genussmittel herkommen. Und vor allem dafür, wer es gemacht hat.
Schöne neue Trinkwelt
„Craft Spirits profitieren vom Trend zum Individuellen“, sagt Brandes. Wobei sie zugeben muss: Diese Schnäpse schmecken nicht jedem, man erkennt immer auch die Handschrift des Brenners. Und das muss auch so sein, denn: Massengeschmack ist das Kennzeichen der industriell hergestellten Genussmittel, im Handwerk lebe das Einzigartige.
Zwar sinkt der durchschnittliche Schnaps-Konsum der Bundesbürger seit Jahren – 1980 lag der Pro-Kopf-Verbrauch bei acht Liter, 2013 nur noch bei 5,5 Liter jährlich. Doch das geht vor allem auf den sinkenden Absatz einiger Sorten zurück. Ein Pinnchen Korn trinkt kaum noch jemand. Gin Tonic, Wodka Lemon und Whiskey Sour können das noch nicht ausgleichen.
Hinzu kommt: Die Konsumenten kaufen zwar weniger, aber hochwertiger. „Früher hatte jeder Haushalt irgendeinen Korn im Schrank, aber eben auch nur irgendeinen“, sagt Brandes, die ein Buch über die neue Schnaps-Bewegung geschrieben hat.
„Heute sind die Flaschen in der Hausbar auch Statussymbol, für die der Liebhaber gerne etwas mehr hinblättert“, sagt Brandes. Kostet eine Flasche des industriegefertigten Gordon’s Gin rund zehn Euro, zahlt man für den halben Liter des mit Lindenblüten versetzten Siegfried Gin knapp 30 Euro.
Teuer, aber gut
Das gleiche Phänomen zeigte sich auch beim Craft Beer. Deutlich teurer als ein Beck’s, kauften es die Menschen trotzdem. Gerade in den Vereinigten Staaten hat sich der Verkauf von Gerstensaft aus unabhängigen Brauereien zu einem eigenen kleinen Industriezweig entwickelt.
Laut amerikanischem Branchenverband gibt es mittlerweile mehr als 3400 Mikrobrauereien in den USA. Im vergangenen Jahr hatten sie einen Marktanteil von elf Prozent. Zum Vergleich: 2002 lag er noch bei etwas mehr als zwei Prozent. Auch hierzulande ist der Durst auf Selbstgebrautes groß: 677 kleine Brauereien zählte der Verband der europäischen Brauwirtschaft zuletzt.
Dass sich mit ungewöhnlichen Spirituosen Geld verdienen lässt, muss man Betriebswirt Anton Stetter nicht erzählen. Sechs Millionen Euro setzten er und sein Bruder Florian mit ihrem bayrischen „Slyrs Whisky“ im vergangenem Jahr um. Die beiden Brüder gehören zu den Craft-Spirits-Pionieren. Destillateur-Meister Florian Stetter kehrte bereits Ende der Neunzigerjahre aus dem Schottland-Urlaub mit einer Idee im Gepäck nach Hause ins oberbayrische Schliersee zurück: ein eigener Whisky sollte es sein. Bruder Anton war sofort begeistert, die Banken weniger. „Heute würde man sagen, wir haben Crowdfunding betrieben“, sagt er. „Aber eigentlich haben wir nur unsere Bekannten dazu gebracht, in unsere Idee zu investieren.“
Kurz darauf bauten die beiden Brüder, die damals schon die alte Obst-Destillerie ihres Großvaters führten, ihre eigene Whisky-Brennerei. Bis heute werden nur Zutaten aus der Region verwendet – Quellwasser und bayrischer Malz. Mittlerweile produzieren sie rund 100.000 Flaschen pro Jahr. Und sie expandieren fleißig. Neben zahlreichen Sondereditionen, die vor allem unter Sammlern beliebt sind, bringen die Brüder im Herbst eine neue Sorte heraus: 51 Prozent soll er heißen. Eine extra starke Spirituose für den nordchinesischen Markt. 15 Prozent des Umsatzes erwirtschaften die Stetters dort schon.
