Schwarmforschung Was wir von Tieren lernen können

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Die Intelligenz des Schwarms

In der Vergangenheit hatten einige Gruppierungen verboten, das Steinigungsritual vor dem Mittagsgebet durchzuführen, doch in diesem Jahr hatten die Pilger schon am Morgen damit begonnen. Kurz nach Mittag drängten sich die Menschen dicht an dicht auf der Rampe, die von Osten auf die Brücke führte.

In diesem Moment passierte auf der Brücke etwas, das den Pilgerstrom ins Stocken geraten ließ. Die ersten Berichte waren verwirrend. Ein Verantwortlicher behauptete, einige Pilger seien über herumliegende Taschen gestolpert und hätten dadurch den Flaschenhals verursacht. Andere behaupteten, Sicherheitskräfte hätten den Zugang blockiert. Was immer der Grund gewesen sein mag, die Stockung wurde zu einem ernsten Problem, da die riesige Menschenmenge weiter vorandrängte.

„Ich habe gesehen, wie sich die Menschen weitergedrängt haben, und plötzlich habe ich Schreie gehört. Ich habe mich umgedreht und gesehen, wie die Menschen übereinander gefallen sind“, berichtete ein Augenzeuge einem Reporter der BBC. Menschen schoben, Ellenbogen flogen. Wenige Minuten später rasten Krankenwagen und Polizeiautos zum Schauplatz.

Tödliche Straße

Die Menge stand erdrückend dicht, die Ärzte drangen nur mühsam zum Unglücksort vor. Als sie schließlich ankamen, lagen die Opfer in sieben Schichten übereinander. 363 Menschen waren tot, darunter einige Sicherheitskräfte. Hunderte waren verletzt. „Wir haben versucht, einen Ring um die Frauen zu bilden und sie zu beschützen“, berichtete ein ägyptischer Pilger vom Krankenhausbett einem Fernsehreporter. „Aber es war sinnlos. Sie waren alle tot.“

Aus Ägypten, Pakistan, Bangladesch, Jemen, Sudan, Afghanistan und einigen anderen Ländern kamen die trauernden Familien in die Leichenhalle von Mina, um ihre toten Verwandten abzuholen. Die saudischen Sicherheitskräfte hatten ihr Möglichstes getan, um eine Katastrophe wie diese zu verhindern – umsonst. „Es war wie eine Straße des Todes“, sagte ein Pilger gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Was war schiefgegangen?

Um diese Frage zu beantworten, beauftragten die saudischen Behörden ein Team aus Europa damit, die Aufzeichnungen der Sicherheitskameras auszuwerten. Zufällig hatte eine Kamera auf einer 35 Meter hohen Stange direkt über der Rampe die Katastrophe gefilmt.

Einer der Wissenschaftler war Dirk Helbing von der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, ein früherer Physiker, der das Verhalten von Verkehrsströmen und Menschenmengen erforschte.

Staubildung

 Anders als andere Wissenschaftler, die den Unfall aus psychologischer, soziologischer oder technischer Sicht analysierten, hatte Helbing die Parallelen zwischen den Bewegungen von Menschenmassen und dem Verhalten von Teilchen oder Flüssigkeiten untersucht. In seinen früheren Arbeiten hatte er mithilfe von Formeln aus der Molekulardynamik, der kinetischen Gastheorie, der Flüssigkeitsdynamik oder dem Verhalten von granularer Materie Computersimulationen entwickelt, die zeigten, dass Fußgänger spontan Kolonnen bilden, um auf überfüllten Gehsteigen aneinander vorbeizugehen, oder warum sich auf freien Autobahnen ohne erkennbaren Grund Staus bilden.

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