Den Höhepunkt noch nicht erreicht
Mit ihrem Schnaps haben die beiden Oberbayern eine erfolgreiche Nische gefunden. Der Whisky-Absatz entwickelt sich seit Jahren prächtig. Laut Bundesverband der Deutschen Spirituosen-Industrie und -Importeure kaufen sechs Millionen Deutsche regelmäßig flüssiges Gold. 2003 wurden in Deutschland rund 47 Millionen Flaschen getrunken, 2013 waren es schon 72 Millionen. Das rief einige Nachahmer auf den Plan: Gab es vor zehn Jahren nur 20 deutsche Destillerien, zählt der Verband Deutscher Whiskybrenner heute bereits 150. „Den Höhepunkt haben wir noch nicht erreicht, da wird noch mehr kommen“, sagt Trendforscherin Brandes.
Prost, Berlin!
Das Epizentrum des Trends zum Selbstgebrannten befindet sich rund 650 Kilometer weiter nordöstlich vom Schliersee. In Berlin, Geburtsstätte alles Hippen und Neuen, findet bereits seit vier Jahren das Craft Spirits Festival statt. Außerdem ist die Dichte an kleinen Brennereien nirgendwo in Deutschland so hoch wie in der Hauptstadt.
Marc Fritsch unterhält eine von ihnen. Eigentlich berät der Marketingfachmann große und kleine Plattenlabels. Vor zehn Jahren jedoch, setzte er zusätzlich noch auf seine eigene Wodka-Marke. Auf die Idee kam Fritsch, als er sich mit einem Nachfahren der alten Brennerei-Dynastie Meisner unterhielt. Es gebe da ein altes Familienrezept für einen Wodka, der schon 1921 in Berlin hergestellt wurde. Fritsch war neugierig und wollte den wiederentdeckten Wodka probieren. Das Originalrezept schmeckte ihm „noch nicht rund genug“. Deswegen tüftelte er gemeinsam mit dem Brennmeister rum. Heute wird Held Vodka zwar nach alter Rezeptur hergestellt, schmeckt aber durch die dreifache Destillierung deutlich weicher als damals, in den wilden Zwanzigerjahren.
Mit den ersten 100 Flaschen zog Fritsch von Bar zu Händler, aber auch auf Partys von befreundeten Künstlern aus der Elektroszene. Schnaps und Musik – seit jeher eine Kombination, die funktioniert. Schnell entwickelte sich der Wodka, der in einer kleinen Destillerie im Berliner Umland abgefüllt wird, zum Liebling der Musikszene. Neulich, beim Rock-am-Ring-Festival Anfang Juni, wurde er den Künstlern exklusiv im Backstage-Bereich angeboten. Mittlerweile setzt Held Vodka rund 50.000 Flaschen im Jahr um.
Zurück in Lantershofen. An einem warmen Vormittag Anfang Juli sickern die letzten Tropfen Siegfried Gin durch den Hals der klaren Apotheker-Flasche. Eine rotwangige Mitarbeiterin verschließt das Gefäß mit einem hellen Holzstöpsel. Anschließend lädt das Trio ein paar der frisch verpackten Sechser-Paletten in den Smart. Vollmar und Koenen müssen sich beeilen, sie haben später noch einen Termin bei Marian Krause, einem der bekanntesten Barkeeper Deutschlands. Er will den Gin testen, vielleicht nimmt er ihn ins Sortiment auf. Der nächste Ritterschlag für den von der Nibelungensaga inspirierten Siegfried Gin. Doch erst wird noch einmal angestoßen – auf den erfolgreichen Tag. Vollmar, Koenen und Schütz nehmen einen winzigen Schluck und schließen die Augen. Wie gut, dass der Destillateur-Meister nicht sofort auflegte.